Europas hässliches Gesicht

Migration

05.10.2010   Lesezeit: 4 min

Ursprünglich wollten sie zumeist die Straße von Gibraltar überqueren, die Meerenge am westlichen Ausgang des Mittelmeers. Hier ist das „Weiße Meer“, wie es im Arabischen genannt wird, nur 14 bis 44 Kilometer breit und bei klarem Wetter ist von der marokkanischen Seite aus die spanische Küstenlinie gut erkennbar.

Nachdem die spanische Küstenwache die Meeresstraße blockierte, fassten die Flüchtlinge den Weg weiter östlich über die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ins Auge, jene einzigartige Hinterlassenschaft einer Epoche, in der die Bevölkerungsströme noch umgekehrt, also in Nord- Süd-Richtung, über das westliche Mittelmeer drängten. Die beiden spanischen Städte galten für viele Migranten aus dem subsaharischen Afrika, die sich aufmachten, „das Leben in Europa zu suchen“, als erster Schritt auf „die andere Seite der Welt“, die weniger Gewalt verspricht und so viel reicher ist.

Der Sturm auf die Zäune

Dann kam der Herbst 2005. In mehreren Nächten bis zum 5. Oktober versuchten über 1.000 afrikanische Flüchtlinge mit selbstgefertigten langen Leitern die sechs Meter hohen, mit rasiermesserscharfem Stacheldraht und Videokameras gesicherten Grenzzäune zu überklettern. Auf den Überwachungsvideos sieht man Szenen, die einen an Bürgerkrieg erinnern: Leuchtraketen, Schüsse, Menschen, die im Drahtverhau hängen, oder geschlagen werden.

Ein Beteiligter schilderte seine Erlebnisse später in einem Webportal: „Gegen 2.30 Uhr in der Nacht sind wir am Stacheldraht angekommen. Wir sahen vier Hubschrauber, drei spanische und ein marokkanischer. Sie begannen auf uns zu schießen und Tränengas zu werfen. Ich habe neben mir zwei Körper fallen sehen. Die marokkanische Polizei hat sich uns von hinten genähert und von vorn die Spanier, von denen sich einige auf marokkanischem Territorium befanden. Sie schossen von beiden Seiten auf uns.“ Nach dem Ansturm auf die Zäune wurden Ceuta und Melilla in quasi uneinnehmbare Festungen verwandelt. Europa exportierte seine Außengrenze an den Rand der Sahara und die Migrationsrouten verlagerten sich nach Süden.

Alles hat sich geändert

Wie blicken afrikanische Menschenrechtler und Selbsthilfegruppen ehemals Ausgewiesener heute auf diese Ereignisse? Wir fragten unsere medico-Partner in Mali und Mauretanien, die vor Ort Akuthilfe für all jene leisten, die auf dem Weg nach Europa sind oder aus Europa ausgewiesen wurden. Amadou Mbow von der Menschenrechtsvereinigung AMDH aus der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott, erinnert sich an „ein Gefühl des Schocks und des Aufruhrs“, wenn er an die Tragödie an den Zäunen zurückdenkt, die er als eine „klare Zäsur“ in der Geschichte der europäischen Flüchtlingsabwehr bezeichnet. Seitdem, so Mbow, stehe auch Mauretanien „im Zentrum der europäischen Migrationspolitik“. Das wirke sich auch auf die alltägliche Arbeit des medico- Partners aus: „Wir sehen das Haftzentrum für Flüchtlinge in Nouadhibou, die aktuellen Rücknahmeabkommen zwischen Mauretanien und Spanien sowie die zunehmende Präsenz der Guardia Civil“.

Patrik Boukar von der Selbsthilfegruppe ARACEM, die in der malischen Hauptstadt Bamako zahlreiche Abgeschobene aus zentralafrikanischen Ländern betreut, war damals selbst unterwegs. „Nachdem wir die grausamen Bilder gesehen haben, waren wir mehr denn je überzeugt, dass Europa uns etwas verwehren will.“ ARACEM gründete sich direkt als Reaktion auf Ceuta und Melilla. „Die Routen in Richtung Europa sind seither verschlossen, die Migranten werden immer wieder auf- und zurückgehalten sowie zunehmend auf sich alleingestellt an Grenzen irgendwo mitten in der Wüste ausgesetzt. Wir nehmen diejenigen in Empfang, die es bis zurück nach Bamako schaffen.“

Ousmane Diarra, der Präsident der Selbstorganisation malischer Abgeschobener (AME) in Bamako, ist überzeugt, dass die europäischen „Überwachungsabkommen“ mit den Maghrebländern „diese Region Afrikas in eine versperrte und rechtlose Zone verwandelt“ haben. Seine Organisation dokumentiert jährlich Hunderte von Menschenrechtsverletzungen an Migranten, die aus dem Maghreb abgeschoben wurden. Einen hohen Wert hat für ihn die Aufklärung der Bevölkerung: „Damals haben wir eine Kampagne im ganzen Land durchgeführt. Mit Flugblättern, Plakaten und auch Theateraufführungen informierten wir über die Risiken, die mit dem Weg nach Europa verbunden sind.“ Die Zukunft liegt für den Menschenrechtler, der in seinem Brotberuf als Textilhändler auf dem Markt von Bamako arbeitet, in der Zusammenarbeit einer afrikanisch-europäischen Zivilgesellschaft: „Wir müssen unsere Kräfte bündeln, um gemeinsame Aktionen der Sensibilisierung zu realisieren und den politischen Entscheidungsträgern konkrete Vorschläge machen“. Auch fünf Jahre später habe sich an den Aufbruchsgründen der Migranten nichts geändert: „Fehlende Perspektiven, Armut, politische Krisen oder klimatische Probleme.“

Zudem verstehe die Bevölkerung nach wie vor nicht, wieso immer nur der kostspielige Grenzschutz weiter ausgebaut werde. „Warum wird alles dafür getan, ihr Recht aufzubrechen und ihr Glück woanders zu suchen, zu beschneiden, anstatt das Geld sinnvoll einzusetzen?“.

Die Antwort von Ousmane Diarra lautet: „Europa ist nicht bereit dazu, dem Elend der Welt zu begegnen. Auch das hat sich in den Nächten von Ceuta und Melilla gezeigt.“

Projektstichwort:

Sofortige Hilfe und politische Aufklärung vor Ort, dazu die europäisch-afrikanische Vernetzung: die medico-Partner in Mauretanien und Mali brauchen Ihre Unterstützung, die Opfer der europäischen Ausgrenzung benötigen unsere Solidarität. Spendenstichwort: Migration.


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