Mit Drohnen, Artilleriebeschuss und Kampfjets greift das türkische Militär seit letztem Mittwoch, flächendeckend den Nordosten Syriens an. Die Angriffe finden als Vergeltung für einen Anschlag auf den türkischen Rüstungskonzern TUSAŞ am 23. Oktober in der Nähe von Ankara statt, zu dem sich die kurdische Arbeiterpartei PKK bekannt hat. Die Türkei macht die Selbstverwaltung und die Verteidigungskräfte in Nordostsyrien für diesen Anschlag mitverantwortlich. Aus Nordsyrien werden die Anschuldigungen von sich gewiesen.
Die neuerlichen Angriffe gehen insbesondere zu Lasten der Bewohner:innen und Flüchtlinge in der ohnehin stark gebeutelten Region, denn betroffen sind einmal mehr die zivile Infrastruktur, Orte der Sicherheitsbehörden und Wohngebiete in den Regionen Cizîrê, Kobanê, Minbic, Til Temir und Ain Issa. Raketen und Bomben trafen vor allem Standorte des Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektors – Elektrizitätswerke, Ölfelder, Gasstationen, Bäckereien, eine Molkerei und ein Lager für Weizen. Laut Angaben lokaler Beobachter wurden über 160 Ziele getroffen. Etwa 150.000 Familien in Qamişlo, Kobanê, Amûdê und Dirbesiyê sind von Stromausfällen betroffen, zusätzlich gibt es Ausfälle bei der Wasserversorgung und eine Verknappung von Brennstoff zum Heizen, so die Bilanz eines medico-Partners. Schon jetzt sind mindestens 17 Tote und zahlreiche Verletzte, darunter Kinder, zu verzeichnen. Zudem gab es Einschläge in der Nähe von Gefängnissen, in denen IS-Kämpfer festgehalten werden. Unter anderem in Derik versuchten die Inhaftierten die unübersichtliche Lage für einen Ausbruch zu nutzen. Glücklicherweise ohne Erfolg.
Die medico-Partner:innen, mit denen wir in engem Austausch stehen, sind sehr besorgt. Die meisten Projekte mussten vorerst ihre Arbeit einstellen. Mitarbeiterinnen der von medico unterstützten Gesundheitsorganisation Kurdischer Roter Halbmond bleiben zu Hause, das von medico unterstützte Frauenhaus wurde evakuiert. Nur da wo Nothilfe benötigt wird, geht der Einsatz weiter.
Kritisch steht es auch um die Versorgung von über 20.000 Flüchtlingen aus dem Libanon, die aktuell vor den israelischen Bomben aus dem Libanon zurück nach Syrien geflohen sind. Die hauptsächlich syrischen Familien hatten vor vielen Jahren im Libanon Schutz vor Krieg und Verfolgung durch das Assad-Regime gesucht. Nun werden sie durch den Roten Halbmond in Auffanglagern medizinisch und psychologisch betreut. Grenzüberschreitende Solidarität ist hier schon immer eine selbstverständliche Praxis gewesen, die Umstände dafür nie einfach. Die türkischen Angriffe verschlechtern die ohnehin prekäre Versorgungslage weiter. Diejenigen, die Schutz vor den Bomben im Libanon suchen, müssen erneut den Krieg fürchten.
Inzwischen wird auf die türkischen Angriffe mit einer traurigen Routine reagiert; eine Eskalation mehr im türkischen Dauerkrieg gegen die Kurd:innen und die Selbstverwaltung in Nordostsyrien. Die letzte große Angriffswelle fand zu Beginn des Jahres statt. Im Oktober 2023 wurde die Region zwei Wochen lang beschossen, auch damals als Reaktion auf einen Anschlag der PKK in Ankara. Doch auch damals hatten die Angriffe vor allem die Infrastruktur in der Region zum Ziel und sollten die Bevölkerung zermürben. Seit Monaten finden permanent Drohnenangriffe statt, die einzelne Personen aus dem Sicherheitsapparat oder der zivilen Selbstverwaltung gezielt töten – eine drastische Bedrohung und psychische Belastung.
Bisher sind internationale Reaktionen weitestgehend ausgeblieben, Berichterstattung findet nur in Verbindung mit dem Anschlag in Ankara statt. Im Schatten der Kriege in Gaza und im Libanon kann die Türkei ihre völkerrechtswidrige Politik und Militärstrategie ungehindert fortsetzen. Protest bleibt aus. Im Gegenteil, die Bundesregierung schloss erst kürzlich einen Hunderte Millionen Euro schweren Rüstungsdeal mit der Türkei und verabredete massive Abschiebungen. Scholz und Erdogan besiegelten die Deals mit freundschaftlichem Handschlag. Die Verletzungen des Völkerrechts oder Demokratiedefizite in der Türkei wurden nicht angesprochen. Ein Armutszeugnis für die „wertegeleitete Außenpolitik“, der sich die Bundesregierung einmal verpflichtet hatte.
Bald jährt sich der Sieg über den sogenannten Islamischen Staat in der nordsyrischen kurdischen Stadt Kobanê zum zehnten Mal. Unter großen Opfern wurde der Sieg errungen und die Stadt unter Kontrolle der Selbstverwaltung gestellt. Damals einen Meilenstein für das demokratische Projekt Rojava. Heute treffen die türkischen Bomben treffen jene, die die Terrormiliz in der Region besiegt haben und damit nicht nur Syrien, Irak und die Türkei selbst, sondern die ganze Welt zu einem sichereren Ort gemacht haben. Daran sollte sich bei Zeiten erinnert werden, wenn es darum geht, Demokratie und Frieden in der Region zu erhalten.