Chile

Eine vage Hoffnung

23.10.2019   Lesezeit: 6 min

Der Philosoph Carlos Pérez Soto über die Hintergründe der anhaltenden Proteste in Chile.

Santiago de Chile, 22. Oktober 2019

Hinter uns liegen vier Tage: Ein spontaner Protest bislang ohne politische Führung und Perspektive. Plünderungen in Supermärkten, Zerstörung der Mautstellen auf Autobahnen und gleichzeitig friedliche, aber empörte Proteste der großen Mehrheit auf zahlreich besuchten örtlichen Demonstrationen, auf den zentralen Plätzen Dutzender Gemeinden im ganzen Land. Ein beeindruckender Ausbruch kollektiver Wut, die ein Fest zelebriert, das die vielen Exzesse mit der vagen Hoffnung ablehnt, dass sich alles ändern kann. Denn gefordert wird einfach, dass sich alles ändert. Weil es keinen Lebensbereich gibt, der nicht seit fünfundvierzig Jahren, durch neoliberale Raffgier geplündert worden wäre.

Heute legt die Intensität der sichtbaren Gewalt, ausgeübt von Armen und Angehörigen der Mittelschichten, die unmenschliche Grausamkeit der unsichtbaren, brutalen, alltäglichen Gewalt all dieser Jahre bloß. Eine Gewalt gegen Menschen, die in den unendlichen Warteschlangen der medizinischen Einrichtungen sterben. Eine Gewalt gegen frisch ausgebildete, hochverschuldete arbeitslose Fachkräfte, die abzahlen was ein Recht sein müsste. Eine Gewalt der Erniedrigung in einem zur Absicherung der privatunternehmerischen Profite irrational überfüllten öffentlichen Nahverkehr. Eine Gewalt in Supermärkten voller Waren, die man nur dann kaufen kann, wenn man sich mit Kreditkarten verschuldet, die unsäglich hohe Zinsen fordern. Eine allgegenwärtige Gewalt jener, die in schamloser Weise ihren Luxus zur Schau stellen, die Migrant_innen rücksichtslos ausbeuten, die sich stolz lächelnd ihrer politischen Ämter brüsten und dabei ein Gehalt beziehen, das das Dreißigfache des Mindestlohns oder das Zwanzigfache dessen beträgt, was über achtzig Prozent der Arbeitenden in diesem Land bekommen.

Zu viel Missbrauch, zu ungeheuerlich die Ungleichheit. Das private Gesundheitssystem, an dem  nur 18 Prozent der Chilen_innen teilhaben, gibt jedes Jahr mehr als doppelt so viel aus wie das öffentliche und wird dennoch vom Staat vorzugsweise subventioniert. Über 70 Prozent der Rentner_innen im privaten Rentensystem, in das alle Chilen_innen zwangsweise einzahlen, bekommen monatlich weniger als 150 US-Dollar ausgezahlt. Die Gesamtverschuldung der Kredite, die von Studierenden zur Zahlung ihrer Studiengebühren aufgenommen werden müssen, beträgt 7,6 Milliarden US-Dollar – bei einer Ausfallsrate von 40 Prozent. Andererseits überweist der Staat den diese Kredite verwaltenden Banken Hunderte Millionen US-Dollar, kauft ihnen die Schuldscheine ab, um ihre Profite zu sichern. Die Konzessionsverträge, durch die Trinkwasser- und Stromversorgung, Personenverkehr, Müllabfuhr und Stadtreinigung oder Autobahnen an Privatunternehmen vergeben werden, enthalten Klauseln, die garantierte Gewinnmargen zusichern, an die sich der Staat selbst dann zu halten hat, wenn die betreffenden Bilanzen gefälscht werden, da die erklärten Gewinne keinerlei Kontrolle unterliegen. Die transnationalen Konzerne zahlen praktisch keine Steuern für das Kupfer, Lithium oder Fischmehl, das sie außer Landes schaffen. Banken und private Verwalter von Rentenfonds können mit großzügigen Steuerbefreiungen rechnen sowie mit der staatlich garantierten Zusicherung, im Fall einer Wirtschaftskrise ihre Verluste zu decken.

All dies hat eine Wirtschaft zur Folge, in der 70 Prozent der arbeitenden Menschen weniger als 800 US-Dollar im Monat verdienen und die Kosten des Grundgüterkorbs in der Größenordnung eben dieser 800 US-Dollar liegen, das heißt: eine Wirtschaft, in der 70 Prozent der Familien an der Armutsgrenze oder 26 Prozent (selbst offiziellen Zahlen zufolge) unter dieser Grenze leben. Eine Wirtschaft mit einem Viertel der Bevölkerung in absoluter Armut und zwei weiteren Vierteln, die hochverschuldet überleben. Diese Lage, die bereits Jahrzehnte anhält, musste irgendwann explodieren: man kann nicht unentwegt Winde säen und sich jetzt wundern, warum man Stürme erntet. Es war zu viel Missbrauch. Dafür müssen die Verantwortlichen jetzt bezahlen.

Diese Empörung kommt unter politischen Bedingungen zum Ausbruch, die fast ebenso beschämend sind wie die Wirtschaftsdaten. Die vier Vorgänger des jetzigen Armee-Oberkommandierenden stehen wegen schamloser Veruntreuung der von ihnen verwalteten Mittel vor Gericht. Dutzenden hohen Polizeioffizieren wird wegen ähnlicher Betrugsfälle der Prozess gemacht. Die Parteien haben die Vorstandsposten der autonom verwalteten Staatsunternehmen untereinander aufgeteilt und diese Vorstände legen ihre Gehälter, die die Besoldung des Präsidenten der Republik übersteigen, fest ohne dabei irgendeiner Kontrolle zu unterliegen. Abgeordnete, Minister_innen, Gouverneur_innen und Bürgermeister_innen legen sich straflos Gehälter zurecht, die den Mindestlohn um ein Zigfaches übersteigen.

Chile ist international für einen falschen Mythos bekannt. Nämlich den, wir hätten die grausame Pinochet-Diktatur überwunden, um uns friedlich dem Wirtschaftswachstum zu widmen. Jetzt zeigt sich, dass uns klar ist: man schuldet uns nicht die dreißig Peso der Fahrpreiserhöhung, sondern man ist uns dreißig Jahre Leben schuldig. Auf Schildern und Transparenten steht es in ganz Chile: „Es geht nicht um 30 Peso, Es geht um 30 Jahre“. Und wenn wir nachrechnen, um welche  dreißig Jahre es sich handelt, dann sehen wir es mit noch größerer Klarheit: es geht um die letzten dreißig Jahre gewalttätiger, verlogener, räuberischer Demokratie. Das sind die dreißig Jahre unter den Lagos, den Freis, den Bachelets, den Piñeras, die im Bewusstsein aller offensichtlich dasselbe geworden sind. Das sind die dreißig Jahre unter dem angeblichen Regenbogen, dem vorgeblichen Wachstum, dem vorgeblichen Frieden. Diese Jahre vertreten, verwalten, verkörpern Gewalt. Die militarisierte Gewalt gegen das Volk der Mapuche, die Alltagsgewalt, die Erniedrigungen und die Engstirnigkeit, denen die verarmten Mittelschichten ausgesetzt sind, die brutale Gewalt von Ausbeutung und Missbrauch gegen die armen Migrant_innen und armen Chilen_innen, die bis heute an die 1989 geweckten Hoffnungen geglaubt hatten, welche Schritt für Schritt, Tag für Tag, in dreißig Jahren Diktatur des Kapitals enttäuscht wurden.

Es geht um vier Tage Protest. Anders als es die Medien behaupten, gibt es immer weniger Plünderungen und immer mehr Menschen auf den Straßen. Klar ist ersichtlich, dass die Chilen_innen keinerlei Angst vor dem Ausnahmezustand haben, keine Furcht vor dem Gespenst Pinochets, das von denselben beschworen wird, die ihn damals unterstützten. Energisch und besonnen wagen es die Menschen, die Ausgangssperre zu missachten. Der Ausnahmezustand, zunächst nur für Santiago erlassen, wird täglich auf mehr und mehr Städte ausgedehnt und es stehen schlicht und einfach nicht genügend Soldaten und Polizisten zur Verfügung, um sie alle zu überwachen.

Es ist schwer vorherzusagen, was geschehen wird, vor allem weil die Empörung groß ist und diese Empörung bisher von niemandem angeführt wird. Es entsteht der Eindruck, dass jemand geopfert werden muss, um die Lage zu entschärfen. Die bloße Zurücknahme der unpopulären Maßnahme, von der sie glauben, sie sei der Ursprung des Problems, hat absolut nichts gebracht; der Protest hält an und wächst. Vielleicht wird der Innenminister zum Rücktritt gezwungen, oder auch einige weitere Minister. Vielleicht bieten sich dieselben, die Chile bereits dreißig Jahre lang verraten haben, einmal mehr zur Unterzeichnung einer Vereinbarung an, um „den sozialen Frieden zu retten“. Heute ist es schwer zu wissen, was geschehen wird. Die Empörung ist auf der Straße, das Bewusstsein, dreißig Jahre Lügen und Missbrauch erlebt zu haben, ist auf der Straße. Die breiten Alleen tun sich auf und endlich ist ersichtlich, dass tapfere freie Frauen und Männer sie beschreiten und versuchen können, ihre eigene Geschichte zu gestalten.

Zur Person: Carlos Perez Soto ist Philosoph und Universitätsprofessor aus Chile. Er hat diesen Text eigens für medico international geschrieben. Zuletzt war er 2013 bei medico zu Gast bei einem Symposium über Chile.


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