medico ist seit langem eng mit Menschen und Partnerorganisationen in den kurdischen Gebieten des Irak, der Türkei und Syrien verbunden. Diese Beziehungen gehen auf zahlreiche gemeinsame Erfahrungen in der konkreten Hilfe zurück. Dort, wo Not und gewaltsame Verhältnisse es nötig machen, unterstützt medico bis heute. Als deutsche Hilfsorganisation ging es immer um mehr, als nur den Kampf um Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit zu unterstützen. Die Anklage gegen Verantwortliche hierzulande war immer Teil der medico-Arbeit. Ebenso die öffentliche Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Schwierigkeiten.
KURDISTAN-IRAK SEIT DEN 1980ern
Das medico-Engagement in Kurdistan begann Mitte der 1980er-Jahre mit der Unterstützung kurdischer Flüchtlinge, die vor den Schergen Saddam Husseins aus dem Irak in den Iran flohen. Als erste deutsche Hilfsorganisation klagte medico damals die genozidale Verfolgung der irakischen Kurd:innen durch das Baath-Regime öffentlich an. Von der Anfal-Operation, einer Auslöschungskampagne, die unzählige verbrannte Dörfer hinterließ und Tausende auf Hungermärsche in Todeslager in der Wüste zwang, wusste damals in Deutschland fast niemand etwas – und viele wollten auch nichts wissen. Am 16. März 1988 warf das Regime dann Giftgas über der kurdischen Stadt Halabdscha ab. über 5.000 Menschen erstickten qualvoll. Noch heute leiden die Kinder und Enkel der Überlebenden unter den Folgen wie Missbildungen, Hautkrebs oder Leukämie. In der öffentlichen Debatte über Halabdscha machte medico immer wieder darauf aufmerksam, dass das Gas für den Massenmord aus Deutschland kam – drei Jahrzehnte nach Auschwitz exportierten deutsche Firmen die Technologie zur Produktion von Giftgas. An einem Großteil der irakischen Giftgasanlagen waren auch deutsche Firmen direkt beteiligt. Später sollte bekannt werden, dass Deutsche, darunter zahlreiche Mitarbeiter des BND, in den Anlagen an der Weiterentwicklung der SCUD-Raketen und am irakischen Atomprogramm arbeiteten. medico forderte politische und juristische Konsequenzen, vergeblich. Bis heute ist nicht aufgeklärt, was die Bundesregierung davon wusste.
Im August 1988 begann medico, auch die in die Türkei geflohenen irakischen Kurd:innen zu unterstützen. Zwar mussten einige logistische Hürden überwunden werden, aber schließlich gelang es, Hilfsgüter in die selbstorganisierten kurdischen Flüchtlingslager zu liefern. 1991 erhoben sich dann im Zuge des Ersten Golfkriegs die Kurd:innen des Nordirak gegen Saddam Hussein. Das Regime schlug brutal zurück , weitere zwei Millionen Menschen flohen in den Iran und die Türkei. Die Fernsehbilder gingen um die Welt. Wieder leistete medico unmittelbar Nothilfe, diesmal im nördlichen Teil des Irak, an der Grenze zur Türkei. Nach Etablierung der Flugverbotszone und dem Rückzug der irakischen Truppen entstand dort die Autonome Region Kurdistan – eine „Republik der Staatenlosen“: ohne Pass, ohne Luftwaffe, aber mit sich ihr zugehörig fühlenden Menschen und dem unbändigen Willen der Flüchtlinge, zurückzukehren und das Land wieder aufzubauen. Im Sommer 1991 begann medico auch mit Fördermitteln der Bundesregierung Projekte zur Nothilfe und medizinischen Versorgung der Rückkehrer:innen. Wir halfen, zerstörte kurdische Dörfer an der iranisch-irakischen Grenze wiederaufzubauen, und unterstützten die Überlebenden der Anfal-Operation in ihrem Kampf um Anerkennung und der Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen.
„Ich stieß im Dezember 1991 zum medico-Team nach Rania, einer Kleinstadt am Rande der Pishder-Region an der iranisch-irakischen Grenze. Damals gab es in Kurdistan-Irak kaum lokale Strukturen und entgegen der sonstigen medico-Praxis wurden auch deutsche Mitarbeiter:innen zur Umsetzung der Nothilfemaßnahmen entsandt. Im Gepäck hatte ich keineswegs eine klare Solidarität, sondern vor allem ein großes Fragezeichen. Denn in Deutschland hatte ich gegen die US-Intervention im Irak demonstriert. Die irakischen Kurden aber warfen der Antikriegsbewegung vor, die Verbrechen des Baath-Regimes zu ignorieren. Für sie war die US-Intervention eine Chance zur Befreiung.“
Karin Mlodoch begleitete für medico in Kurdistan-Irak Programme zum Wiederaufbau. 1996 gründete sie den deutsch-kurdischen Verein Haukari und das Frauenrechtszentrum Khanzad in Sulaimania.
SÜDOSTTÜRKEI SEIT DEN 1990ern
Zu Beginn der 1990er-Jahre wurden Kurd:innen auch in der Türkei massiv angegriffen. Die Newroz-Feiern 1992 in Nusaybin endeten in einem Blutbad, als Panzer in die Menge fuhren und Soldaten das Feuer eröffneten. Todesschwadronen entführten kurdische Rechtsanwält:innen und Menschenrechtler:innen, sie folterten und warfen ihre Opfer auf Müllkippen ab. Wieder wurden kurdische Dörfer zerstört – diesmal jedoch nicht von Saddam Hussein, sondern durch die Regierung eines NATO-Mitgliedsstaates. Und wieder war deutsche Technologie am Werk, diesmal Waffen und Panzer.
Auch in Deutschland gab es Mitte der 1990er-Jahre Proteste gegen die Verfolgung und Kriminalisierung von Kurd:innen. Als in Frankfurt ein kurdischer Verein verboten und dessen Büroräume geschlossen wurden, kam jener bei medico in der Obermainanlage unter. medico war damals Teil eines zivilen Schutzschirms, der Delegationen in die kurdischen Dörfer entsandte. Hunderte Menschen – Studierende, Aktive aus Solidaritätsgruppen, auch Politiker:innen – fuhren aus Deutschland und Europa zu den verbotenen Newroz-Feiern in der Türkei, um sie zu unterstützen und zu schützen. Ein Netzwerk der Solidarität und auch ein Akt gegen das amtliche Schweigen in Deutschland zur Verfolgung der Kurd:innen in der Türkei.
In den dortigen Städten entfaltete sich in den folgenden Jahren trotz aller Repressionen das kurdische Leben. Kulturzentren wurden gegründet, politische Ämter erobert. Es gelang, einen Friedensprozess einzuleiten. So waren diese Jahre, bei aller Ungewissheit, auch hoffnungsvolle Zeiten. Zum Jahreswechsel 2015/ 2016 aber änderte sich das abrupt. Nach dem Scheitern des Friedensprozesses erhob sich die kurdische Jugend und es kam zu Straßenschlachten, Stadtteile wurden mehrere Wochen vom türkischen Militär belagert und weitestgehend zerstört. Hunderte Menschen wurden getötet – eine dramatische, monatelange Eskalation. medico bemühte sich in den darauffolgenden Jahren mit der Kampagne „Häuser der Hoffnung“, für Vertriebene aus den Städten neue Zufluchtsorte zu schaffen.
„In den 1990er-Jahren half medico bei der Entsendung von Beobachterdelegationen in die kurdischen Gebiete, leistete Öffentlichkeitsarbeit gegen Folter sowie das Verschwindenlassen von Menschenrechtsverteidiger:innen und thematisierte die Zwangsvertreibung von Millionen Kurd:innen. Das war von unschätzbarem Wert. Nach dem Erdbeben in der Marmara-Region im August 1999 organisierten wir gemeinsam mit medico das ‚Waschsalon-Projekt‘: Durch dieses konnten wir an Betroffene nicht nur Decken und Nahrung verteilen, sondern auch Waschmaschinen – ein Vorbild für weitere Hilfsmaßnahmen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir auch, wie medico jenen, die in Deutschland Asyl suchten, mit Offenheit und Solidarität begegnet ist. Unsere Zusammenarbeit war ein schönes und zugleich wirkungsvolles Beispiel internationaler Solidarität.“
Nazmi Gür ist Politiker und Menschenrechtsverteidiger. Diese Zeilen sendete er aus dem Hochsicherheitsgefängnis Sincan in Ankara, wo er seit 2020 wegen eines Tweets inhaftiert ist.
NORDOSTSYRIEN/ROJAVA SEIT 2011
Dass die kurdische Frage immer auch eine Frage der Demokratie ist, zeigte sich auch in Syrien. Mit der syrischen Revolution des Jahres 2011 zerbrach die Hegemonie einer „Republik der Angst“. Inmitten des brutalen Krieges, den das Assad-Regime daraufhin gegen die eigene Bevölkerung entfesselte, öffnete sich den syrischen Kurd:innen im Norden des Landes die Möglichkeit der lang ersehnten Autonomie. „Nie wieder zurück in die staatlichen Strukturen, die vor allem Kurd:innen unterdrückt haben. Ziel ist der Aufbau demokratischer Strukturen – in Abgrenzung vom Assad-Regime, von der Freien Syrischen Armee, dschihadistischen und islamistischen Gruppen, die zerstörerisch und feindselig sind.“ So beschreibt der Politiker Devris Çimen die Stimmung während der syrischen Revolution 2011, der über das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad mit medico in Kontakt stand. Dieses Aufbegehren jener, die jahrzehntelang als größte ethnische Minderheit des Landes diskriminiert waren, wurde anfangs vor allem durch den sogenannten Islamischen Staat bedroht. Doch der kurdischen Selbstverteidigung gelang es, Nordostsyrien als eigenständigen politischen Raum zu verteidigen. Hier sollte eine kommunale Demokratie entstehen. Mit hohen Ansprüchen, an denen auch Widersprüche immer wieder zutage treten, ist das „demokratische Projekt“ mit seiner multiethnischen Selbstverwaltung in Rojava zum Vorbild eines künftigen föderalen und freien Gemeinwesens aller Syrer:innen geworden. medico leistet auch hier von Beginn an Beistand: Insbesondere beim Aufbau des Gesundheitssystems und der Versorgung der Flüchtlinge, die hier Zuflucht vor den türkischen Invasionen, Drohnenangriffen und wiederkehrenden Bombardierungen suchen. Auf die massive Zerstörung der zivilen Infrastruktur gibt es mit der Kampagne „Solardarity “ eine ganz praktische Antwort: Dort, wo jetzt Energie fehlt, werden Solaranlagen aufgestellt.
UND HEUTE?
Um die kurdische Frage ist es recht still geworden. Kaum noch einer Schlagzeile wert ist der mal laute, mal leisere, aber fortwährende Krieg der Türkei gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava. Ende Oktober griff das türkische Militär mit Drohnen, Artilleriebeschuss und Kampfjets den Nordosten Syriens flächendeckend an. Der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens wird immer wieder zurückgeworfen. Aber die EU und Deutschland lassen den NATO-Partner gewähren – und damit die einst für ihren Widerstand gegen den IS gefeierten Kurd:innen im Stich. In der Südosttürkei werden in den kurdischen Städten erneut demokratisch gewählte Bürgermeister abgesetzt, die Zivilgesellschaft musste Hilfe und Solidaritätsaktionen nach dem Jahrhunderterdbeben im Februar 2023 gegen staatliche Repression verteidigen. Die Autonomiebehörde im Nordirak vollzieht die Annäherung an die Türkei, anstatt nach politischen Lösungen mit dem syrisch-kurdischen Nachbarn zu suchen. Zudem schlagen die Klimaveränderungen schon jetzt heftig zu, die Region droht immer mehr auszutrocknen. Doch trotz aller Rückschläge und Widrigkeiten: Es gibt sie noch, die kurdischen Kämpfe um Selbstbehauptung und -bestimmung. Insofern: Es geht weiter, auch für und bei medico.
Die Folgen der neuerlichen Angriffe der türkischen Armee auf Rojava gehen vor allem zulasten der Bewohner:innen und Flüchtlinge in der ohnehin stark gebeutelten Region. Auch die Arbeit unserer Partner:innen machen sie immer schwieriger. Die Aufmerksamkeit für die Region schwindet. Dabei ist Solidarität gerade jetzt so wichtig. Jetzt beim Helfen helfen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!