Prolog
Im Sommer 2018 irren die zivilgesellschaftlich operierenden Seenotrettungsschiffe Aquarius und Lifeline auf der Suche nach einem aufnehmenden Hafen in europäischen Gewässern umher. An Bord jeweils mehrere Hundert aus dem Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettete Menschen. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer erklärt im Parlament, er sähe keine Notwendigkeit, diese Menschen aufzunehmen.
Zu den umstrittensten Themen der Gegenwart gehört die Frage, wem das Recht zu gehen, und das Recht, zu kommen, um zu bleiben und in Gemeinschaft mit anderen zu leben, gebührt. Doch können wir uns aussuchen, mit wem wir die Welt teilen? Wurde irgendjemand von uns ausgesucht? Sind wir nicht alle ohne Zustimmung aller anderen auf der Erde erschienen, wie Judith Butler, Hannah Arendt folgend, argumentiert? Gekommen, um zu bleiben, wie Bernice Johnson Reagon erklärt? Das ›Wir‹, fährt sie fort, müsse daher so groß wie möglich sein, schließlich sei die Zeit der Räume für »›yours only‹ – just for the people you want to be there« unabänderlich vorbei. Rund 40 Jahre nachdem diese Sätze gesprochen wurden scheinen wir freilich weiter denn je entfernt davon, das ›Wir‹ so groß wie möglich zu machen. Allerorten Räume für ›yours only‹, exklusive, identitär ge- und bestimmte Kollektive, statt dass wir das »Koexistieren mit dem anderen« erlernen und uns einsetzen für das ausnahmslose Recht aller, ein lebbares, von Zwang und Gewalt befreites Leben mit anderen zu führen. Was aber hält uns davon ab, das Leben mit anderen zu teilen, Demokratie also wirklich werden zu lassen? Was lässt uns zögern? medico hat diese Frage ins Zentrum des Symposiums gerückt. Und darin zugleich eine Diagnose versteckt: dass ›wir‹ nämlich verharren in einer fragwürdigen und selbst gewählten Ohnmacht, die Verhältnisse zwar kritisieren, uns indes nicht selbst auf Interventionsmöglichkeiten hin befragen und das Wissen um das eigentlich Nötige und Richtige in Wirkungsmacht übersetzen. Eine Diagnose, die viele Fragen aufwirft. Welches ›Wir‹ ist gemeint, das in selbst gewählter Ohnmacht verharrt? Wo genau verläuft die Kluft zwischen Wissen und Wirkungsmacht? Über welches Wissen verfügen ›wir‹ bereits, das wir nicht nutzen, um anderes wirklich werden zu lassen? Viele weitere Fragen wären denkbar. Mein Auftrag für Heute war, über das Zögern als Moment der Krise von Subjekt und Öffentlichkeit zu sprechen. Als Umschreibung für das, was uns hindert, das Nötige und Richtige zu tun. Das will ich auch versuchen. Aber vielleicht etwas anders als erwartet. Indem ich einige Momente, die ich mit Zögern assoziiere, ins Gespräch bringe, werde ich nämlich auch versuchen, das Zögern zu rehabilitieren als eine Tugend, die wir brauchen für die Vertiefung pluraler Demokratien. Die Momente, um die es geht, sind: Ver_lernen, Unterscheiden, Zweifeln, Urteilen – eine Spurensuche.
Ver_lernen
Im Epilog ihres Krebstagebuchs Lichtflut – A Burst of Light (1988) – notierte Audre Lorde im August 1987, fünf Jahre vor ihrem vorzeitigen Tod: »Das Erfreuliche und Lebensbejahende in meinem Dasein hervorzuheben, ist von entscheidender Bedeutung. Was muß ich zurücklassen? Alte Lebensgewohnheiten, überholte Widerstände, die abgelegt wurden, damit sie nicht sinnlos Energien abschöpfen. Mit am schwer sten ist es, in Ungewißheit leben zu lernen und diese Ungewißheit weder zu leugnen noch sich dahinter zu verstecken.« Die Tatsachen, an die Lorde sich für die Aufgabe hält, in Ungewißheit zu leben und alte Lebensgewohnheiten zu verlernen, notiert sie nur wenige Seiten später. Es sind die letzten Sätze des Tagebuchs: »Ich arbeite, ich liebe, ich ruhe, ich sehe und lerne. Und ich berichte. Das sind meine gegebenen Tatsachen. Keine Sicherheiten, aber mit dem festen Glauben verknüpft, daß sie, ob mit oder ohne Freude gelebt, mein Leben verlängern. Und dies befähigt mich, die Ziele dieses Lebens mit größerer, wirksamerer Klarheit zu verfolgen.« Wie kaum eine andere im Denken des 20. Jahrhunderts hat Audre Lorde uns gelehrt, Differenz als unsere größte Stärke im Kampf für eine andere, tatsächlich bessere Welt zu begreifen. Lorde plädierte unermüdlich dafür, Differenz nicht zu negieren oder als etwas zu begreifen, was Menschen per se antagonistisch gegeneinander in Stellung bringt. Vielmehr sollten wir die Widersprüche, die aus der Art und Weise resultieren, wie Unterschiede in uns zusammenkommen, als Quelle des auch konfliktreichen Lernens verstehen. »Ich habe immer gewußt, daß ich meine anhaltenden Lektionen über den Unterschied lerne, indem ich sorgsam darauf achte, auf welche Weise die Unterschiede in mir zusammenkommen«, schreibt sie in Lichtflut. Im englischen Original, noch kompakter, schöner: Differences inside me lie down together. Gewissheiten verlernen, sorgsam unterscheiden und davon berichten: Voraussetzung, um das Neue zu ermöglichen. Audre Lordes Spur führt mich weiter zu Hannah Arendt. Deren Denken hat Marie-Luise Knott in dem schmalen Band Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt (2011) so beschrieben: »Wo die Gewissheit aufhört, beginnt das Denken, der Aufbruch des Wissenden ins Ungewisse.« Hannah Arendt denkt ohne Geländer. Jede Zeile ihres Werks bezeugt die Bereitschaft, »sich durch das andrängende Wirkliche verstören zu lassen«. Nimmt das, »was uns zustößt«, auf, um so neue Denkwege zu bestreiten, altes zu verlernen und neues erlernen zu können. Wie Lorde sucht auch Arendt nach Wegen, rückhaltlos gegenwärtig zu leben und Ungewissheiten weder zu leugnen noch sich hinter ihnen zu verstecken. »Ich arbeite, ich liebe, ich ruhe, ich sehe und lerne. Und ich berichte.« So hatte Lorde es notiert. Dies sind die Tatsachen, die ihr »Leben verlängern«, die Mittel, die ihr zu erkennen helfen, was dafür zurück zu lassen ist. »Wirklich leben heisst, diese Gegenwart zu realisieren […] und sie sich nicht in Vergangenheit und Zukunft auseinander schlagen lassen«, notiert Hannah Arendt im Juli 1950 im vierten Eintrag ihres Denktagebuch (2002). Erst wenige Wochen zuvor war sie zurückgekehrt von ihrer ersten Reise nach Europa und Deutschland »nach dem Weltenbrand«. Im Auftrag der Organisation Jewish Cultural Reconstruction hatte sie Deutschland bereist, um von den Nazis geraubte jüdische Archive, Handschriften, Bibliotheken und Kunstgegenstände aufzuspüren und wenn möglich zu restituieren. Deutschland hatte sie als tief gespaltenes Land erlebt. Besessen gleichermaßen vom Wiederaufbau wie davon, von der Katastrophe des Nationalsozialismus, von der eigenen Schuld und Verantwortung nichts wissen zu wollen. Doch gerade im Angesicht dieser Katastrophe beharrt Arendt auf radikaler Gegenwärtigkeit. Radikale Gegenwärtigkeit heißt für Arendt allerdings nicht, ohne Vergangenheit und Zukunft zu leben und denken: Ein Mittel unter vielen, die Gegenwart zu realisieren, sei gerade das »Nie-Vergessen«, notiert sie im selben Eintrag. Arendt ringt zeit ihres Denkens darum, wie ein – auch politischer – Neuanfang möglich ist, nachdem das radikal Böse, also das, »was nicht hätte passieren dürfen […] womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf«, wie sie im ersten Eintrag im Denktagebuch notiert, wirklich geworden war. Worum es ihr zu tun ist, ist ein Neuanfang, der nicht an die Vergangenheit gekettet, dennoch nicht aus dem Nichts geschöpft ist. »Wenn die Zukunft allen offenstehen soll«, schreibt Achille Mbembe mehr als ein halbes Jahrhundert nach Arendt, »muß es zuerst eine radikale Kritik der Voraussetzungen geben, die die Reproduktion der Unterwerfungsverhältnisse begünstigt haben«. Die »kommende Demokratie« sei die Demokratie, »die die Aufgabe ernst genommen hat, jenes imperiale Wissen zu dekonstruieren, das die Herrschaft über die nichteuropäischen Gesellschaften möglich gemacht hat«. Neu beginnen müssen wir also. Neu beginnen können wir. Doch der Neuanfang, die »kommende Demokratie«, ist auf Verlernen angewiesen, darauf, dass wir etwas radikal in Frage stellen. Dass wir zweifeln und zögern, dass wir unterscheiden und ver_lernen. Das Alte muss vergehen, Gewissheiten müssen verlernt werden. Beispielsweise die der naturgegebenen Ungleichheit der Geschlechter oder der Überlegenheit der weißen (männlichen) Europäer und der Inferiorität der Schwarzen. »Dominanzkultur« hat Birgit Rommelspacher das genannt: die Organisation unserer gesamten »Lebensweise, unserer Selbstinterpretation sowie der Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung«. Sie bestimmt »das Verhalten, die Einstellungen und Gefühle aller, die in einer Gesellschaft leben, und vermittelt zwischen den gesellschaftlichen und individuellen Strukturen«. Ein Muster, das in Zeiten der nationalautoritären Landnahme der Demokratie eine noch vor wenigen Jahren ungeahnte Virulenz erfahren hat. Dies gilt es, vergehen zu lassen! Und dafür müssen wir auch jene für Dominanzkultur zentrale Dimension, die das Individuelle und Soziale auf vielfältige und komplexe Weise miteinander verschaltende politische Ökonomie der Affekte in den Blick nehmen. Denn Über- oder Unterlegenheit ist nicht nur in die soziale Struktur unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder eingezeichnet, entscheidend dafür, wem welcher Platz im gesellschaftlichen Gefüge ›zusteht‹. Es ist auch eine Empfindung, ein Affekt, der »durch soziale Deutungsmuster, durch das erkennende Einordnen, was das im gesellschaftlich-kulturellen Kontext für eine Empfindung ist«, zu einem Gefühl wird, wie Andrea Maihofer ausführt. Emotionen tun etwas, sie öffnen den menschlichen Körper gegenüber anderen Körpern, sie tragen dazu bei, »dass sich manche Subjekte auf manche andere und gegen andere«, dass sie sich »auf Kollektive ausrichten«, wie Sara Ahmed sagt. Für die Konstitution eines ›wir‹, das von einem ›ihr Anderen‹ unterschieden ist, sind kollektive Gefühle wie ›Liebe‹ zum eigenen Land und ›Hass‹, Angst oder Abscheu gegenüber Fremden daher zentral: sie tragen zur Festigung von Kollektiven bei. Emotionen und Affekte stehen in Verbindung damit, »wie wir die Welt ›mit‹ anderen bewohnen«, schlussfolgert Ahmed. Gefühle sind nicht vorsozial, neutral oder authentisch, sie sind Teil des Politischen. Eingebunden in Macht- und Herrschaftsverhältnisse, übersetzen Affekte Machtverhältnisse in Alltagspraxen, helfen den Menschen dabei, sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und Kämpfe in denen sie leben, verständlich zu machen. Sie sind Teil des Alltagsbewusstseins der Menschen und Syntax ihrer Moral. Unter- und Überordnung, das was wir mögen oder ablehnen, was uns nah oder fern, vertraut oder fremd erscheint, was wir fürchten und worauf wir vertrauen, was wir nützlich finden und für schädlich halten, wofür wir uns verantwortlich fühlen und was uns nichts angeht, wird so für uns kenntlich als das, was wir als unser authentisches So-Sein empfinden und nicht als gesellschaftlich induziert. Es gibt vor, »was, wie und wo gefühlt wird«, welche »innere Logik« mit dem verschiedenen Gefühlsweisen verbunden ist, »welche Gefühle zugelassen, intelligibel und lebbar sind und für wen« und beeinflusst, wie »die hegemonialen Gefühlsweisen in sich hierarchisiert und sowohl klassen-, wie ›rassen‹-, als auch geschlechtsspezifisch differenziert und differenzierend sind und wirken«.
Unterscheiden
»Können Sie denn nicht sehen, was vor Ihnen ist?« Diese Frage sei ihm gelegentlich in gereiztem Ton gestellt worden, schreibt der Philosoph Nelson Goodman in Weisen der Welterzeugung (1984). Beantwortet habe er sie stets gleich: »Das kommt darauf an.« So sei etwa die Aussage, »die Erde bewegt sich«, ebenso wahr wie die Aussage, »die Erde steht still«, schließlich seien beide Aussagen abhängig vom jeweiligen Bezugsrahmen. Was auf den ersten Blick als radikal relativistische Position daherkommt, die den Unterschied zwischen Meinungen und Tatsachen nicht kennen will, ist vielmehr der Versuch, wie Goodman schreibt, »jene Fundamentalisten zu irritieren, die genau wissen, daß Fakten gefunden und nicht gemacht werden, daß Fakten die eine und einzige reale Welt konstituieren und daß Wissen darin besteht, an die Tatsachen zu glauben.« Goodmans Überlegungen sind ein Plädoyer dafür, zum einen die Bedingungen zu untersuchen, die die eine oder die andere Aussage ermöglichen, also tatsächlich zunächst einmal zu klären, was genau vor uns ist, und von wo aus etwas über die Welt gesagt wird – also Unterscheidungen zu treffen. Zum zweiten lässt sich von Goodman ausgehend darüber nachdenken, was es bedeutet, dass Tatsachen nicht einfach gegeben sind, mithin nicht außerhalb des Sozialen und von Geschichte existieren. Wir erzeugen Welten, also auch Tatsachen, schreibt Goodman, indem wir »mittels Wörtern, Zahlen, Bildern, Klängen oder irgendwelchen anderen Symbolen in irgendeinem Medium solche Versionen erzeugen.« Es genügt, so schon Nietzsche, »neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue ›Dinge‹ zu schaffen.« Das bedeutet nicht, eine absolute ›soziale Magie des Wortes‹ zu behaupten, sondern lediglich, festzustellen, dass die Wahrnehmung der Welt und wie wir sie bezeichnen, wesentlich das prägt, wie sie für uns wirklich ist und was wir wie wahrnehmen. Tatsachen und Sprache, Wahrnehmung und Wahrheit, Fakten und Deutung sind nicht nur miteinander verschränkt, sondern füreinander konstitutiv. Es gilt also, gleichermaßen Distanz zu halten zu jenen, für die sich die Welt in Meinungen erschöpft, wie zu jenen, die glauben, Wissen bestünde darin, an gegebene Tatsachen zu glauben. So dringend es ist – gegenwärtig mehr denn je – den Lügen unermüdlich mit Tatsachen zu begegnen, erschöpft sich Wirklichkeit dennoch nicht in diesen Fakten. Weil diese eben nicht die ganze Erfahrung ausmachen, ihnen Wirklichkeit erst hinzugefügt werden muss, wie Bruno Latour sagt, kann es folglich auch nicht allein um die Rehabilitierung von matters of fact gehen, sondern darum, zu verstehen, wie etwas zu einem »Ding von Belang«, einem matter of concern wird. Und damit etwas zu einem ›Ding von Belang‹ werden kann, ist vieles von Nöten: mediale Verarbeitungen, politische Reaktionen, kulturelle, religiöse, politische und andere Deutungen, moralische Anrufungen, polizeiliche Maßnahmen, rechtliche Regelungen, wissenschaftliche Expertisen, technische Innovationen, und vieles mehr. Obwohl viele zu wissen meinen, in welcher Wirklichkeit wir uns befinden, gilt es daher, zunächst einmal, ja: zu zögern und Unterscheidungen zu treffen. Neue Namen und Wahrscheinlichkeiten schaffen auf die Länge hin nicht nur neue Dinge; unsere Beschreibungen haben damit Teil an der Schaffung der Sichten der Welt, die immer, wie Pierre Bourdieu sagt, Sichten der Teilungen der Welt sind: Es sind Kategorien, die sich, so Ian Hacking, »Leute {zurecht} machen«. Worte tun etwas. Das kann gar nicht oft genug betont werden. Denn wo Deutungen zu kategorialen Klassifikationen gerinnen, fällen sie qualitative Urteile der Andersartigkeit über Personen und Gruppen und entscheiden so nicht nur symbolisch mit über Zugehörigkeit oder Ausschluss. Klassifikationen stellen Formen der sozialen Bewertung dar, sie sind Teil jenes gesellschaftlichen Wissensreservoirs, aus dem sich die Mitglieder einer Gesellschaft bedienen, um ihren Interpretationsbedarf rund um die Einordnung eigener und fremder Sozialpositionen decken. Mit denen sie also Urteile fällen, wem was zusteht, wem gegenüber wir verpflichtet sind und wer unserer Zuwendung nicht Wert ist. Der Ton, den zu hören wir hier lernen müssen, ist der Ton der Veranderung. Skandiert im Rhythmus von ›unterscheiden und herrschen‹. Die legitimierende Begleitmusik für Diskriminierung und Marginalisierung, Entwürdigung und Demütigung. Für die Unterscheidung eines ›Wir‹ von einem ›Ihr‹. Die Tonart, in der die Privilegien jener gerechtfertigt werden, die beanspruchen, zuerst da gewesen zu sein; in der das Mehr oder Weniger an sozialer Wertigkeit intoniert wird. Die Melodie des chauvinistischen »wir« sind besser, richtiger, letztlich menschlicher als »ihr«. Der Ton des Hasses, der Fremdmachung, der De-Humanisierung. Angestimmt nicht nur von jenen, die warnen vor »Überfremdung«, der »Islamisierung» oder »Genderisierung« des Abendlandes. Intoniert auch von jenen, die eigene Erfahrungen von Ausgrenzung mit Hass, Gewalt und der Verunglimpfung anderer beantworten und von jenen, die der Welt ihren fundamentalistischen Krieg erklärt haben und dafür weder vor Terror und Eroberung, vor Krieg und Zerstörung, vor sexueller Versklavung und Folter noch vor der Vernichtung des eigenen Lebens zurückschrecken. Ein Ton so alt wie die Moderne selbst. Denn am Beginn der bürgerlichen Demokratien stand das Dilemma, dass die bürgerliche Revolution zwar allen Menschen aufgrund ihrer natürlichen Gleichheit im Prinzip gleiche Rechte zugestanden hatte, als Rechtssubjekt der Menschen- und Bürgerrechte jedoch faktisch und juristisch (zunächst) nur der »mündige«, das heißt erwachsene, Steuern zahlende (weiße, heterosexuelle) Mann galt. Am Beginn der Moderne steht auch die Erfindung dessen, was Achille Mbembe das »Erscheinen des Rassenprinzips« und die langsame »Umwandlung dieses Prinzips in die privilegierte Matrix der Herrschaftspraktiken« nennt. Ein problematisches Erbe, das Europa bis heute im Griff hat. Und damit eine Existenzweise, ein Modus des In-der-Welt-Seins, an den wir alle – und zwar je unterschiedlich – gewöhnt sind. Teil des imperialen kulturellen Gedächtnisses »in the heads and hearts of people in the metropole«, so Ann Stoler. Klangfärbung auch im deutschen Alltag, übersetzt in Kommunikationsroutinen, körperliche Gesten und Gefühlsstrukturen, in Wahrnehmungsschemata und Bewertungsmuster, in Institutionen, Gesetze und Techniken, deren Spuren wir historisch verfolgen und deren Auswirkungen wir beschreiben können.
Zweifeln
Und genau deshalb dürfen wir uns nicht mit der fortwährenden, gewaltvollen Versämtlichung der Welt und der stetig neubelebten Konstruktion imaginärer Anderer gemein machen – und dies gilt für jede Form der Versämtlichung, egal unter welchem politischen Vorzeichen und zu welchem Zweck. Vermeintliche Evidenzen vordergründig gegebener, nicht-verhandelbarer, identitätsbasierter Differenzen müssen beständig befragt und in Frage gestellt werden. Differenzen, ob sie nun geschlechtliche, sexuelle, kulturelle oder ethnische Unterschiede markieren sollen, dürfen nicht als an-sich gegeben oder gar unveränderbar angenommen werden, sondern als realitätsmächtige Produkte von Kämpfen, die an historisch und institutionell spezifischen Schauplätzen ausgetragen wurden, zu entschlüsseln. Und das heißt zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger als zurückhaltender und bedachter mit definierenden Verallgemeinerungen umzugehen und Begrifflichkeiten zu wählen, die Differenzierungen auszudrücken erlauben. Es bedeutet, Aussagen über ›die‹ Frauen, ›die‹ Männer, ›die‹ Muslime, ›die‹ Schwarzen, aber auch ›die‹ Deutschen, ›die‹ Weißen, ›die‹ Heteros, ›die‹ Lesben nicht unwidersprochen stehen zu lassen. Mögliche oder vermeintliche Unterschiede nicht als unverrückbare Eigenschaften zu hypostasieren und zu fixieren. Differenzen zwischen Frauen, zwischen Männern ebenso ernst zu nehmen wie ihre Ähnlichkeiten, die es wiederum zu unterscheiden gilt von Uniformität, die Resultat von Deklassierung ist. Beständig danach zu fragen, wie wir sehen können, von wo aus wir sehen, welche Grenzen unsere Sicht hat. Also sehen zu lernen, was uns zu sehen gegeben wird. Wahrzunehmen, was wir gelernt haben wahrzunehmen und was uns vorenthalten wird. Aufmerksam werden für das, was wir entscheiden, auszublenden. Erkennen, was wir als das betrachten sollen, das uns etwas angeht. Diese Haltung des Zweifelns, nennen wir sie mit Arendt und ThürmerRohr: Freundschaft zur Welt, betrifft Denken und Handeln gleichermaßen – sofern wir Denken und Handeln überhaupt als unterschiedliche Praxen verstehen wollen. Sie zögert im Urteil, ohne gleichgültig zu sein. Sie bleibt skeptisch gegenüber den affektiven Reflexen, ohne diese zynisch zu verwerfen. Sie sucht das Bekannte zu verlernen, die Dinge aus anderen Perspektiven als der eigenen neu zu betrachten, und damit die je eigene Wahrnehmung von Welt zu erweitern. »Erweiterte Denkungsart«, die Fähigkeit, die Perspektive der Anderen einzunehmen, nannte Hannah Arendt eine solche Haltung. Statt eiligen Diagnosen, die gegenwärtig wie im Akkord produziert werden, um in der intensivierten »Ökonomie der Aufmerksamkeit« Mehrwert zu generieren, gilt es, auf den Zweifel zu vertrauen, auf die Anfechtung dessen, was Pierre Bourdieu Doxa nennt, also das als selbstverständlich und fraglos Hingenommene. Statt Zusammenhänge zu insinuieren, gilt es, danach zu fragen, was in einen Zusammenhang gebracht wird, und folglich als gesellschaftlicher »Notstand« gilt. Welcher ›Notstand‹ wird beispielsweise nahegelegt, wenn es heißt, der Liberalismus der Identität habe die soziale Frage an den Rand gedrängt und ein Zuviel an Political Correctness, eine zu starke Berücksichtigung der Belange sexueller, geschlechtlicher und von Rassismus betroffener Minderheiten den Rechtspopulismus erst ermöglicht? Um welchen ›Notstand‹ geht es, wenn die mit Einwanderung und Integration verbundenen Herausforderungen vor allem als Frage der inneren Sicherheit verhandelt und mit einer Kleiderpolizei gelöst werden sollen? Wenn Terror, Gefährder und Islam inzwischen zu einer unauflöslich scheinenden Einheit verschmolzen sind, während die längst endemisch gewordene rechte Gewalt entweder – wie die Morde des NSU – nicht als solche wahrgenommen oder allzu oft als nicht ideologisch motivierte Tat Einzelner bewertet wird? Auf welchen ›Notstand‹ wird reagiert, wenn die Rede davon ist, Deutschland sei ein gespaltenes Land beziehungsweise eine Gesellschaft, in der »die kollektive Angst vor dem sozialen Abstieg allgegenwärtig« sei und diese die Bürger und Bürgerinnen in die Arme von Pegida und AfD treibe? Ist die Verbitterung der sich abgehängt fühlenden, mehrheitlich weißen, heterosexuell lebenden, autochthonen Mittelschichten die einzige, die zählt? Wessen Prekarität und Gefährdung wird hier Anlass zur Sorge? Sind die dominant zirkulierenden Beschreibungen daher tatsächlich Beschreibungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen »Notstands«, auf den es zu antworten gilt? Stellen sie Antworten dar auf die großen Fragen, in welcher Gesellschaft wir denn nun eigentlich leben, was diese zusammenhält, welche Zusammenhänge zwischen Ungleichheit, Herrschaft, Integration und Konflikt bestehen, wie das soziale Band neu zu begründen wäre? Wer mithin Komplexitätsreduktion nicht für eine angemessene Strategie hält, wer sich nicht damit zufriedengeben will, Gefühle gegen Statistiken, Zahlen gegen Affekte auszuspielen, wird nicht umhinkommen, sich den Dingen von Belang, den Dingen, die uns angehen, mit Leidenschaft und Empathie zuzuwenden. Dabei sind, selbstredend, Empfindsamkeit und Aufmerksamkeit, Empathie und Mitleid, Moral und Sorge weder kontextfreie noch moralisch unschuldige Kategorien, wie Christina Thürmer-Rohr im kritischen Blick auf die Verstrickungen von Weiblichkeit, Feminismus und patriarchale Herrschaft analysiert hat. Im Gegenteil: Sie sind Bestandteile einer Beziehungsmoral, schön nur als Abstrakta. Auch jene Kategorien der Moral, der Würde und des Respekts gilt es unablässig kritisch zu durchqueren – gerade, weil wir für die dringende Wiederbelebung der Demokratie nicht auf sie verzichten können. »An welchem sozialen Ort« also werden Empathie, Sorge und Mitleid präsent? »Wem dienen sie, wem nützen sie, wer mobilisiert sie? Wem gegenüber versagen sie, brechen sie? Wem gegenüber kehren sie sich in ihr Gegenteil?«
Zögern und: handeln
Ich bin, vorläufig, am Ende meiner Spurensuche angelangt. Wenn es gilt, die alte Ordnung zwar zu vergessen, wir dennoch »der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien« entwickeln müssen, muss die Frage, wessen und welches Handeln ermöglicht und wessen und welches Handeln verunmöglicht wird, so exakt wie möglich beantwortet werden. Und dazu gehört zwingend, die Dinge erstens von den Kräften her zu verstehen, die nicht nur auf sie einwirken, sondern sie konstituieren, die Dinge also als materiell bedingt und politisch reguliert zu begreifen; zweitens unser Sein als innerhalb von widersprüchlich ineinander verschränkten Machtgefügen positioniertes Sein zu begreifen, und schließlich drittens die historisch je spezifischen Weisen zu untersuchen, wie wir regiert werden, zu welcher Art Subjekten wir also gemacht werden – beispielsweise zu Subjekten, die eine bestimmte Form von Freiheit begehren – und was wir demnach wollen können. Kontinuierlich Rechenschaft darüber abzulegen, wie wir Gewissheiten für bare Münze nehmen statt uns vom andrängenden Wirklichen verstören zu lassen, wie Welt und Sozialität imaginiert, geformt und aufrechterhalten wird, wie wir in Dominanzverhältnisse eingeübt werden und uns in ihnen einrichten, um so Wege zu finden, die aus diesen Verhältnissen hinausführen. Ist dies die intellektuelle Aufgabe der Kritik, so besteht die politische Aufgabe darin, der neuen demokratischen Sozialität eine Gestalt zu verleihen, die ein Leben mit anderen ermöglicht. Gerade weil wir uns im historischen Überhang global verflochtener Herrschaftszusammenhänge als ungleich Positionierte begegnen, gilt es, nicht-nostalgische, dem Ressentiment und der Feindschaft aktiv entsagende Entwürfe von Gemeinschaft zu erfinden. Und dies gerade, weil nicht Wenige der Meinung sind, es könnten nicht alle berücksichtigt werden und wir könnten nur gegenüber den Angehörigen der »eigenen« Gruppe solidarisch sein. Was es für das Zusammenleben in pluralistischen Demokratien dagegen nicht braucht, ist eine Politik, die die Tat zum Wert an sich erhebt. Die weder reflexiv abwägt, noch differenziert begründet. Die das Gewinnen und nicht etwa die beste Lösung oder die innovative Vision zum Maßstab des Politischen macht. Und die alles verachtet, was nach Schwäche aussieht. Was es nicht braucht, ist ein Dezisionismus, der sich von Abwertung, Rache und Antagonismus nährt und von Empathie nichts wissen will. Was es vielmehr braucht, ist Offenheit für die Welt und die Bereitschaft, sich von dem, was sich in ihr ereignet, berührt und bewegt zu werden. Was es braucht, ist eine Grammatik für das Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen. Was es braucht, ist ein Ethos der Begegnung mit den Anderen ohne deren Andersheit auszulöschen. Was es braucht, ist, dort zu zögern, wo die Tat die Begegnung verdrängt. Und das heißt auch: zu handeln, wo die Tat die Begegnung vernichtet. »Ich arbeite, ich liebe, ich ruhe, ich sehe und lerne. Und ich berichte.« Das hatte Audre Lorde wenige Jahre vor ihrem Tod als »gegebene Tatsachen« ihres Lebens aufgeschrieben. Hannah Arendt hatte für sich notiert, wirklich zu leben hieße, »diese Gegenwart zu realisieren«. Denn es ist »diese ganze verrottete Gegenwart«, wie Christina Thürmer-Rohr Jahrzehnte später schreibt, die »unsere einzige Gelegenheit« ist: Das »Leben, das wir haben« und das »den Stoff« birgt, um unsere Kräfte zu entwickeln«.