Nicht erst seit dem Milliardendeal mit der Türkei Ende letzten Jahres versucht die Europäische Union, Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten bereits weit vor den Grenzen Europas aufzuhalten. Spätestens seitdem im Oktober 2005 Hunderte Menschen die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla stürmten, spannen die EU und ihre Mitgliedsstaaten Herkunfts- und Transitländer in ihre Abschottungs- oder Selektionspolitik ein. Gerne wird diese Externalisierungsstrategie dieser Tage euphemistisch als Maßnahme der „Fluchtursachenbekämpfung“ deklariert, auch wenn damit keine einzige Fluchtursache tatsächlich beseitigt wird, sondern im Gegenteil Gründe und Bedingungen von Flucht und Migration sogar verschärft werden.
Auf einem von medico international gemeinsam mit Brot für die Welt und Pro Asyl organisierten Fachtag in Berlin am 23. Februar 2016 diskutierten NGO-Vertreterinnen und -vertreter aus Deutschland, der Türkei, West- und Ostafrika die fatalen Konsequenzen dieser Migrations- und Flüchtlingspolitik für Herkunfts- und Transitländer ebenso wie für das Selbstverständnis Deutschlands und Europas. Beginnend mit dem Rabat-Prozess, der auf west- und nordafrikanische Länder zielt und im Juli 2006 initiiert wurde, über den Khartoum-Prozess, der sich seit November 2014 auf das Horn von Afrika konzentriert, bis zum Aktionsplan mit der Türkei vom November vergangenen Jahres zeichnet sich ab, dass für Europa Wohlstandswahrung und eigene Sicherheit im Vordergrund stehen, während Menschenrechte, Entwicklung und die Sicherheit von Migrantinnen und Migranten allenfalls rhetorisch eine Rolle spielen. Doch auf dem Fachtag wurde auch deutlich, dass Deutschland und Europa ihre Interessen in der Welt schon lange nicht mehr ungebrochen durchsetzen können.
Eher Diktat als Dialog
Der medico-Partner Amadou M’Bow von der Mauretanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH) eröffnete die Tagung mit einem historischen Abriss des Rabat-Prozesses und seiner Auswirkungen auf Westafrika. Diesen Prozess als Ergebnis eines „euro-afrikanischen Dialogs“ zu bezeichnen, wies er zurück. „Das war eher ein Diktat als ein Dialog, keinesfalls ein demokratischer Vorgang.“ Für die Länder Westafrikas habe das Einwirken der EU zur Konsequenz gehabt, dass die Mobilität, die für die Menschen in der Region seit Jahrhunderten selbstverständlich ist, schwieriger wurde und Staatsgrenzen an Bedeutung gewannen. Und nicht nur das: „Nach der Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht 1958 brauchte Mauretanien migrantische Arbeitskräfte. Es gab keine Integrationsprobleme. Seit dem Einwirken der EU werden inländische Arbeitskräfte bevorzugt und der Rassismus hat zugenommen.“
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Die Einbindung west- und nordafrikanischer Staaten in die europäische Migrationspolitik
In der anschließenden Diskussionsrunde zum Rabat-Prozess betonte Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat, dass Mali im Gegensatz zum militärisch regierten Mauretanien, ein Land mit „mehr Hoffnung und Widerständigkeit“ sei. Obwohl dort wie in Mauretanien ein EU-gesteuertes Zentrum des Migrationsmanagements errichtet wurde, um Migrantinnen und Migranten vorzuselektieren, sei der Einfluss der EU weit geringer. Dafür nannte er verschiedene Gründe. So hätten sich die Maßnahmen in Mauretanien anders als in Mali in erster Linie gegen Einwanderer aus Nachbarländern gerichtet und seien deswegen leichter durchzusetzen gewesen. Außerdem sei der Kreis an Akteuren, die dafür gewonnen werden mussten, überschaubar und „leichter einkaufbar“. „Im multiethnischen Mali ist die Situation komplexer. Hier gibt es eine enge soziale Verwobenheit und die Politik unterliegt sozialer Kontrolle, was eine zu enge Zusammenarbeit mit der EU verhindert.“ Statt von der EU finanziertes Material und Fahrzeuge für die Grenzkontrolle einzusetzen, würde es von höheren Beamten lieber privat genutzt. „Die Grenzen sind mehr oder weniger offen. Nach Europa wollen aber die wenigsten.“
In Bezug auf Marokko konstatierte Hannes Stegemann von caritas international Ähnliches: „Viele deutsche Politiker machen sich ein falsches Bild von der Abhängigkeit Marokkos von deutscher Entwicklungshilfe. Marokko ist nicht erpressbar.“ Das habe offenbar auch die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) falsch eingeschätzt, die das Land seit Mitte 2015 bei der Implementierung einer neuen Migrations- und Asylpolitik unterstützen will. Eine teure Delegation von GIZ-Mitarbeitern und -Mitarbeiterinnen befinde sich seit Monaten im Land, sei aber arbeitsunfähig, weil Marokko bislang nicht kooperierte.
Amadou M’Bow warf ein, dass die EU in der Migrationspolitik verschiedene Register ziehe und auch versuche, mit der Zivilgesellschaft zu kooperieren, was Stephan Dünnwald für Mali und die Türkei bestätigte. In diesen Ländern gebe es eine regelrechte „Migrationsindustrie“, die auf Projektausschreibungen reagiere. Wenn beispielsweise Projekte zur Sensibilisierung der Menschen für die Gefahren des Weges in den Norden ausgeschrieben würden, könne man sicher sein, dass sich innerhalb kürzester Zeit diverse Organisationen gründeten, die genau solche Projekte anböten. Kritische Organisationen wie medico-Partner AMDH hingegen könnten oftmals gerade so ihre Miete bezahlen, erklärte M’Bow. „Bei Ausschreibungen zur Sensibilisierungen für die Gefahren der Migration würden wir uns nie bewerben, da wir nicht gegen Migration sensibilisieren wollen. Das geht gegen unsere Prinzipien. Wir machen lieber mit begrenzten Mitteln Dinge, hinter denen wir auch stehen."
Pakt mit Despoten auf Kosten der Flüchtlinge
Auch am Horn von Afrika finanziert die EU „Sensibilisierungskampagnen“, um Menschen von der Migration abzuhalten. Und nicht nur das. Im Rahmen des Khartoum-Prozesses, der am Nachmittag diskutiert wurde, sollen Beamte in Sudan und Südsudan im Migrations- und Grenzmanagement geschult werden. Für Eritrea und Ägypten gibt es Überlegungen, die Polizeiausbildung zu unterstützen, und im Niger bietet die Internationale Organisation für Migration (IOM) in vier Zentren bereits „freiwillige Rückkehrpakete“ an.
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Verdrängung, Einhegung, „Heimatnahe Unterbringung“ - Vorbild Australien?
In der Diskussionsrunde um die „heimatnahe Unterbringung“ syrischer Flüchtlinge in der Türkei wurde debattiert, ob die EU die Türkei nicht nur als „sicheres Herkunftsland“, sondern auch als „sicheren Drittstaat“ einstufen werde. „Das würde bedeuten, dass alle, auch alle Flüchtlinge, in die Türkei zurückgeschickt werden können. Das wäre das Ende des europäischen Asylsystems“, meinte Oktay Durukan von Refugee Rights Turkey. Und Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik ergänzte: „Abschottung und Rücksendung von Flüchtlingen in die Türkei löst kein Problem, trotzdem ist es derzeit der einzige politische Plan.“ Seine Prognose: „Europa wird das australische Modell übernehmen.“
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Jenseits der Abschottung
Düstere Aussichten bestimmten auch die Abendveranstaltung: Eigentlich sollten Günther Burkhardt von Pro Asyl, Thomas Gebauer von medico, Reinhard Palm von Brot für die Welt und ein Vertreter des Auswärtigen Amtes Ausblicke auf eine Flüchtlings- und Migrationspolitik „jenseits der Abschottung“ eröffnen. Burkhardt sah Europa in eine Vorkriegssituation hineinschlittern. Gebauer und Palm schöpften immerhin noch Hoffnung aus der „starken Zivilgesellschaft“, die in Deutschland seit letztem Jahr eine „Willkommenskultur“ geprägt habe. Und während Burkhardt die Meinung vertrat, „kurzfristiges Krisenmanagement“ und eine klare Trennung von Flucht und Migration zur Rettung des individuellen Asylrechts sei das Gebot der Stunde, verteidigte Palm die langfristige Entwicklungszusammenarbeit gegen eine Vereinnahmung in die Abschottungspolitik Europas. Thomas Gebauer ergänzte: „Bei aller Notwendigkeit, unmittelbar zu reagieren, muss eine längerfristige Politik erkennbar sein. Wenn wir die zunehmende dramatische Ungleichheit auf der Welt nicht angehen, wird sich nichts ändern an den Ursachen für Flucht und Migration.“
Ramona Lenz
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