Tagungsbericht

Für das Recht auf legale Wege

29.11.2016   Lesezeit: 6 min

Solidarität und Unterstützung für Geflüchtete in Mexiko und Europa – Aktivist/innen und Netzwerke aus beiden Regionen stellten ihre Arbeit vor und diskutierten über den Kampf für globale Rechte von Migrant/innen.

Die Situation an den US-amerikanischen und europäischen Außengrenzen ähneln sich in vieler Hinsicht. In beiden Grenzregionen verwehren die nördlich gelegenen Länder legale Einreisemöglichkeiten und betreiben eine repressive Abschottungspolitik gegen Einreisewillige aus dem Süden. Dies wird immer stärker durch die Einbindung mehr oder weniger nah angrenzender Herkunfts- oder Transitregionen realisiert. Die Externalisierungspolitik hat in beiden Regionen zur Gründung zivilgesellschaftlicher Netzwerke geführt, die dem eine solidarische Unterstützung Migrierender und Flüchtender entgegenstellen. In den Räumen der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung brachte medico Aktivist/innen aus zwei Kontinenten zusammen, die sich neben ebendiesen Anknüpfungspunkten auch darüber austauschten, welche Unterschiede bestehen und Möglichkeiten der Solidarisierung ausloteten.

Die Mexikaner/innen Fray Tomás, Leiter der Migrant/innenherberge „La 72“ in Tenosique, und Marta Sánchez vom Movimiento Migrante Mesoamericano, das die „Karawane der mittelamerikanischen Mütter“ organisiert, berichteten von ihrer Arbeit . Über europäische Solidaritätsarbeit informierten unter anderem Gianfranco Crua 2014, der gemeinsam mit einer Gruppe aus Turin eine erste Karawane durch Italien nach dem Vorbild Mexikos organisierte. Marc Speer und Vera Wriedt von Moving Europe, Frank Dörner von Sea WatchundHarald Glöde vonborderline europehingegen beschäftigten sich mit der Situation von Migrant/innen auf der Balkanroute, in Griechenland und auf dem Mittelmeer.

Gefährliche Wege und das Verschwinden von Migrant/innen

Es wurde sehr deutlich, dass die verstärkten Abschottungsaktivitäten mit zunehmender Gewalt gegen Migrant/innen einhergehen. In ihrem eindrucksvollen Bericht über die „Karawane der mittelamerikanischen Mütter“ – in Zusammenarbeit mit zentralamerikanischen Angehörigenkomitees, zumeist sind es Mütter, teils auch Väter, die jedes Jahr in ganz Mexiko nach ihren Kindern sucht, welche in großen Zahlen während der Migration nach Norden in einem Sog von (organisierter) Kriminalität und Gewalt verschwinden – machte Marta Sánchez deutlich, wie gefährlich Migration im mexikanischen Kontext ist. Hintergrund für die tragische Situation und Ausgangspunkt für die Arbeit der Karawane und anderer Solidaraktivitäten in Mexiko sei die klaffende soziale Ungleichheit in Mexiko bzw. ganz Mittelamerika. Diese bedinge eine Entwicklung Mittelamerikas hin zu einem „Schauplatz des Todes“, zu Werteverlust und Gewaltbereitschaft, so Fray Tomás, Leiter der Migrant/innenherberge „La 72“ in Tenosique.

Der italienische Aktivist Gianfranco Crua machte deutlich, dass im sich im Süden Italiens ein Mexiko nicht unähnliches System mafiöser organisierter Kriminalität herausbilde. Nicht nur angesichts des zusätzlichen massenhaften Sterbens im Mittelmeer also sprach Frank Dörner von einem „Ausverkauf der europäischen Ideen und Prinzipien“.

Grenzgewalt in Europa – die Schließung der Balkanroute

Marc Speer (Moving Europe) stellte die zeitgeschichtlichen Entwicklungen um den europäischen „Sommer der Migration“ dar und ging auf die Rahmenbedingungen ein, die den ersten sogenannten „march of hope“ vom Budapester Bahnhof Keleti nach Deutschland ermöglicht haben. Wenngleich er dem europäischen Grenzregime einen kurzzeitigen „Totalzusammenbruch“ im Jahr 2015 diagnostizierte, beobachte er heute eine „Re-Strukturierung“, die auf eine extremere Verschärfung der Grenzschutzaktivitäten hindeute. Er prangerte dabei die gewaltsamen Praktiken staatlich organisierten Grenzschutzes seit der Schließung der Balkanroute als „Negation“ des euphorischen ersten „March of hope“ an.

Externalisierung und Menschenrechte – ein Widerspruch

Die Forderung nach einer menschenrechtsbasierten Migrationspolitik brachte auch Sabine Eckart von medico mit in die Diskussion, als sie von ihrer Teilnahme am Gegengipfel der afrikanischen Zivilgesellschaft um den "Extraordinary Summit on Maritime Security and Safety and Development in Africa“ der Afrikanischen Union in Lomé, Togo berichtete. Sie stellte dar, wie die europäische Externalisierung der Verantwortung für Migrierende und Flüchtende nach Afrika – im Übrigen analog zur US-amerikanischen Auslagerung des Grenzschutzes in Staaten wie Guatemala, Honduras, El Salvador oder durch das Programm „Frontera Sur“ nach Mexiko - diese Forderung untergrabe.

Kriminalisierung von Aktivist/innen und die Herausforderungen der Humanitären Hilfe

Sowohl Fray Tomás aus Mexiko als auch Frank Dörner von SeaWatch berichteten von einer Kriminalisierung der eigenen Unterstützungsarbeit für Migrant/innen sowie dem Vorwurf, einen „Pull-Faktor“ zu schaffen, indem sie Migrant/innen auf der Reise Rettung und Zuflucht anböten. Zum anderen stellte die Problematik um das Verhältnis von humanitärer Arbeit, Mobilisierung und Menschenrechtsarbeit einen Kern-Diskussionspunkt der Tagung dar. Vera Wriedt demonstrierte am Beispiel der Arbeit von Moving Europe, wie aktivistische Arbeit Gefahr läuft, Staaten aus ihrer nicht nur humanitären Verantwortung zu entlassen und immer weniger Raum für inhaltlich-politische Arbeit zu schaffen: Das Gemeinschaftsprojekt versuch(t)e, die Gegebenheiten auf dem Balkankorridor im Rahmen des „Sommers der Migration“ zu dokumentieren und „die eingeschränkte Autonomie Migrierender zu erweitern“, indem diese durch den MovingEurope-Bus mit Strom für Mobiltelefone, Internet und Informationen für eine sichere Reise auf dem Balkankorridor versorgt wurden. Grundsätzlich jedoch, argumentierte Wriedt, ermögliche humanitäre, materielle Hilfe erst politische Arbeit und sei daher wohl unabdingbar, da bereits selbst politisch. Fray Tomás ging noch weiter. Die Migrant/innenherberge „La 72“ ist ihm zufolge ein revolutionärer Raum des „zivilen Ungehorsams“ gegen einen mexikanischen Staat, der seine humanitären Aufgaben nicht erfüllt und im Sinne des US-Grenzregimes agiert. In „La 72“ finden Migrant/innen Sicherheit, Hilfe, Rechtsbeistand und etwas Ruhe.

Empowerment und Selbstbestimmung - Ziele aktivistischer Arbeit

In Anbetracht der Frage, wie mobilisierende, aktivistische Arbeit aussehen kann, wurde diskutiert, auf welche Weise sich Migrierende angesichts häufig wechselnder Aufenthaltsorte überhaupt politisch engagieren bzw. inwiefern sich zivilgesellschaftliche, solidarische Akteure in die migrantischen Lebenswelten integrieren könnten. Die Diskussionsteilnehmer/innen kritisierten die mediale Reproduktion des „klassischen Bildes des leidenden Migranten“. Für solidarische Arbeit sei es wichtig, widerständische Aktionen migrantischer Selbstbestimmung wie den „March of Hope“ oder die Karawane der Mütter zu zeigen. Die Karawane hat nicht nur die Funktion, verschwundene Migrant/innen zu suchen. Es geht vor allem auch darum, die Angehörigen aus ihrer Verzweiflung heraus zu befähigen, zu starken Menschenrechtsaktivist/innen zu werden, sichtbar zu werden und „ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen“.

Öffentlichkeit und Anklage – Wege aktivistischer Arbeit

Die Schaffung von Sichtbarkeit bildet auch den Kern der Arbeit Eva Bitrans vom „European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)“. Sie beklagte insbesondere die meist im Verborgenen geschehende Verletzung der Menschenrechte bei Grenz- und Migrationsroutenschließungen. Als Anwältin kämpfe sie dafür, dass die betroffenen Menschen effektiv gegen dieses Unrecht klagen können und dies auch in Anspruch nehmen, denn: „Jeder soll sichtbar sein, jeder soll Kläger sein!“ Die juristische Ebene sei für sie ein elementares Kampfterrain, das Regierungen aufrütteln und anklagen sowie das Recht des Einzelnen stärken könne. Diese Ziele müssen aber auch durch Solidaritäts- und Recherchearbeiten vorangebracht werden, so Bitran.

Solidarität und Vernetzung über Grenzen hinweg

(Transnationale) Vernetzung, wie sie im Zuge der Tagung stattfand, ermöglicht nicht nur Austausch und Solidarität über Kontinente hinweg. Das demonstrieren beispielsweise die parallelen „Karawanen der Mütter“ in Mexiko und Italien.  Sánchez Soler regte dazu an, im Zuge des alljährlichen Starts der mexikanischen Karawane am 15.11. europaweite Solidarveranstaltungen durchzuführen.

Vernetzung impliziere darüber hinaus auch, aus den Fehlern der anderen zu lernen, so Marta Sánchez. Sie forderte vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in Mexiko die EU auf, Migration nicht gewaltsam zu stoppen, da dies zum einen scheitern und zum anderen viel Leid und Tod verursachen werde. Veränderung könne nur ein Wandel des neoliberalen Wirtschaftssystems bringen, welches gegenwärtig makroökonomischen Interessen, nicht aber den Menschen diene und somit eine weitere Fluchtursache darstelle. „Anarchie! Der Kampf gegen die Strukturen neoliberaler Politik ist optionslos.“, so lautete ihre Antwort auf die Frage, wie es Europa schaffen könne, effektiv gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.

Die Veranstaltung von Heinrich Böll Stiftung, Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung, borderline europe und medico international fand am 18.10.2016 in Berlin statt. Den Tagungsbericht verfasste Sarina Theurer.


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