Von Marcus Balzereit.
Stadt statt Staat?
"Wir sind auf dem Weg in Europa, unsere Werte zynisch auf der Lippe zu tragen und genau zu wissen, sie werden nicht beachtet. Die Politik auf dem Mittelmeer ist Zynismus, und sonst gar nichts." Vor dieser Einsicht plädierte die Politikerin und Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gesine Schwan in ihrem Eröffnungsvortrag des diesjährigen Stiftungssymposiums am 8. und 9. Juni 2017 für Orte gelebter Solidarität. Anderthalb Tage lang drehte sich im Haus am Dom in Frankfurt am Main fast alles um Möglichkeiten und Grenzen ebensolcher Orte. Diskutiert wurde mit den über 300 teils von weither angereisten Teilnehmern und Teilnehmerinnen über ganz unterschiedliche Konzepte und Fragestellungen: über "Sanctuary Cities" und "Solidarity Cities", über "Städte der Zuflucht" und "Städte der Vielfalt".
Am Freitagabend konnte zum Schluss gemeinsam festgehalten werden, dass Migration eine in den europäischen Städten existierende Tatsache ist, mit der umgegangen werden muss. Von überall her kommen Menschen zuallererst in Städten an und suchen dort Erwerbsarbeit, Wohnung und Anerkennung. Und dies machen sie unbeschadet der europäischen Abschottungspolitik und trotz der Nationalstaaten, die sich weigern, dem selbst verabredeten Verteilungsschlüssel für Geflüchtete Geltung zu verschaffen. Städte sind also aktuell und waren es immer schon: Orte der Zuflucht. Und die Kommunen in Europa beginnen vielleicht eben erst zu verstehen, was dies für ihre Zukunft bedeutet. "Die Städte unserer medico-Partner und Partnerinnen sind heute schon Ankunftsstädte von Abermillionen Neuangekommenen, und überall fordern diese Neuankömmlinge die Gleichheit der Rechte ein", so der Fachreferent für Menschenrechte bei medico Dr. Thomas Seibert in seinem Vortrag. Es steht nicht mehr zur Debatte, ob Städte mit dieser Herausforderung umgehen sollen. Es kann nur noch darum gehen, wie sie dem begegnen. Ob sie also mit, für oder gegen diejenigen Stadtpolitik machen wollen, die kommen werden.
Integration als Bringschuld
Allein: Von dieser Gleichheit und von einer Politik für und mit den Neuankömmlingen kann aktuell nicht die Rede sein. So existiert beispielsweise in Deutschland ein Ausländerrecht, das seinem Prinzip nach ein Abwehr-, also kein Integrationsrecht ist. Im Ergebnis können die Krisen des Prinzips nationaler Zugehörigkeit zuerst in den Städten studiert werden. Die hier zutage tretenden Konflikte fordern den Nationalstaat und das Konzept nationaler Bürgerschaft heraus. Herausgefordert ist damit aber auch jeder Einzelne, der an einer Vorstellung von nationaler Identität starr festhalten will und an der prinzipiellen Sortierung von Menschen nach In- und Ausländern nichts auszusetzen weiß.
Die Tagung machte deutlich, dass eine Alternative zuerst von den Städten und ihren emanzipatorischen Kräften her gedacht, praktiziert und gefordert werden muss. Alle Redner und Rednerinnen plädierten letztlich für eine veränderte Migrationspolitik und für die Arbeit an einer geeigneten sozialen Infrastruktur. Diese sei die erste Bedingung für ein gutes Leben aller. "Integrationspolitik" für die "Neuen" und für die "Alteingesessenen" müsse als Bringschuld des Staates verstanden werden. Diese könne aber auch "von unten" mit und gegebenenfalls auch gegen die Stadtpolitiken organisiert werden. Eine besondere Fokussierung auf Ausländer, Geflüchtete und sogenannte Problemgruppen brauche es für Zwecke der Herstellung einer solchen Infrastruktur jedenfalls nicht.
Das Symposium 2017 schloss nahtlos an das Thema der Weltoffenheit des vergangenen Jahres an. Stand damals im Vordergrund, wie eine globale gesellschaftliche Alternative, die auf Solidarität statt auf Konkurrenz gebaut ist, aussehen könnte, ging es in diesem Jahr um das Ausleuchten von Räumen, in denen eine solche andere Praxis bereits stattfindet oder gerade begonnen wird. "Städte der Zuflucht organisieren heute schon unterhalb nationaler Politiken eine andere Flüchtlingspolitik. Das ist ein Engagement für eine andere, eine solidarische Politik", so der Geschäftsführer von medico international Thomas Gebauer in seinem Eröffnungsvortrag.
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Europäisches Infrastrukturprogramm
In diesem Kontext unterbreitete Gesine Schwan der Öffentlichkeit erst vor wenigen Wochen einen in Ton und Inhalt Aufsehen erregenden Vorschlag. Ziel dieses in ihrer Rede am Donnerstagabend noch einmal präsentierten Vorschlags ist es erklärtermaßen, die nationalstaatliche Dominanz in Sachen Flüchtlingspolitik zugunsten eines europäischen Infrastrukturprogramms zu durchbrechen. Die Kommunen sollen sich bei einem neu aufzulegenden Fonds um die Ansiedlung von Geflüchteten und um Geld bewerben. Dieses Geld käme dann gleichermaßen zwei Zwecken zugute: Zum einen würden die konkreten Kosten im Zuge der Integration von Geflüchteten dadurch refinanziert, zum anderen würde die Entwicklung der allgemeinen kommunalen Infrastruktur damit vorangetrieben werden. Unternehmen, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Verwaltung seien gemeinsam aufgefordert, Einigkeit über beide Zwecke herzustellen. Es gelte also einerseits, nüchtern Interessen zu bedienen. Schulen, Sozialwohnungen und das Gesundheitswesen könnten ausgebaut werden. Und gleichzeitig werde die Integration der Flüchtlinge gewährleistet. Schwierigkeiten der Umsetzung sah Schwan im komplizierten Antragswesen der Europäischen Kommission und im zunehmenden Rechtspopulismus der Mitgliedsstaaten. Die nationale Ebene müsse daher durchbrochen werden und dies geschehe mit ihrem Vorschlag gleich zweifach. Das Geld solle nämlich von der Europäischen Kommission direkt an die interessierten Kommunen überwiesen werden. Kein Einverständnis zeigte Schwan in der sich anschließenden lebendigen Debatte mit einer von der Hamburger Rechtsphilosophin Helene Heuser in ihrem Kommentar eingebrachten Frage. Heuser erwog, ob denn im Zuge des Vorschlags zur Einrichtung eines solchen Kommunalfonds nicht gleich auch die Existenz des Nationalstaats selbst infrage gestellt werden müsse. Schließlich läge diesem eine ständige eigene Ausschlusslogik, im Sinne der Sortierung in In- und Ausländer, immer schon zugrunde.
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Integration und Ausschließung
Den Freitagmorgen eröffnete Thomas Seibert mit einigen grundlegenden Gedanken zur Bedeutung von Städten im Kontext von Flucht und Migration. Städte waren demnach seit Jahrtausenden schon immer auch "Sanctuary Cities". Heute noch zeige sich die biblische Tradition des Schutzes von Verfolgten in der Praxis des Kirchenasyls, im "Sanktuarium". Die Stadt war, so Seibert, also schon immer der Ort der Anderen und der Fremden. Gegenwärtig seien über 65 Millionen Menschen auf der Flucht, hin zu einer Stadt, die für sie zur Zuflucht werden kann. Er machte deutlich, dass die Dynamik von Stadtentwicklungen nicht zu trennen ist von Fragen der gesellschaftlich organisierten Konkurrenz um Ressourcen und Anerkennung und darin scheiternder und erfolgreicher Individuen. Zuletzt stellte er die provokativen Forderungen von Ulrike Guérot und Robert Menasse zur Diskussion: "Grenzen abschaffen und laufen lassen!" und "Nicht integrieren!". Hiernach solle Schluss gemacht werden mit dem "Stress der Integration". Stattdessen solle man Neuankömmlingen Baugebiete und statt Leitkultur Bürgerrechte zur Verfügung stellen. Es entstünde diesmal dann kein "New York", vielleicht aber ein "Neu-Aleppo". Doch auch das reiche noch immer nicht aus, so Seibert. Es gelte weiterhin, auch über Alternativen zum gesellschaftlich produzierten Elend, nicht nur in den Städten, nachzudenken.
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Konkrete Widersprüche
Der Stadt Frankfurt am Main kommt in einer solchen Auseinandersetzung um "Weltoffenheit" eine besondere Rolle zu. Dies war das Thema des Vortrags des Frankfurter Geographen und Politologen Dr. Matthias Rodatz. Er diskutierte die konkreten Widersprüche im Rahmen der Einrichtung und der aktuellen Verlautbarungen des ersten deutschen Amts für multikulturelle Angelegenheiten (AMKA) in Frankfurt am Main im Jahr 1989. Seit seiner Gründung versuche dieses Amt, gemäß eben der realexistierenden Wirklichkeit, alle städtischen Einrichtungen für ein Konzept der "Stadt der Vielfalt" und für ein rassismuskritisches "Diversitätsmanagement" zu gewinnen. Da das Amt aber nicht mit den nötigen Mitteln der Durchsetzung versehen werde, blieben diese Konzepte, mögen sie auch der Wirklichkeit angepasst sein, doch nur bloßes Papier. Die Ausländerbehörde halte das Leitbild des AMKA denn auch für "ausgemachten Blödsinn", so Rodatz in seinem Vortrag. Der paradoxe Effekt: Auf der einen Seite werden Hochglanzbroschüren gegen die Diskriminierung veröffentlicht, auf der anderen blieben diese ohne strukturelle Konsequenzen. Doch Rodatz warnte auch davor, diese Konzepte für bloße Sonntagsreden zu halten. In diesen Konzepten formuliere sich eben der richtige Anspruch an einen anderen Umgang dieser Stadt mit ihren realen Konflikten. Der Umstand, dass es noch nicht zu einer tatsächlichen politisch-strukturellen Veränderung gekommen ist, könne politisch skandalisiert werden.
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Sanctuary und Solidarity
Helene Heuser brachte in ihrem Vortrag Licht in die bis dahin deutlich gewordene verwirrende Vielfalt der Begriffe. So könne "Stadt der Zuflucht" reserviert bleiben für ein Konzept legaler Zufluchtswege für Geflüchtete in eine Kommune. Hingegen bezeichne "Sanctuary Cities" den vor allem in den USA und Kanada etablierten erklärten Nicht-Zugriff auf illegalisierte Migrantinnen und Migranten. Es gehe dabei also um den Schutz vor Abschiebung von Menschen, die schon in einer Stadt leben. Zusätzlich könne "Solidarity Cities" verstanden werden als ein breiterer Ansatz, der auf die Inklusion aller Menschen, die bereits in einer Stadt zusammenleben, abziele.
Der aus New York angereiste Ökonomieprofessor Dr. Richard D. Wolff legte den Schwerpunkt seines Beitrags auf den Zusammenhang von Stadtentwicklung und ökonomischen Transformationsprozessen. Aktuell hätten wir es mit einer neuerlichen Krise des Kapitalismus zu tun. Seinen Ausdruck fände sie in den USA wie in Europa im Begriff der "Gentrifikation". Der so benannte Prozess sei auch grundlegend für den Erfolg von Donald Trump in den USA. Er nämlich spräche zu denen, die in den letzten Jahren aus den Städten ausgeschlossen worden und darüber in eine vielfach unbegriffene Wut geraten seien. Die Aufgabe Trumps läge auf der Hand. Er versuche diese Veränderungen von rechts zu organisieren und böte parallel dazu eine unangemessene Erklärung an. Zu den tatsächlichen Veränderungen gehöre die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, der Ausbau eines Niedriglohnsektors und die Automatisation der Betriebsabläufe. All dies habe in den vergangenen Jahren zu einem Einkommensverlust der weißen Mittelklasse und einem Anstieg privater Verschuldung geführt. Des Weiteren brauche es in den Städten den Platz aktuell für die Oberschicht und deren Dienstleister. Die Räume für die Mittelschicht würden also dramatisch kleiner: finanziell und den Wohnmöglichkeiten nach. Die rechtspopulistische Interpretation Trumps aber träfe zuerst die Migranten als Sündenböcke für die Folgen solcher strukturellen und ökonomischen Widersprüche. Gegenentwürfe hierzu sieht er in basisdemokratischen Genossenschaften. Und er beendete seinen Vortrag mit der Einsicht: "Dies ist die beste Zeit in der amerikanischen Geschichte, um Marxist zu sein", das Interesse an Kapitalismuskritik jedenfalls sei dort aktuell sehr groß. Er bekäme derzeit so viele Anfragen frisch politisierter Aktivisten und Aktivistinnen wie noch nie, das mache ihm Hoffnung.
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Making Heimat – aber wie?
Auf dem Abschlusspodium im Anschluss an die Arbeitsgruppenphase kamen schließlich noch mal Vertreterinnen und Vertreter konkreter Initiativen und Projekte zu Wort. Mitglieder von Project Shelter/Frankfurt am Main legten dar, wie sie gemeinsam mit Menschen mit und ohne Fluchterfahrungen an den Themen Menschenrechte und Gerechtigkeit arbeiteten, und dass die ständige Suche nach geeigneten und fast immer nur vorübergehenden Unterkünften die politische Arbeit erschwert. Jannika Kuge, Geographin aus Freiburg, berichtete von den Tätigkeiten des bundesweiten Netzwerks Solidarity Cities. Und sie legte noch einmal den Finger in die Wunde, indem sie auf den Widerspruch von offenen Märkten einerseits und geschlossenen Grenzen andererseits hinwies. Peter Cachola Schmal, der Direktor des Deutschen Architekturmuseums, berichtete von seiner aktuellen Ausstellung "Making Heimat". Er habe Offenbach darin gerne zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, die Stadt mit den meisten Ausländern in ganz Deutschland. Und dort würde dieser Tatbestand erfolgreich und ohne Aufregung organisiert. "Wenn wir auf dem Weg zur Einwanderergesellschaft sind", so Cachola Schmal, "woran es keinen Zweifel gibt, dann werden auch beispielsweise in Leipzig demnächst hohe Zahlen von Einwanderern Realität werden." Dieser Herausforderung müssten sich die Kommunen stellen, Offenbach könne hierfür ein gutes Vorbild sein.
Das also ist die gar nicht so neue Rolle der Städte im 21. Jahrhundert. Sie sind die ersten Orte des Ankommens und der Transformation nationalstaatlicher und ökonomischer Prinzipien. Diesen Herausforderungen und Veränderungen muss in den nächsten Jahren an möglichst vielen Orten, nicht nur in Europa, von unten und mit einer emanzipatorischen Politik aktiv begegnet werden. Das Stiftungssymposium 2017 konnte hierzu hoffentlich einen wichtigen Beitrag leisten.
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Das Symposium "Weltoffene Städte" fand am 8. und 9. Juni 2017 im Haus am Dom, Frankfurt am Main statt.