Eine archivierte Tragödie

05.10.2010   Lesezeit: 6 min

In einer fensterlosen Halle in langen Reihen nur durch periodisch aufgestellten Sichtschutz von einander getrennt, sitzen junge Frauen und Männer mit Mundschutz und dünnen durchsichtigen Handschuhen. Vor ihnen liegen vergilbte staubige Aktenkladden mit Eselsohren und einem schwer entzifferbarem Inhalt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter behandeln das Material mit größter Vorsicht. Die hier Beschäftigten verrichten in dieser „Fabrik zur Wiedererlangung des Gedächtnisses“ eine hingebungsvolle Arbeit. Der große emotionale Einsatz ist erklärbar. Denn diese nüchternen verstaubten Akten bergen unschätzbare Informationen über ein grausames Kapitel neuerer guatemaltekischer Geschichte. Nicht zuletzt auch Informationen über das Schicksal von Angehörigen vieler, die hier arbeiten.

Eine Gedächtnisfabrik

Es ist das historische Archiv der Nationalpolizei Guatemalas. 2005 fast zufällig entdeckt, umfasst es 80 Millionen Akten aus über 100 Jahren. Besonders wichtig: auch die Zeit des Bürgerkriegs gehört dazu, der von 1960 bis 1996 dauerte. 200.000 Menschen wurden zum allergrößten Teil von Militär, Polizei und Todesschwadronen ermordet, 45.000 Menschen verschwanden. Nun befindet sich das Archiv in den Händen der Opfer und ihrer Familien. Es steht ihnen und der Justiz offen. Das ist in Lateinamerika mit seiner Geschichte brutaler Militärdiktaturen einmalig. Für Alberto Fuentes, den Sprecher des Archivs, besteht die Hoffnung, dass „die Verbrechen aus den Bürgerkriegsjahren mit Hilfe des Archivs juristisch aufgearbeitet werden können und damit das bis heute herrschende System der Straflosigkeit aufgebrochen werden kann.“

Für dieses Ziel haben die Kolleginnen und Kollegen des Archivs in rasender Geschwindigkeit 12 Millionen Akten gesäubert, gesichtet und etwa die Hälfte digitalisiert. Die Eile ist angebracht, denn niemand weiß, wie lange sich die Arbeit aufrechterhalten lässt. Guatemala hat mit 18 Morden täglich eine der höchsten Kriminalitätsraten der Region. Und die Verantwortlichen für die Verbrechen von damals sitzen zum großen Teil bis heute an den Schalthebeln der Macht. Deshalb gibt es nicht nur zwei Sicherheitskopien des digitalisierten Materials in Guatemala, sondern auch eine in der Schweiz.

Täterdaten in Opferhand

Seit März 2009 steht das Archiv dem Publikum, insbesondere Angehörigen von Opfern offen. Wenige Monate nach seiner Öffnung waren etwa 100 Angehörige dort, um in den Akten Spuren des Schicksals zu finden. Nur drei mussten unverrichteter Dinge das Archiv wieder verlassen. Auch durch Unterlagen des Ar chivs ist es gelungen 50 Verbrechen aus der Zeit des Bürgerkrieges aufzuklären. Das Archiv ermöglicht außerdem Befehlsketten nachzuweisen und damit hoffentlich irgendwann auch die verantwortlichen Schreibtischtäter zur Rechenschaft zu ziehen.

Wie in den Nachkriegsjahren in Deutschland ist auch in Guatemala die Haltung verbreitet, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die reichen Familien, die das Land schon immer beherrschten, leben in einer Parallelwelt und tun so, als ob es staatliche Gewalt und genozidale Verfolgung der indigenen Bevölkerung nicht gegeben habe. Andere haben nach dem Ende des Bürgerkrieges versucht, ihr Leben neu zu ordnen und nicht zurück zu schauen. Es war eine Zeit der Verharrung, des Stillstands. Die Opfer der Verfolgung führten einen einsamen Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung, organisiert in psychosozialen Projekten, wie sie auch medico international vielfach in Guatemala gefördert hat.

Doch Jahre lang tat sich in Politik, Justiz und Gesellschaft so gut wie nichts, um Überlebende und Angehörige finanziell zu entschädigen oder Täter juristisch zu belangen. Im Gegenteil, wer sich vorwagte, die Verbrechen benannte und eine Verfolgung der Taten verlangte, musste mit dem Schlimmsten rechnen. Bischof Juan Gerardi wurde so 1998, wenige Tage nach der Veröffentlichung des ersten umfassenden Berichts über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Guatemala, ermordet.

Dokumentarfilm La Isla als Kristallisationspunkt

Nun aber gibt es eine junge Generation, die sich für die Ursachen der Gewalt in ihrem Land interessiert. Dies zeigt sich auch an der Aufsehen erregenden Wirkung des Dokumentarfilms „La Isla“. Der Film des deutschen Dokumentarfilmers Ulrich Stelzner erzählt die Geschichte des Polizeiarchivs. Er begleitet Angehörige bei der Suche nach Spuren ihrer Familienmitglieder und lässt auch die Mitarbeiter des Archivs, die selbst Angehörige verloren haben, zu Wort kommen.

Im Frühjahr 2010 wurde der Film im Nationaltheater von Guatemala-Stadt aufgeführt. An drei Tagen saßen jeweils 2.000 Menschen, darunter viele junge Leute, im Publikum. Stundenlange Diskussionen hinterher beschäftigten sich unter anderem mit der Frage, ob die fehlende Aufarbeitung dieser guatemaltekischen Geschichte auch die Gewaltexzesse im Land heute erklärt. Für den Direktor des Polizeiarchivs liegt das auf der Hand. „Aus dem Staat des Terrors ist ein Staat der Straflosigkeit geworden.“ Nun reist der Film durch Guatemala und löst überall ähnliche Diskussionen aus.

medico-Förderung

Gezeigt wird der Film auch im Rahmen des von medico geförderten Jugendausbildungsprojekts in bäuerlichen Gemeinden im Norden Guatemalas. Im Rahmen des Programmes, das politische Bildung genauso umfasst wie Angebote zur Berufsaus- und Weiterbildung der Jugendlichen, haben sich in den Gemeinden zum Teil 500 Personen den Film angeschaut. Darunter waren Gemeinden, die im Bürgerkrieg auf unterschiedlichen Seiten kämpften. Die Wahrheit dringt so langsam ans Licht. Und eine junge Generation, die nicht direkt in die Ereignisse verwickelt war, ist vielleicht imstande, Lehren aus der Geschichte staatlich organisierter politischer und rassischer Verfolgung zu ziehen.

Denn die politische Situation in Guatemala gleicht einem Pulverfass. Immer wieder versucht die herrschende Elite skrupellos, Führungspositionen mit Männern zu besetzen, die entweder offenkundig in schwerste Verbrechen der Bürgerkriegszeit oder in mafiöse Strukturen des Drogenhandels verstrickt sind. Die Übergänge zwischen beiden Gewaltstrukturen sind ohnehin fließend. Einer der letzten Skandale im Jahr 2010 war die Ernennung von Conrado Reyes zum Generalstaatsanwalt. Reyes habe in der Vergangenheit „mehr Loyalität gegenüber illegalen Organisationen als gegenüber dem Rechtsstaat gezeigt“, erklärte der spanische Jurist Carlos Castresana, bis dato Vorsitzender der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala. Empört über die Nominierung von Reyes und den fehlenden Willen der guatemaltekischen Politik, Rechtsnormen einzuführen und einzuhalten, legte der Spanier den Führungsposten dieser seit 2007 existierenden Institution nieder.

Es ist ein erbitterter Kampf um die Etablierung von Rechtsstaatlichkeit in Guatemala. Die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen des Polizeiarchivs kann dabei wenigstens eines leisten: verhindern, dass sich aus der Zeit des Terrors belastete Personen in der Sicherheit wiegen, nie für ihre Taten belangt zu werden.

Projektstichwort:

Seit fast 30 Jahren unterstützt medico international guatemaltekische Initiativen. Seit dem Ende des Bürgerkrieges fördert medico vielfältige Projekte im psychosozialen Bereich, darunter die psychologische Begleitung von Angehörigen der Massakeropfer. medico beteiligte sich an der Finanzierung der Aufführung des Filmes „La Isla“ in Guatemala. Und plant gemeinsam mit anderen, ein Menschenrechtsfilmfestival in Guatemala zu etablieren, das auch andere lateinamerikanische Aufarbeitungsprozesse reflektieren soll. Neben vielen Projekten im Bereich der Jugend- und Gesundheitsarbeit unterstützt medico die Supervision der Mitarbeiter im Polizeiarchiv, die bei der Sichtung der Akten immer wieder mit der erschütternden Geschichte ihrer eigenen Familie konfrontiert sind. Das Projektstichwort lautet: Guatemala.


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