Flüchtlingsdeal Afghanistan

Erpressungspolitik in neokolonialer Manier

30.09.2016   Lesezeit: 5 min

Die Verknüpfung von Finanzunterstützung mit der Verpflichtung zur Rücknahme von Flüchtlingen ist das neue Paradigma der EU-Entwicklungshilfe.

Am 4/5. Oktober diskutieren in Brüssel Delegationen aus 70 Ländern und von 20 internationalen Organisationen die Zukunft der internationalen Hilfe für Afghanistan. Ein gerade geleaktes Dokument belegt, dass die EU-Kommission plant, weitere finanzielle Unterstützungen für das kriegszerstörte und bitterarme Land von der Zustimmung der afghanischen Regierung zur Aufnahme von 80.000 afghanischen Geflüchteten aus Europa abhängig zu machen. Ein entsprechendes Abkommen möchte die Kommission bereits im Sommer nächsten Jahres in Kraft setzen. In parallelen Verhandlungen mit dem Iran und Pakistan soll erreicht werden, dass sich diese beiden Länder bereit erklären, noch mehr Geflüchtete aus dem Hindukusch aufzunehmen, als sie das sowieso schon getan haben: 2, 5 Millionen Afghanen leben heute im Iran, in Pakistan sind es fast drei Millionen.

Wird umgesetzt, was das interne Dokument vorschlägt, dann folgt dem schmutzigen Deal mit der Türkei ein ebenso schmutziger Deal mit Afghanistan. Schlimmer allerdings ist der dabei praktizierte politische Stil: Wurde das Abkommen mit Ankara noch im gegenseitigen Gegen-und-Nehmen abgeschlossen, greift die EU-Kommission gegen Kabul schamlos zur offenen Erpressung. Sie tut das in vollem Bewusstsein: Das Dokumentation verweist ganz gezielt auf die Tatsache, dass fast die Hälfte des afghanischen Bruttoinlandsprodukts aus der internationalen Finanzhilfe resultieren. Kabul wird also gar keine andere Wahl haben als sich der Forderung aus Brüssel zu unterwerfen oder endgültig Bankrott anzumelden.

Afghanistan sicheres Herkunftsland?

Getrieben werden die Strategen der EU-Kommission von der in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Zahl der afghanischen Geflüchteten – und den rassistischen Verwerfungen, die ihre Ankunft in den europäischen Gesellschaften auslöst. So hat die Zahl afghanischer Geflüchteter 2015 erstmals die Zahl von 200.000 überstiegen und sie in Europa zur zweitstärksten Gruppe von Asylsuchenden gemacht, gleich nach den Geflüchteten aus Syrien und noch vor denen aus dem Irak.

Um ihrer Erpressung wenigstens den Anschein von Legitimität zu verleihen, schließt sich die Kommission der zuerst vom deutschen Innenminister de Maizière verbreiteten Fiktion an, dass zumindest einige Gegenden Afghanistans für Rückkehrer sicher sein. Das ist nachweislich falsch, wenn nicht absichtsvoll gelogen. Die Sicherheitslage hat sich in den letzten zwei, drei Jahren dramatisch verschlechtert, allein 2015 waren über 11.000 zivile Opfer zu beklagen. Keine Gegend ist wirklich sicher, selbst die zum größten Binnenfluchtort gewordene Hauptstadt Kabul nicht: im Juli starben dort beim Anschlag auf eine Demonstration 80 Menschen, im August fielen einem gezielten Anschlag auf die Universität 12 Studierende und Hochschullehrer zum Opfer. Fiktiv aber ist schon die Vorstellung, man könne zur Rückkehr genötigte Asylbewerber einfach dort ansiedeln, wo im Augenblick gerade nicht gekämpft wird: ein solches Vorgehen wäre wegen der tiefen ethnischen und religiösen Spannungen und Spaltungen des Landes völlig unverantwortlich. Zudem irren heute schon über eine Million Binnenflüchtlinge durch das Land, ist Kabul von riesigen, zum Teil völlig verwahrlosten Flüchtlingslagern umschlossen.

Obwohl das EU-Dokument alle dazu relevanten Fakten auflistet, verleugnet die Kommission in geradezu schizophrener Weise, dass die ISAF-Mission, die Afghanistan Frieden, Demokratie und Marktwirtschaft bringen sollte, keines ihrer Ziele erreicht hat. So belegt der gestern unterzeichnete „Friedensvertrag“ zwischen Präsident Ashraf Ghani und dem von den UN als „globalen Terroristen“ gesuchten, weil ungeheurer Kriegsverbrechen beschuldigten Mujaheddin-Kommandanten Gulbudin Hekmatyar eindringlich, dass die Macht der Warlords ungebrochen ist: Hekmatyars Kämpfer spielen militärisch schon lange keine Rolle mehr, doch wurde dem „Schlächter von Kabul“ völlige Straffreiheit zugesichert. Während die Taliban so stark sind wie schon lange nicht mehr, sehen viele Afghanen in den regulären Sicherheitskräfte nur eine weitere Bedrohung.

Eine strategische Fiktion

Dabei ist die unkontrollierbare Gewalt aller Seiten nicht die einzige Fluchtursache. Der von der „internationalen Gemeinschaft“ versprochene politische, soziale und ökonomische Wiederaufbau ist vollkommen gescheitert. Mit dem Abzug der ISAF-Truppen gingen Zehntausende Jobs verloren. Erhoffte Auslandsinvestitionen bleiben auch wegen der alles durchdringenden Korruption aus. Auf 80% der Jugendlichen wartet nichts als die Einkommenslosigkeit. Nach Untersuchungen der Asia Foundation aus dem Jahr 2015 wollen deshalb bis zu 40% der Afghanen ihr in jeder Hinsicht zerrüttetes Land verlassen. Tatsächlich aber können nur die Wenigsten auch nur den Versuch wagen, anderswo einen sicheren Ort zu finden: aufgrund der tiefgreifenden Armut fehlen den meisten schlicht die Mittel, sich auf den Weg zu machen.

Rein fiktiv ist schließlich auch der Plan der EU-Kommission, den schmutzigen Deal mit Kabul auch auf Pakistan und den Iran auszudehnen, die Länder also, die mit Abstand die meisten afghanischen Geflüchteten aufgenommen haben. Seit dem letzten Jahr hat Pakistan mehrere Hunderttausend Afghanen zur Rückkehr genötigt, aktuelle Schätzungen gehen sogar von 5000 Zwangsrückkehrern täglich aus. Trotzdem setzen das bereits abgeschlossene Abkommen mit der Türkei und die geplante Erpressung Afghanistans das Paradigma, dem die Migrationspolitik der EU weltweit folgen soll. So sind ähnliche Abkommen u.a. mit Ägypten, Äthiopien, Libyen, dem Libanon und Niger und sogar mit Eritrea und dem Sudan geplant, Ländern, deren Regierungen ebenfalls blutiger Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen beschuldigt werden.

Die traurige Wahrheit des neuen Migrationsparadigmas hat allerdings mit dem Leiden der Geflüchteten und einer möglichen Überwindung ihres Elends gar nichts zu tun. Was die Kommission und die Regierungen der EU treibt, hat zunächst innenpolitische Gründe: die „Flüchtlingsdeals“ sollen den Regierenden Luft verschaffen gegenüber dem Andrang rechtspopulistischer Parteien – in Deutschland dem Andrang von CSU und AfD. Angesichts dieser Infamie fällt es schwer, an die Brüsseler Konferenz eine konkrete Forderung zu stellen. Angesichts dessen, was das geleakte Dokument enthüllt, bleibt allen, die am Menschenrecht festhalten wollen, nur die Forderung nach einer vollkommenen Umkehr.

medico international unterstützt seit vielen Jahren lokale Partnerinnen und Partner in Afghanistan. Darunter die Menschenrechts- und Demokratieorganisation AHRDO, die mit lokalen multiethnischen Projekten, sich um die gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen bemüht und Ansätze lokaler Selbstverwaltung fördert.


Jetzt spenden!