Türkei

Eine freie Welt ist möglich

19.12.2024   Lesezeit: 3 min  
#menschenrechte 

Nazmi Gür, Anwalt, Politiker und Menschenrechtsverteidiger schreibt uns aus einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis.

Für den Text „Unendliche Geschichte“ über die langjährigen medico-Verbindungen in Kurdistan haben wir alte Weggefährt:innen kontaktiert und nach ihren Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit medico international gefragt. Eine Rückmeldung möchten wir ausführlich dokumentieren. Nazmi Gür sendete uns über seine Anwälte diese Zeilen aus dem Hochsicherheitsgefängnis Sincan in Ankara. Dort ist er seit 2020 wegen eines Tweets inhaftiert. In den 1990er Jahren hat der Anwalt, Politiker und Menschenrechtsverteidiger viele medico-Projekte in der Türkei begleitet. Der unermüdliche und jahrzehntelange Einsatz für Menschenrechte trifft in dem autoritären türkischen Staat tausende politische Gefangene und Verfolgte.

Liebe Mitarbeiter:innen, Freiwillige und Unterstützer:innen von medico international,

als Anwalt, kurdischer Politiker und Menschenrechtsverteidiger war es für mich immer eine Ehre, über viele Jahre hinweg mit medico international zusammenzuarbeiten. Die Unterstützung durch Medico war für uns eine wesentliche Hilfe, um unsere Arbeit für die Menschenrechte fortsetzen zu können. Eure internationale Solidarität und Hilfe haben jenen, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden, stets Kraft und Mut gegeben.

Lange Zeit war ich Vorsitzender der Van-Zweigstelle der Menschenrechtsvereinigung (İHD) und später dann Generalsekretär der İHD-Zentrale. In dieser Zeit arbeitete ich eng mit medico zusammen. Die internationale Solidarität, die medico uns Menschenrechtsverteidigern entgegengebracht hat, hat bei uns unvergessliche Erinnerungen hinterlassen. Angesichts der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen war unsere Zusammenarbeit ein schönes und zugleich wirkungsvolles Beispiel internationaler Solidarität.

Ich kenne medico seit den 1990er Jahren und wir haben gemeinsam viele Projekte umgesetzt. In jenen Jahren war medicos Unterstützung von unschätzbarem Wert, sei es durch die Entsendung von Beobachterdelegationen zu den in kurdischen Gebieten verbotenen Newroz-Feiern oder durch die Unterstützung bei der internationalen Berichterstattung über die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen, die Probleme der Millionen zwangsvertriebenen Kurd:innen und die Zerstörung ganzer Dörfer. Ebenso wichtig war medicos Hilfe im Einsatz gegen den Druck, die Folter und das Verschwindenlassen von Menschenrechtsverteidiger:innen sowie gegen die Folter und Repression in den Gefängnissen. Die Beiträge der Menschenrechtsverteidiger:innen zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei und ihrer Bekanntmachung in der europäischen Öffentlichkeit sind unvergesslich. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir auch, wie medico jenen, die in Deutschland Asyl suchten, mit Interesse und Solidarität begegnet ist.

Eines der Projekte, das ich mit Medico umgesetzt habe und das mir besonders unvergesslich bleibt, ist das „Waschsalon-Projekt“ für die Erdbebenopfer nach dem Erdbeben vom 17. August 1999 in der Marmara-Region. Nach Abschluss des Projekts bedankten sich die lokalen Behörden und besonders die betroffenen Frauen. Es war ein kleines, aber sehr wirkungsvolles Projekt. Später diente dieses Projekt als Vorbild in verschiedenen Krisenzeiten; so wurden ähnliche Projekte insbesondere nach dem jüngsten Maraş-Malatya-Erdbeben durchgeführt, als die Stadtverwaltung von Istanbul durch vergleichbare Initiativen den betroffenen Gebieten Unterstützung leistete.

Am 25. September 2020 wurde ich aufgrund eines friedlichen Tweets, der sich im Rahmen der Meinungsfreiheit bewegte, festgenommen und am 2. Oktober 2020 inhaftiert. Seitdem werde ich zusammen mit einigen Freund:innen als Geisel im Hochsicherheitsgefängnis Sincan F-Typ gefangen gehalten. In dem Verfahren, das wir als „Kobane-Prozess“ bezeichnen und das voller Rechtswidrigkeiten ist, wurden mir und meinen Freund:innen, die sich für Demokratie, Grundrechte und Freiheiten einsetzen, hohe Strafen auferlegt; am 15. Mai 2024 endete dieses Verfahren. Trotz der verbindlichen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ weiterhin festgehalten. Die Türkei weigert sich, die Urteile des EGMR umzusetzen, und der Europarat könnte aus diesem Grund ein Ausschlussverfahren einleiten. Doch bislang hat der Europarat keine „abschreckenden“ Sanktionen verhängt und toleriert die Verzögerungstaktiken der türkischen Regierung.

Eine freie Welt ist möglich, und wir kämpfen dafür. Ich sende meine herzlichsten Grüße an alle Mitarbeiter:innen von medico international.

Nazmi Gür

Sincan F2 Hochsicherheitsgefängnis B 2.5, 60 / Sincan / Ankara


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