Symposium 2019

Aus Niederlagen lernen

01.08.2019   Lesezeit: 4 min

Für eine radikale Erneuerung der Demokratie – Ein Plädoyer von Boniface Mabanza Bambu auf dem medico-Symposium 2019

Die Anfang der 1990er Jahre in vielen afrikanischen Ländern in Gang gesetzten Demokratisierungsprozesse kamen wie ein süßes Gift. Die Möglichkeit für die Bevölkerung in diesen Ländern, sich formal an politischen Prozessen zu beteiligen, ging einher mit der „Alternativlosigkeit“ der Wirtschaftspolitik , die von neoliberalen Kräften in internationalen Finanzinstitutionen oder bei der Welthandelsorganisation diktiert wurde. Hinzu kam, dass Führungskräfte in einigen afrikanischen Ländern, die die kolonialen Praxen und die im Kalten Krieg entstandenen „afrikanischen Wirklichkeiten“ verinnerlicht hatten, nicht bereit waren, sich auf politisch tiefgreifende Änderungen einzulassen. Demokratisierung wurde als Diktat von außen und nicht als ein Akt aus innerer Notwendigkeit angesehen. Es entwickelten sich bis auf wenige Ausnahmen hybride Systeme, die für den Erhalt der Verhältnisse zugunsten ausländischer Machtzentren und lokaler Elitennetzwerke gut funktionieren, aber den tiefsten Wünschen der Mehrheiten der Menschen nach partizipativer Demokratie nicht entsprechen. In solchen Systemen werden Instrumente wie Wahlen fetischisiert.

In vielen afrikanischen traditionellen Gesellschaften gab es keine politischen Parteien, wohl aber eine ausgeprägte Kultur des Austausches, des Dialogs und des öffentlichen Diskurses, die kein Selbstzweck war, sondern darauf abzielte, das Zusammenleben in einer Gemeinschaft friedlich und zum Vorteil aller zu gestalten. Dies könnte man als Verantwortlichkeit des Gemeinwesens bezeichnen, nicht automatisch kongruente Interessen zu berücksichtigen. Meiner Meinung nach spiegeln diese Elemente das Wesen eines politischen Systems wieder, in dem Subjekte die Möglichkeit bekommen, die ihr Leben betreffenden Entscheidungen zu initiieren, zu beeinflussen und/oder zu kontrollieren. Die Partizipation wird durch öffentliche Meinungsbildungsprozesse, oft symbolisiert durch den Palaverbaum als Ort der Konsensbildung, artikuliert. Die Verantwortlichkeit findet Ausdruck in der Berücksichtigung aller Interessen, vor allem der der „Schwachen“ und am Rande stehenden Menschen nach dem Prinzip: „Je höher der soziale Rang, desto größer die soziale Verantwortung und je verwundbarer die Situation, desto größer die Fürsorgepflicht der Gesellschaft.“ Was den Gemeinschaftssinn angeht, so orientiert er sich am Prinzip der Lebensförderung, d.h., wie der kongolesische Theologe Matondo Tuzizila formuliert, an der „Stärkung der Teilhabe an der Einheit der Wirklichkeit, welche nur in der Verwiesenheit von allem auf alles Bestand hat. Eine Steigerung der Lebenskraft, die nicht als Stärkung dieser streng gemeinschaftlich und kosmisch vermittelten Teilhabe intendiert wird, stellt etwas extrem Bedrohliches für die Gemeinschaft dar, weil sie nur unter gleichzeitiger Beeinträchtigung der Lebensfähigkeit anderer und auf Kosten des kosmischen Gleichgewichtes zu bewerkstelligen ist“. An diese unterbrochenen Traditionen und die darin enthaltenen moralischen, intellektuellen und spirituellen Ressourcen in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen hätten die afrikanischen Staaten anknüpfen können, um eine Vielfalt demokratischer politischer Systeme zu gestalten. Heute geht es darum an diese unterbrochenen Traditionen für eine radikale Demokratie anzuknüpfen. Dazu ist es nötig, Entscheidungsfindungsprozesse von der Dominanz wirtschaftlich stärkerer Akteure zu befreien, die die Steuerungsinstanzen zu Erfüllungsgehilfen ihrer Interessen gemacht haben.

Zwei Handlungsfelder erscheinen mir von zentraler Bedeutung: zum einen die übergeordneten Instanzen wie die Europäische Union oder die Afrikanische Union, zum anderen die untergeordneten, wie kommunale Strukturen. Das Gleichgewicht zwischen übergeordneten Instanzen, denen wichtige Aufgaben wie Völkerverständigung und Bewahrung des Friedens zukommen, und den untergeordneten Instanzen muss so gestaltet werden, dass für die untergeordneten Instanzen Handlungsspielräume entstehen, die ihnen ermöglichen, Subsidiarität auch als Kategorie des Widerstands zu nutzen. Zum anderen geht es um die Fähigkeiten politischer Systeme tiefgreifende Entscheidungen zu treffen. Das aktuelle politische System mit seinen Wahlzyklen begünstigt Entscheidungen mit kurzfristiger Wirkung. Sinnvoll wäre die Etablierung von Mechanismen und Instanzen, die ermöglichen, zentrale Fragen der Menschheit von Wahlzyklen abzukoppeln. In diesem Zusammenhang steht auch der von Felwine Sarr in „Afrotopia“ formulierte Vorschlag besonders für die rohstoffreichen Länder, die Verwaltung strategischer Ressourcen von politischen Ämtern und Zyklen zu trennen, um den zukünftigen Generationen durch einen sorgfältigen Umgang mit den materiellen Ressourcen ein Leben in Würde zu ermöglichen.

Die westlichen wissenschaftlichen Traditionen und politischen Kulturen haben die Gestaltung der Demokratie geprägt, wie sie in vielen anderen Teilen der Welt heute gelebt, erlebt, angestrebt oder vorgetäuscht wird. Es ist jene Demokratie und seine Subjekte, die sich nun in einer tiefen Krise befinden. Die Antwort auf diese Krise kann nur Pluralisierung heißen, d.h. die Vielfalt des Wissens, der Wissensproduktion und der Praxen zu demokratischen Traditionen weltweit nutzbar machen, die universellen Wurzeln der Demokratie wieder zu entdecken, die Krisen zum Anlass zu nehmen, um radikale Formen von Demokratie zu wagen. Die Entstehung dieser radikalen Ansätze setzt voraus, Räume für gemeinsame Lernprozesse über Grenzen von Kulturen hinweg zu etablieren, in denen neue Ideen und Praxen erprobt werden können. Diese wiederum sind nicht möglich, wenn der koloniale Blick auf diejenigen nicht geheilt wird, deren Stimmen, Perspektiven und Wahrnehmungen bis jetzt zum Schweigen gebracht oder ignoriert wurden, weil man ihnen vom Westen aus eine radikale Alterität zugeschrieben hat, die ihre Erfahrungen in allen Bereichen irrelevant macht.

Boniface Mabanza Bambu ist Doktor der Theologe und Koordinator der Kirchlichen Arbeitsstelle südliches Afrika (KASA).


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