Im Allgemeinen wird die Geschichte der Befreiung in der Moderne gerne mit den berühmten drei Forderungen der französischen Revolution begonnen, wie man sie für unsere Bedürfnisse umformuliert hat: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Eine ziemlich vertrackte Trialektik, wie wir mittlerweile wissen. Das eine kommt dem anderen immer wieder in die Quere, und zugleich ist eines ohne das andere nichts wert. Natürlich ist in einem größeren Blickfeld diese Zäsur in gewisser Weise willkürlich; sie beschreibt eher eine Kapitalüberschrift als einen Romananfang. Unsere Geschichte indes beginnt viel früher, nämlich mit der Unterwerfung irgendeines Menschen unter den Willen eines anderen Menschen, und damit, dass aus dieser Unterwerfung nicht nur augenblicklicher Vorteil sondern Struktur, Recht, Tradition, Bild, Erzählung, Begriff und Geschichte werden sollte, sogar Religion, Staat, Wissenschaft. Damit verschieben wir, ganz nebenbei gesagt, jede Analogie zur Affenhorde oder zum Wolfsrudel positiv in den Bereich der poetischen Metapher, negativ in den Bereich der Ideologie.
Unsere Geschichte beginnt damit, dass sich die Menschen in den unterschiedlichsten Formen und Kulturen in Herren und Sklaven aufteilen. Man wird später vielleicht von Regierenden und Regierten sprechen, von Besitzern und Arbeitern, von Gewinnern und Verlierern, von Regeln und jenen, die sie befolgen, und man wird es als Geschichte, Fortschritt und Erkenntnis beschreiben, dass sich der Status von Herren und Sklaven stets aufs Neue und zum Besseren gewandelt hat. Einerseits zur Steigerung der Produktivität der Sklaven, andererseits zu besseren Lebensbedingungen und zum dritten, vielleicht, zur Minderung des Gewaltanteils zwischen Herren und Sklaven. Natürlich nicht überall! Wir müssen gar nicht sehr weit blicken, um Verhältnisse zu sehen, in denen Menschen in ganz direkter Weise unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten und leben, rechtlos, ausgebeutet und verachtet. Und natürlich nicht vollständig, denn mit jeder neuen Form von Befreiung erscheinen auch neue, mal subtilere, mal brutalere Formen von Kontrolle und Zwang. Die Paradoxie ist klar: Der Wunsch nach Befreiung ist der Motor des Fortschritts, sein Medium aber ist die erneute Versklavung. Fortschritt ist mit anderen Worten nichts anderes als die Verbindung zweier Energien, nämlich der Energie, die aus dem Wunsch und der Arbeit entsteht, sich aus der Abhängigkeit zu befreien, und aus der Energie, die aus der Macht und den Diskursen entsteht, neue Formen der Versklavung zu entfalten.
Um uns von einem Bild von uns selbst zu befreien, das nicht mehr recht verbergen kann, wie viel Lüge, Illusion und Dummheiten es birgt, schlugen wir einen Perspektivwechsel vor. Nicht die heroische, idealistische, triumphalistische Geschichte der Befreiungen, die, sagen wir, von einer feudalen Sklavenhaltergesellschaft über etliche Umwege zur modernen, aufgeklärten Demokratie mit ihren Bürgerrechten und dem freien Markt führt, wollten und konnten wir schreiben, sondern die Geschichte der sich fortzeugenden, wandelnden Unfreiheit, der transformierten Ausbeutung und der neuen Ästhetiken der Verachtung wollten und mussten wir schreiben. Die Geschichte unserer Unfreiheit. Wie man sich in der Dialektik von Freiheit und Kontrolle eher den jeweils neuesten Herrschafts- und Besitzformen anpasst, anstelle eines Weges des Menschen zu sich selbst, wie er utopisch und transzendental, ästhetisch und experimentell, philosophisch und musisch durch unsere Diskurse spukt, schien uns Anlass für eine Geschichte der Nichtbefreiung. Wir wählten die Figur des nicht zu Ende befreiten Sklaven, den wir als Exempel und Experiment durch die Jahrhunderte, durch die Kulturen und Ideen, durch die Religionen und Philosophien schickten, als Leitmotiv einer ziemlich beharrlichen Suche nach den Wurzeln unserer Unfreiheit. Natürlich wählten wir ein ganz besonderes Exemplar des nicht zu Ende befreiten Sklaven für unsere Reise aus, nämlich einen, der mit der Gnade und dem Schmerz behaftet ist, über die eigene Situation nachzudenken. Und dafür gönnten wir ihm etwas, was den realen Sklaven und ihren Nachkommen selten vergönnt ist, was vielen nicht zu Ende befreiten Sklaven gar nicht in den Sinn kommt oder wovor sie sich eher fürchten müssen. Wir ließen ihn sich unter einen Baum setzen und nachdenken. Das Nachdenken ist immer beides, es ist ein Trost, weil es beweist, dass man nicht vollständiges Opfer der Verhältnisse ist, und es vertieft den Schmerz, weil es an die Wunden erinnert, die man sich und anderen beigebracht hat, und weil es das Ausmaß der Unterwerfung erkennen lässt.
Was verändert sich, wenn wir uns nicht als Repräsentanten, Nutznießer oder Kritiker eines Systems erkennen, das bekanntlich unvollkommen aber, frei nach Candides ironischer Lebenserfahrung, das beste aller möglichen Systeme zu sein hat, sondern als nicht zu Ende befreite Sklaven, als Nachfahren nicht zu Ende befreiter Sklaven, die ihrerseits nicht zu Ende befreite Sklaven zu Eltern und Vorläufern hatten, so wie wir, mit welchen Gefühlen und Gedanken auch immer, wiederum nicht zu Ende befreite Sklaven ins Leben entlassen. Mal mit dem Empfinden: Nun, ein kleiner Schritt in Richtung Befreiung hat ja doch stattgefunden, oder?, Mal mit dem Empfinden: Man wird auch Rückschläge nicht als Ende der Geschichte begreifen. Dass wir, unter den nicht zu Ende befreiten Sklaven, diejenigen sind, die manchmal unter einem Baum sitzen und nachdenken, während es andere nicht tun, und wieder andere sogar wollüstig die Peitschen schwingen, die Sklaven an die Wahrheit ihres Daseins erinnern, macht uns weder zu besseren Menschen noch zu solchen, die besser dran sind. Wir können noch nicht einmal sicher sein, dass dieses Nachdenken nicht Teil unserer speziellen Sklavenarbeit ist, und dass wir mit den Früchten dieses Nachdenkens am Ende nicht vor allem wieder die Herrschaft füttern, die sich gerade eine neue Maske anlegt. Unsere Hoffnung bleibt, dass das Denken immer wieder aus der Groteske und der Tragödie hinaus kommt zum Utopischen. Die Kontrolle der Herrschaft ist wie unsere Freiheit nie absolut, sie ist relativ. Weshalb das Nachdenken des nicht zu Ende befreiten Sklaven den Zorn auf die Herren und auf die Herrschaft immer nur streift, die Trauer über die eigene Begrenzung und Blindheit aber zum Wesentlichen macht. Ich bin, mag der nicht zu Ende befreite Sklave zu recht denken, das Spiegelbild der Interessen, Wünsche und Ängste des Herrn (wie immer er gerade aussehen mag). Aber dann kommt ihm der andere Gedanke: Der Herr ist das Spiegelbild meiner Ängste, Wünsche und Interessen. Ich würde ihm womöglich weiter dienen, wenn er längst nicht mehr existierte, ich würde ihn mir womöglich erfinden, wenn ich ihn nicht wirklich spürte. Ich bin in seinem Bild. Ich bin in seiner Erzählung. Ich bin in seiner Sprache. Aber nicht ganz und gar. Nicht für immer und ewig. So sprach der Baum zu dem nicht zu Ende befreiten Sklaven, der in seinem Schatten saß und nachdachte.
Wir stehen, dachte nun der nicht zu Ende befreite Sklave, in einer Grammatik des Fortschritts, und die mit ihr errichtete Erzählung verbindet die widersprüchlichsten Kulturen, Religionen, Ideen, Künste und Techniken. Sie besteht aus einer horizontalen und einer vertikalen Bestimmung. In der horizontalen Linie glaubt jede Kultur, etwas besonderes zu sein, zugleich aber mit den anderen Kulturen in einem Wettbewerb und schließlich gar in einem Überlebenskampf mit ihnen zu stecken. Eine Kultur, die sich im Überlebenskampf mit anderen befindet, ist aber zugleich die Grundlage jeder strukturierten und mehr oder weniger gewaltsamen inneren Ordnung. Wenn du mir nicht gehorchst, sagt der Herr, dann kommen die anderen, und die anderen sind nicht nur schlimmer als ich, sie nehmen dir auch noch dieses letzte Gut, nämlich die Gewissheit zu etwas Besonderem zu gehören. Im Zweifelsfall schreit schließlich der nicht zu Ende befreite Sklave nach einem gestrengen Herrn, der ihn vor diesen anderen, vor dem Verlust der Besonderheit, vor dem Ende seiner Kultur rettet. Diese Kultur nun freilich war ja nie die seine, und sie wird es nie werden, denn sie ist die Kultur des Herrn. Nicht nur in dem Sinne, dass der Herr seine kulturellen Bedürfnisse auf dem Rücken der Sklaven befriedigen kann, sich also Pyramiden, Mauern, Festspielhäuser oder Flughäfen bauen kann, die seinen Namen tragen, sondern auch in dem Sinne, dass er eine Kultur befielt, die ganz präzise auf das Verhältnis von aktueller Herrschaft und aktueller Sklaverei abgestimmt ist. Das Versprechen, zu etwas Besonderem zu gehören, ist indirekt das Versprechen, nicht selbst primäres Objekt der Versklavung zu sein, sondern die anderen, die Fremden, die Wilden, die Wertloseren versklaven zu können. Dies ist die erste Illusion der Befreiung durch Gewalt; statt seiner selbst soll der andere der wertlose Mensch sein. Indem du für mich kämpfst, sagt der Herr, hast du einen Teil der Freiheit über deinen Körper, den du den anderen nehmen darfst. Diese Illusion wird immer enttäuscht (und scheint doch immer wieder auf): Jede Form von Krieg, Kolonialismus und kollektiver Aggression wirkt auf die Verhältnisse im Inneren zurück; der Krieg kehrt in die Gesellschaft zurück, auf den äußeren Kolonialismus folgt, wie Rosa Luxemburg gezeigt hat, die innere Kolonialisierung.
Den Herrn können wir uns als Person darstellen, als den Fürsten im Sinne Macchiavellis, als Fabrikbesitzer oder Konzernherrn, ebenso gut aber auch als transzendentale Macht, in Form von Göttern oder ewigen Gewissheiten, in Form einer Ideologie, in Form des Mythos (das war immer so und das gehört sich so), in Form einer herrschenden Klasse, in Form eines Prinzips, sagen wir des Prinzips von Aufstiegshoffnung und Abstiegsangst, als mediale Installation, Big Brother im Zeitalter seiner technischen Realisierbarkeit usw. Die augenblickliche Vorstellung, nicht nur in der Science Fiction, sieht den Herrn in Form einer Maschine, einer intelligenten Maschine, die freilich nicht haben kann, was man in der Menschengeschichte Bewusstsein, Seele, Moral oder Liebe nannte. Vielleicht als Kapital, das Kapitalisten nur noch als Charaktermasken braucht, die der Herrschaft von Algorithmen auf ihrer Yacht oder ihrem Golfclub ein menschliches Bild liefern, das von den entsprechenden Blödmaschinen gern verbreitet wird. Aber all das sind nur Erscheinungsformen, Metaphern, Konkretisierungen eines fundamentalen Prinzips der dreifachen Differenz: durch Macht (also im Kern durch Gewalt), durch Ökonomie (also im Kern durch die Verstetigung und Rationalisierung von Gewalt) und durch Kultur (also im Kern durch die Rechtfertigung und Ästhetisierung von Gewalt). Wenn wir diese drei miteinander verbundenen Prinzipien der Differenz als naturgegeben, gottgewollt oder im Programm des Menschseins angelegt erachten, so dachte der nicht zu Ende befreite Sklave, lohnt es sich nicht wirklich, groß weiter über unser Los nachzudenken. Dann ist es eben so, wie es ist, und man sollte das Beste daraus machen. Dann geht es im besten Falle nur darum, die negativen Folgen für möglichst viele möglichst gering zu halten, und im schlimmsten Falle geht es darum, mit aller Macht und, wenn es sein muss, gegen alle Vernunft und gegen alle Moral auf die Seite der Sieger, auf die Teilhabe an der Besonderheit, und vielleicht auch an der Beute beim Sieg über die Konkurrenzkultur zu partizipieren.
Aber das erste ist mir zu fade, und das zweite verbietet mir mein Anstand, den ich als letzte Kraft der Eigenständigkeit gegen die Wünsche des Herrn bewahrt und entwickelt habe. Dachte der nicht zu Ende befreite Sklave. Ich kann nun mal die Welt nicht hinnehmen, und ich glaube an die Veränderbarkeit von allem, was Menschen einmal gemacht haben. Darum denke ich mir eine Kultur, die nicht darauf aus ist, über alle anderen hinaus zu wachsen, sie zu bezwingen oder sich gegen sie zur Wehr zu setzen.
Der nicht zu Ende befreite Sklave dachte an Jakob Burckhardt und seine „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier, und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also andere unglücklich machen“. Oh wie wahr das ist, dachte er, ich besehe sie mir doch, die Mächtigen, und alle, die an ihnen leiden. Niemand kommt ihnen doch so nahe wie die Sklaven. Und doch: Wie sollte ich mich von ihnen befreien, ohne Macht? Ich müsste, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave, wohl nicht allein das Erzählte, sondern das Erzählen verändern, an einen Ort also gelangen, der vor oder nach der Geschichte von Macht, Gegenmacht und Widermacht liegt. Ich nenne ihn Utopia. Oder ich nenne ihn Heimat. Darauf soll es mir nicht ankommen.
Die Voraussetzung dafür, dass der einzelne Mensch frei sein kann, nicht im Sinne der negativen Freiheit des bedingten Laissez-faire, sondern im positiven Sinne als Gestalter des eigenen Lebens, ist also, dass die Erzählung vom Wettbewerb, von der Verdrängung, ja von der Vernichtung einer Kultur durch die andere, überwinden wird. Dieser furchtbare Gedanke betrifft auch mich selbst, wenn ich nur die Wahl habe, mich als freier Mensch auf die Seite des Herrn zu schlagen - oder ihn mit seinen eigenen Waffen schlage - oder wenn ich meine Kultur, die Kultur der Sklaven, die Kultur des Wunsches nach Befreiung, die Kultur des Widerstands, befreie, indem ich mich wiederum als Mensch in den Dienst dieser Kultur stelle und meine Freiheit wieder verliere. Und wäre dies alles im Sinne einer dialektischen Geschichte notwendig, so enthielte dies doch die Gewissheit, dass ich den Ort der Freiheit niemals erlangen werde, weil jeder neue Schritt die alte Gewalt und Ausbeutung in sich aufgehoben habe. Meine Geschichte darf also weder Natur noch Mechanik sein, wenn ich noch hoffen will.
Was nutzt mich meine Toleranz, wenn die andere Kultur sie als Schwäche auslegt? Könnte etwa eine Kultur allein den Wettbewerb der Kulturen für beendet erklären? Fallen nicht alle Kulturen über eine Kultur her, die beschließt, nicht mehr gegen die anderen zu kämpfen? Vielleicht, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave, kann es eine Kultur ohne Angst, ohne Verachtung, ohne Expansionsdrang durchaus geben - natürlich schwierig, denn auch eine demokratische, liberale, rechtsstaatliche und aufgeklärte Kultur hält sich ja für die einzig richtige und daher notwendig zu verbreitende - vorausgesetzt sie sei ihrer selbst bewusst und sicher.
Der Wettbewerb der Kulturen, ihre scheinbar unwiderstehliche Tendenz, sich auszubreiten und der anderen Terrain, Ressourcen, Ideen oder Glück zu rauben, das ist offensichtlich, so dachte der nicht zu Ende befreite Sklave weiter, eben das, was man Geschichte nennt. Da ich mich weder als Person noch als Klasse, Kultur, Ideologie oder sonst eine kollektive Identität befreien kann, ohne das jeweils andere zu verlieren, bliebe mir als Ausweg, ganz einfach aus der Geschichte - aus dieser Geschichte vom Kampf der Kulturen jedenfalls - auszusteigen. Ich gehöre nicht dazu, ich stehe darüber oder daneben, ich lasse mir den Geist nicht von dieser Geschichte vernebeln, nennt mich heilig, nennt mich verrückt, oder habt ihr etwa Angst, dass schon einer, der bloß nicht mitmacht, gefährlich genug ist, dass man ihn behandeln, einsperren oder ermorden muss?
Wer nicht mitmacht, gehört nicht bloß nicht nur zu uns, er ist schlimmer als ein Feind, er ist eine Kraft der Verunklarung, der Uneindeutigkeit, der Ungewissheit, der Auflösung. Wer nicht mitmacht, ist ein innerer Feind, das Parasitäre, Zersetzende, Vermischende. Man kann daher einen Sklaven nicht einfach in diese Idee der Abwesenheit befreien, er muss sich ganz und gar zu uns bekannt haben, wenn wir ihn nicht zu den Feinden schicken können, als Handels- oder Diplomatenware. Der Sklave darf nicht allein deswegen nicht befreit werden, weil der Herr seinen Zorn, seine Rache, oft aber vor allem sein Wissen, seinen Blick, seine Erkenntnis fürchten muss, sondern auch deswegen, weil er den Kampf der Kulturen in Frage stellen würde.
Die Geschichte nämlich, so dachte der nicht zu Ende befreite Sklave, ist der zweite wesentliche Faktor für die Identifikation. Zur horizontalen Identifikation (wir und die anderen) kommt die vertikale (die nächste Generation auf einem vorgezeichneten Weg zur Erfüllung der beiden Prophezeiungen: Ihr sollt es einmal besser haben, und: Ihr sollt es einmal besser machen.) So wie die Grenzen eines Landes, die Bezeichnungen in einer Sprache und die Euphorie und der Ekel in einem kulinarischen Code, so bezeichnet auch das Was-War, Was-Ist und Was-Sein-Wird ein eigenes, woran ich weniger real, also in Form von Politik und Ökonomie, also Macht und Reichtum, sondern eher symbolisch, also durch Empfindung und Geschmack Anteil habe. Man nennt auch das Heimat. Am Ursprung jeden Sklavendaseins steht der Verlust von Heimat, so oder so. Aber zugleich ist auch der unfreieste Mensch an die symbolische Ordnung in Ort und Zeit gebunden. Selbst der Rechtlose hat eine Geschichte, selbst der Besitzlose hat einen Ort, die sie auf eine eigene Art ihr eigen nennen. Die Rolle, die man spielt, der Platz, an den man gehört, eine relative Form von Sicherheit. Es ist nicht der Herr, es ist nicht der Besitzende, nicht der Kolonialist und nicht der Missionar, die Heimat brauchen. Heimat ist immer das Fehlende, das man mit einer mythischen, ästhetischen, semantischen Hülle umgibt. Heimat, süße Heimat. Es ist der Trick der Herrschaft, die nicht zu Ende befreiten Sklaven an Geschichte und Territorium vermittels der Heimat zu binden, die ihre Recht- und Besitzlosigkeit ausdrücken. Um die Welt in Besitz zu verwandeln, verspricht der Herr den Sklaven Heimat; Heimat freilich wäre erst, wenn wir Ernst Bloch vertrauen, eine Welt ohne Besitz. Aber wie, wenn nicht durch symbolische Bindung an Ort und Geschichte könnte der Herr den eben nur halb befreiten Sklaven dazu bringen, ihn für Gespenster und Träume zum Arbeiten oder auch zum Kriegsdienst zu zwingen?
Der nicht zu Ende befreite Sklave soll also glauben, dass ein Territorium, das nicht das seine ist, zur Heimat werden kann, und dass eine Geschichte, die nichts anderes als die seiner Versklavung ist, zu seiner Wiedergeburt als Identität werden könnte. Denn alles Handeln und Denken hat immer die drei Aufgaben: Die gleichzeitige Veränderung und Erhaltung der Vergangenheit, dergestalt, dass die Gegenwart immer logische Konsequenz der Vergangenheit ist und von dieser Vergangenheit immer etwas mitgenommen werden kann. Die gleichzeitige Erkenntnis und Verdrängung der Gegenwärtigkeit. Sklave ist nicht nur, wer in der Gegenwart recht- und besitzlos ist, ausgebeutet und geschlagen werden kann, Sklave ist auch, wem man die Geschichte geraubt hat, und wem man keine Zukunft zubilligt, unter anderem schon durch ein Ver- oder Gebot der Heirat und der Reproduktion, durch die Spaltung von Familien und die Entwendung der Kinder. Und später, allgemeiner, durch das, was man Biopolitik nennt. Sklave noch ist jener Mensch, der weder über seinen Körper noch über seine mikrosoziale Organisation bestimmen kann. So wie Sklave jener ist, der weder über seine Ideen noch über seine Träume verfügen kann. Der Fortschritt indes, lag weniger in der Veränderung der Techniken und Ziele der Versklavung als vielmehr in ihrem Subjekt. Die neuen Herren konnten von sich behaupten, etwas vernünftiger, etwas moralischer zu sein als ihre Vorgänger, ja, es wurden Kriege geführt, die einer Veränderung des Sklavenstatus dienen sollten. In Wirklichkeit dienten sie natürlich der Veränderung des Herren-Status.
Die Schlüsselfrage also ist, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave: Wem gehört mein Körper? Was an ihm mir gehört, ist leicht zu bestimmen. Ich will nicht sterben. Ich möchte Schmerzen und Leiden vermeiden. Und mein Körper soll die Fähigkeit nicht verlieren, Lust zu empfinden. Aber er gehört eben auch dem Herrn. Der will, dass er seinem Willen gefügig ist, dass sein Nutzen größer ist, als das, was man in ihn hineinstecken muss, damit er funktioniert. Und er soll seine Ordnung nicht stören. Aber dann gehört mein Körper auch der Natur. Das heißt, er wird sterben, er leidet und er kann seine Lust nicht wirklich steuern. Und schließlich gehört mein Körper auch den anderen. Auch sie wollen den Nutzen, sie wollen vor allem nicht unter ihm leiden, vielleicht auch nicht mit ihm, sie wollen dass ich meinen Körper so versorge, wie sie es tun, wie es der Brauch ist. Nicht einmal der Herr ist wirklich der Herr seines Körpers. Und nicht einmal der Sklave ist wirklich ohne eine letzte Verfügung über ihn. So gibt es die unterschiedlichsten Formen, diesen Körper in etwas zu verwandeln, was Mehr-als-Körper oder Weniger-als-Körper ist. In zwei Formen erreicht man da ein Extrem, nämlich wenn man den eigenen Körper als seinen Herrn betrachtet, dem man zu gehorchen hat, oder wenn man den eigenen Körper als letzte Form des Sklaven betrachtet, den man zum Gehorsam zwingen muss.
Die Grundfigur der Versklavung liegt darin, den Menschen zu einem Ding zu machen. Ein Arbeitsinstrument, ein Bild der Macht und des Glanzes, ein Wertobjekt, das so sehr einen Gebrauchs- wie einen Tauschwert aufweist, eine Figur, die man nach Lust und Laune zerbrechen, ausschmücken oder verbiegen kann. Insofern lässt sich die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie, die die Menschen stets tötete, nachdem man sie aller Person, aller Geschichte, der Namen und persönlichen Habe, der Würde und der Hoffnung beraubt hatte, auch als eine in die letzte Phase der Unmenschlichkeit gesteigerte Versklavungsoperation ansehen, nicht so sehr als Arbeitsinstrument wurde das Opfer verwendet, sondern als Abbild der eigenen absoluten Macht über Leben und Tod. Jede Form von Rassismus, auch der eliminatorische Antisemitismus der Nationalsozialisten, steht auch in einer Form der Versklavungsgeschichte. Er rechtfertigt Versklavung in ihrer politischen, in ihrer ökonomischen wie in ihrer kulturellen Art, und er drückt zugleich die panische Angst vor einer Befreiung aus. Wenn die Freiheit des einen nicht einfach die Versklavung des anderen bedeuten soll, dann nämlich lässt sie sich nur durch Kontrolle realisieren, Kontrolle aber kommt von Macht und erzeugt Macht, also Unfreiheit. Daher arbeiten wir beständig am locus of control, dem Ort und dem Subjekt der Kontrolle und wechseln ebenso beständig zwischen zwei Formen der Totalität: die tyrannische Kontrolle aller durch ein Super-Subjekt der Kontrolle, den Big Brother, die Partei, den Herrschercomputer, den digitalen Superkonzern amagoogleface zum Beispiel, oder die demokratische Kontrolle aller durch alle, bis hin zur höllischen Vision der elektronischen Form der calvinistischen Stadt, in der jeder jeden bespitzelt, maßregelt und denunziert. Beides keine erfreulichen Aussichten. So scheint es für alle besser, in einem Zwischendrin zu verharren, und wenn es mit einer liberalen Form nicht geht, dann eben mit einer so oder so faschisierten Form. Warum wir uns nicht zu Ende befreien können, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave, ist das eine, das andere ist, warum wir uns nicht zu Ende befreien wollen. Es gibt so viele Gründe dafür, nur zum Beispiel:
Die Folgen der Restauration des Kampfes der Kulturen, der Nationen, der Religionen und der, man sollte es kaum glauben, der Rassen und Geschlechter werden immer erst mit einer zeitlichen Verzögerung sichtbar. Die Nutznießer haben dann ihre Beute gemacht, die Verblendeten sehen sich bestätigt, die Opportunisten lassen sich beruhigen.
Es gibt eine Reihe von schrecklichen Kontinuitäten wie zum Beispiel die Funktion des Sündenbocks. Der Herr hat für den nicht zu Ende befreiten Sklaven noch eine furchtbare Macht auf Lager, nämlich die Erlaubnis zu hassen.
Macht reicht nicht allein von oben nach unten (und in einem komplizierten Spiel auch in umgekehrter Richtung) sondern vor allem seitwärts: Der Blick des Herrn spiegelt sich im Blick des nächsten, von dem wir nicht wissen, wie sehr er in dessen Diensten steht. Als Sklave kann man zweimal leiden, einmal, weil man sich beim Herrn unbeliebt macht, und zum anderen, weil man sich bei den anderen Sklaven unbeliebt macht. Soziale Einrichtungen wie zum Beispiel die Schule, das Militär, das Gefängnis usw. funktionieren als Disziplinierungs- und Kontrollmaschinen, als soziale Versklavungsmetaphern, ebenso: Die Drohung von oben ist so wirksam wie die Drohung von der Seite. Gefängnisse etwa funktionieren heute kaum noch so wie die Foucaultschen Überwachungsmaschinen als vielmehr hermetisch geschlossene Zerstörungsmaschinen. Die größte Drohung des Herrn ist, sich zurückzuziehen und die versklavten Menschen sich selbst zu überlassen, allerdings ohne ihnen einen Ausweg offen zu lassen. So kann auch eine scheinhaft liberale Gesellschaft zu einer Gefängnishölle werden, in der verzweifelte Menschen nach der Rückkehr des Herrn und seiner Macht verlangen, wenn sie die Grenzen der Qual, und vor allem die Grenzen des Quälens erreicht haben.
Der Zustand der Krise. Wenn wir den wahrhaften Herrn mit Giorgio Agamben als denjenigen definieren, der über den Ausnahmezustand bestimmt, dann bedeutet eine allgemeine Rückstufung von Rechten und Angeboten auch so etwas wie eine Rückwendung in der Sklavengeschichte. Wer die Macht hat, ein Geschehen als Krise zu definieren, der hat auch die Macht über die Ordnungen, der überträgt sich auch das Recht, Menschen Rechte, Würde und Freiheit zu nehmen. Ein alter Trick der Faschisten, die Krise, zu deren Beilegung man sich anpreist, selber herbeizuführen und dabei zu definieren, hat von seiner Wirksamkeit offensichtlich nichts verloren. Der rassistische, nationalistische, unmenschliche Krieg gegen flüchtende Menschen begann damit, dass man ihre Existenz zur Krise erklärte. Das Wort Krise hat die ursprüngliche Bedeutung von griechisch krinein, also trennen, unterscheiden, spalten; das Wort Kritik hat im Übrigen dieselbe Wortgeschichte. Kein Wunder also, dass Krise und Kritik von der Macht der Retrofaschisten und Rechtspopulisten gleich behandelt werden, nämlich als Anlass und Verstärkung der Spaltung.
Bereits im Jahr 1863 diagnostizierte der Sprachwissenschaftler und Enzyklopädist Jakob Heinrich Kaltschmidt eine bemerkenswerte psychische Störung, die er Neophobie nannte, also eine dringliche Abneigung gegen Neuheit oder Erneuerung, jedenfalls dort, wo es sich nicht als bloße Anreicherung oder Differenzierung, sondern um einen Schritt ins Ungewisse handelt. Neophobie, das haben die Phobien so an sich, ist irrational, von Panik und Hysterie begleitet und kann einen Menschen für seine Umwelt mindestens störrisch, wenn nicht gar gefährlich machen. Ein Antidot gegen Neophobie ist die Retromanie, also die Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit, die es nie wirklich gegeben haben muss. Neophobie und Retromanie werden zu einem aggressiven Verhalten, wo sie sich in einem so genannten „autoritären Charakter“ paaren, also in einem Menschen, der zu Entscheidung, Haltung oder Meinung stets einen realen oder imaginären großen anderen, einen Führer oder wenigstens Vorgesetzten benötigt, wobei es durchaus vorkommen mag, dass der autoritäre Charakter die Projektion des großen anderen zur Legitimation von destruktiven oder kriminellen Energien benötigt. Neophobie, Retromanie und autoritärer Charakter machen aus einem Menschen indes noch keinen Faschisten, sie schaffen allerdings ein Klima von Hass und Gewalt. Freiheit, Solidarität und Toleranz sowie allgemeine Gerechtigkeit werden in diesem Klima als die Ursachen von Ungewissheit verstanden, so wie jede Geste von Selbstbestimmung und Anti-Autorität als Kränkung des großen anderen verstanden wird. Solche Menschen also haben vor der Freiheit der anderen einen so panischen Schrecken, weil sie vor allem die eigene Freiheit fürchten. Wie alle Dispositionen, so lassen sich auch Neophobie, Retromanie und autoritäre Fixierung gesellschaftlich behandeln, lenken, manipulieren, verstärken, und wie bei allen Dispositionen gibt es hier eine toxische Wirkung. Die Angst vor der Freiheit und der Hass auf die Freien sind ansteckend. So sehr wie es die Sehnsucht nach der Rückkehr des großen anderen ist. Das erste Milieu dieser Ansteckung ist die gesellschaftliche Gleichgültigkeit. Denn Freiheit hat, wie der nicht zu Ende befreite Sklave wusste, ein ebenso anstrengendes wie verlässliches Geschwister. Die Verantwortung. So entsteht Hass auf die Freiheit aus Angst vor der Verantwortung.
Eine der großen paradoxen Bedingungen der Befreiung liegt darin, dass der nicht zu Ende befreite Sklave seinen Herrn verinnerlicht hat. Mythologisch kann man das als einen Prozess des heiligen Kannibalismus begreifen, der Herr spricht in ihm und aus ihm. Der Sklave befreit sich im Blick und in der Sprache des Herrn und beginnt dabei, sich selbst und seine Befreiung zu fürchten. Hätte es je Götter gegeben, fragte sich der nicht zu Ende befreite Sklave unter seinem Baum, wenn es keine Versklavungen gegeben hätte? Und übrigens waren es doch auch die Götter gewesen, und ein paar Göttinnen auch, die befahlen, alles Neue und alles Fremde abzulehnen, auszuschließen oder zu vernichten. Erst standen die Herren mit den Göttern im Bunde, aber dann reichte es, sie zu verinnerlichen. Der Kapitalismus, so hat uns Max Weber schlüssig dargelegt, entstand als Haltung aus einem bestimmten, nämlich protestantischen Gottes-Verhältnis, und er entwickelte sich selbst zu einer Religion. Das Kapital, die Arbeit, der Markt, der Konsum, die Ordnung des Alltags und der Medien, das ist zugleich Ritus und Dogma, es muss gegen die Ungläubigen, gegen die Ketzer, gegen die Hexen verteidigt werden.
Die große Ordnung der Herrn und ihrer Sklaven wurde in die Tiefe der Gesellschaft fortgesetzt. Der Sklave durfte zum Herrn im eigenen Haus werden. Das gab eine neue Balance: Je versklavter einer in Ordnung und Produktion war, desto mehr Rechte bekam er, die so genannten Seinen zu versklaven, die Frau und die Kinder in der so genannten bürgerlichen Gesellschaft, und der ideale Untertan war einer, der Sklave nach oben und Herr nach unten war. Mittlerweile sind es vor allem die Maschinen und Dinge, die zugleich Herrscher-Repräsentanten und willigste Sklaven zu sein scheinen und sei es in Form eines smart home, das besser weiß, was wir empfinden, was wir wollen, und was uns fehlt als wir selbst. Die Freiheit des nicht zu Ende befreiten Sklaven bestand, neben der Selbstversklavung, auch darin, sich wiederum irgendwen oder irgendwas zum Versklaven zu suchen. Eine dieser Geschichten lässt sich lesen als Übertragung der Macht vom Körper auf das Ding. Dadurch war die Sorge für die Reproduktion der Sklaven vom Herrn genommen. Während der Sklave noch einen Wert darstellte, war der Tagelöhner, der Proletarier und jetzt der Prekarierer nur Rohstoff. Indem er oder sie arbeitete wurde er oder sie selbst verarbeitet, nicht zuletzt fiel und fällt dabei Abfall an, Menschenmüll, dessen Entsorgung allgemeine Sorge sein soll und für dessen Nachwuchs kulturelle Düngung sorgt. Daher schuf die Kapitalismus-Religion immer wieder neue Differenzen, immer neue Versklavungsobjekte. Und was sich auf der Ebene der Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen abspielte, spielte sich auch auf der Ebene der Narrationen und Bilder ab. Außerhalb der Arbeit für den Herrn, die zugleich Arbeit für die eigene Freiheit sein soll, gibt es für den nicht zu Ende befreiten Sklaven nicht bloß Chaos und Unsicherheit, sondern auch einen vollkommenen Mangel an Heimat, an Sinn, an Identität und Akzeptanz. So dankbar musste er dem Herrn sein, dass er ihn mit aller Kraft verteidigen muss. Das löst sich im Episodischen auf: Wenn ein junger deutscher Sozialdemokrat einmal etwas sozialdemokratisches sagt, dann drohen die Vertreter der deutschen Arbeiterschaft damit, geschlossen zu den Nazis zu gehen und seine Partei spaltet sich stantepede in den Halbreaktionären und den Totalreaktionären Flügel. Wir haben, seufzte der nicht zu Ende befreite Sklave, so heftig kämpfen müssen, für unsere halben Freiheiten, wir haben Blut vergossen, und nun fürchten unsere Nachfahren um ihre Kaviarbrötchen und die heiligen Arbeitsplätze. So wie der nicht zu Ende befreite Sklave immer wieder einen finden soll, den er noch mehr unterdrücken und verachten kann als sich selbst, so lässt er sich jederzeit gegen diejenigen in Stellung bringen, die noch ein bisschen mehr Freiheit und Gerechtigkeit haben wollen. Wie weit ist es mit uns gekommen? Es gibt etwas, das man den Überwachungsbumerang nannte, und zum ersten mal kritisch beobachtet wurde, als 1898 die USA die Philippinen besetzten und dort das aufständische Volk vermittels eines Systems von Bürokratie und Bespitzelung bezwang, und zwar so erfolgreich, dass man es bald darauf auch zuhause einsetzte. In der Mitte des nächsten Jahrhunderts vollzog sich der gleiche Vorgang, da man Überwachungstechniken, die man für den Einsatz in Vietnam entwickelt hatte, nun auch gegen die Kritiker dieses Krieges und bald ganz einfach gegen alle Kritiker einsetzte. Am Ende des Jahrhunderts wiederholte sich dasselbe noch einmal beim so genannten Krieg gegen den Terror. Die Apparate, die für den Krieg in Afghanistan und im Irak konzipiert wurden, waren da schon längst im Einsatz, aber mit dem Krieg gegen den Terror war sozusagen der Ausnahmezustand zum Normalzustand geworden. Zur gleichen Zeit hatten die USA und, in bescheidenerem Maßstab, auch Europa unentwegt versucht, ihr Modell von Demokratie zu exportieren. Man scheiterte bei dem Versuch, Demokratie zu exportieren, und man triumphierte dabei, Überwachungstechnologie und Überwachungslegitimierung zu reimportieren. Für die Trump-Administration ist der Export von Demokratie (oder was man dafür hält) kein Thema mehr, auch Europa zeigt sich daran immer weniger interessiert, so dass nun auch offen davon gesprochen werden kann, dass die Überwachung nicht den Werten, sondern den Interessen dient. Der nächste Bumerang-Effekt ist offensichtlich: Wenn Demokratie kein Exportgut mehr ist, rentiert es sich auch nicht, sich für sie im eigenen Land einzusetzen. Das Interesse der Ökonomie und damit der Politik an der Demokratie lässt spürbar nach, und damit auch das Interesse an irgendeiner Art von freien Menschen. Der Markt, sagte sich der nicht zu Ende befreite Sklave sarkastisch, braucht keine Demokratie mehr. Aber Sklaven, Sklaven braucht er mehr denn je. Der Hunger nach Daten, den wir augenblicklich erleben, in einem militärisch-ökonomisch-politischen Zusammenspiel, dieser Hunger wurde schon vor mehr als hundert Jahren geweckt und auf den Philippinen erprobt, wo die Military Information Division lernte, ein Land durch Kommunikationstechnologie zu kontrollieren und zu einigen, noch bevor man das im eigenen Land entwickelt hatte. Der Kolonialismus, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave, war immer zugleich Unterdrückung, Ausbeutung und Experimentierfeld. Und als Europa seine Kolonien aufgab, hatte es gelernt, die Überwachungs- und Unterdrückungsmechanismen auf die eigenen Länder anzuwenden, der Bumerang der Selbstkolonialisierung landete und richtete noch größere Verheerungen an, als es sich Rosa Luxemburg in ihrer Analyse der inneren Landnahme vorstellen konnte. Der postkoloniale europäische Nationalstaat konnte in seinen Menschen nur die potentiellen Aufständischen sehen, Menschen, die ihre Sklavenketten erkannten und abschütteln wollten, doch im Blick des Staates entstand ein anderes Wesen, jenes, das dem nicht zu Ende befreiten Sklaven alle Hoffnungen raubte: Der Untertan. Ihm folgten: Der Konsument, der Wähler, der Online-Mensch usw. Den Untertan hatte der nicht zu Ende befreite Sklave dann mehr zu fürchten als die stete Wiederkehr des Herrn. Auch der mutierte natürlich, hier war er der autoritäre Charakter, dann wieder Hipster oder Karrierist, Populist oder Faschist, vielleicht auch nur Fernsehzuschauer und Bildzeitungsleser. Aber im Kern war es immer das gleiche: Ein Teil der nicht zu Ende befreiten Sklaven identifizierten sich so mit dem Herrn, suchten ihren Vorteil so sehr in seinem Glanz und in seinem Blick, versprachen sich von ihm Erlösung und Beute, so dass sie bereit waren, die anderen nicht zu Ende befreiten Sklaven zu denunzieren, zu drangsalieren und schließlich zu massakrieren. Ja, sie sind bereit, ihresgleichen zu massakrieren, nur damit der Herr wiederkommt, dass er ihnen wohlgesonnen ist, dass er ihnen wieder Erlösung und Beute verschafft. Ich tue nur, was das Volk will, sagt der Repräsentant des abwesenden Herrn - sagen wir, so wörtlich, Viktor Orban, und befiehlt die Gewalt, befiehlt, dass der nicht zu Ende befreite Sklave auch das von seiner Freiheit zurückgibt, was er bislang, zäh genug, errungen hatte. Und das Volk – oder wer sich diesem Superherren zugehörig fühlte? Es sagte, wir tun nur, was der Herr uns befiehlt, weil nur der Herr weiß, was wir wollen, und wenn wir morden, rauben, quälen, so war’s doch Herr und Befehl. Denn es gab nicht mehr, was sich der nicht zu Ende befreite Sklave so mühsam erarbeitet hatte. Das Gewissen. Die Verantwortung. Die persönliche Entscheidung. Aber Alain Badiou hat darauf hingewiesen, dass auch in der kapitalistischen Demokratie Wähler und Politiker sich gegenseitig die Verantwortung zuschiebe und sich damit gegenseitig der Freiheit berauben. Und wo das nicht geht, wird der Sachzwang ins Feld geführt, und alternativlose Entscheidungen machen vor, dass Politik nicht auf der Basis der Freiheit und der Verantwortung geführt wird.
Die Verzweiflung des nicht zu Ende befreiten Sklaven war groß. Nicht vor dem Herrn, sondern vor seinesgleichen musste er sich fürchten. Er konnte nicht einmal genau erkennen, ob der Herr von einst, der Sklavenbesitzer, der Grundeigner, der Profiteur der Arbeit, tatsächlich dahintersteckte oder nur verschwunden war, wie vor ihm die Götter. Sind die Faschisten wirklich die Instrumente der Kapitalisten, die in der Krise die schmutzige Arbeit für sie erledigen, oder sind die Faschisten Ausdruck der fundamentalen Gleichgültigkeit des Kapitals, das seiner eigenen Logik folgt und dem alles recht ist, solange es nur Differenz und Bewegung erzeugt? So viel ist sicher, wusste der nicht zu Ende befreite Sklave, alle Verantwortung auf den Herrn abzuwälzen, im positiven oder im negativen Sinne, das kann im Zustand unserer Halbbefreiung nicht wirklich funktionieren.
Alle Freiheiten, die man ihm versprochen hatten, in den großen Erzählungen vom Fortschritt und von der Geschichte der Kämpfe zwischen den Kulturen, hatten sich als fatal erwiesen. Die eine Freiheit, das war jene gewesen, die man als frei gelassener Sklave nur bekommt, wenn man dafür jemand anderen in die Sklaverei drängt. Die andere Freiheit, die hatte man nur bekommen, wenn man gelernt hatte, statt des Herrn und seiner Aufseher sich selbst zu kontrollieren und zu zwingen. Wieder eine andere Form der Freiheit hatte darin bestanden, das Leben in kleine Segmente zu teilen, von denen einige der Freiheit, andere aber der umso rigideren Unterdrückung dienten. Eine Freiheit war darin bestanden, selber in einen erbarmungslosen Wettbewerb mit den anderen zu treten, und im Kampf um die eigene Befreiung musste man so schuldig werden, dass man sein Leben lang sich eben davon nicht mehr befreien konnte. In einer Art von Freiheit hingegen sollte er so vergnügt und bequem sein dürfen, so lange er nur versprach, über nichts und niemanden nachzudenken und einen gewissen Baum sorgfältig zu vermeiden. Noch eine andere Freiheit hatte darin bestanden, sich so mit den Privilegien des Herrn zu identifizieren und ihnen zu dienen, dass er die Macht über die verbliebenen Sklaven als Freiheit verspürte. Es gab eine Form von Befreiung, die ihm immer wieder eine neue Stufe versprach, jetzt bist du wieder ein Stück freier geworden, aber für die nächst Stufe musst du erneut deinen Preis bezahlen, bis du erschöpft am Ende feststellst, du bist der Freiheit keinen Zentimeter näher gekommen. Die nächst Form von Freiheit versprach dir, Teil eines großen freien Ganzen zu sein, dein Volk, deine Nation, deine Heimat, dein Parteiprogramm, das allerdings zu groß und ganz war, um sich noch um deine eigene kleine Freiheit zu kümmern. Mach was du willst, sagte wieder eine andere Form von Freiheit, wir machen auch, was wir wollen, es ist alles nur deine Sache. Freiheit, meinte eine andere, ist das, was du dir erkämpfst. Nur ein Krieger ist frei, nur töten macht frei. Um frei zu sein, musst du auf Gerechtigkeit und Solidarität pfeifen… Und so ging es fort mit den vielen Freiheiten, die sich unentwegt selbst zerstörten.
Natürlich denken wir an einen derzeitigen Kampf zwischen dem Rechtspopulismus, dem Neofaschismus und der Attraktion von autokratischen Herrschaftsformen im, nun ja, Wettbewerb mit Demokratie, Liberalismus und der gemeinsamen Arbeit an der Erhaltung des Planeten. Aber auch dieser Kampf, der, selbst wenn er am Ende von der demokratischen Seite gewonnen würde, was keineswegs sicher ist, so viel an Zeit, Kraft und Phantasie gekostet hätte, dass das schlichte Menschheitsziel einer Erhaltung des Planeten Erde und einer menschlichen Kultur auf ihr verloren zu gehen droht, dieser schon in sich wiederum ausgesprochen apokalyptische Kampf ist wieder nur Erscheinungsform, Metapher, Konkretisierung.
Es geht, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave also, nicht allein darum, die Geschichte neu zu schreiben, sie aus anderen Perspektiven zu sehen, es geht darum eine andere Form von Geschichte zu finden, eine, in der es nicht um einen Wettbewerb der Kulturen geht, und in der es nicht darum geht, eine Kette von Schuld als Fortschritt zu fixieren. Denn dies ist es, was uns die Luft zum Atmen nimmt, die Zeit zum Nachdenken, die Bereitschaft zum Empfinden.
Der Aufstand, erkannte der nicht zu Ende befreite Sklave, kann nicht in der Erzählung stattfinden, die man uns gelehrt hat, die wir übernommen haben wie ein Lebensmittel und wie eine Wohltat, der Aufstand muss gegen die Erzählung selbst gerichtet sein. Eure Geschichte, schleuderte er seinen Herren entgegen (natürlich nur in Gedanken, denn er saß ja gerade unter einem Baum und dachte nach, während sich die Aufpasser des Herrn anderweitig vergnügten, und der Herr war weit weg), eure Geschichte widert mich so an, dass ich nicht einmal gegen sie leben will. Die Verhältnisse sind so abscheulich, dass sie sich nicht einmal dadurch retten ließen, dass man sie vom Kopf auf die Füße stellte. Und etwas besseres als den sicheren Tod sollten Menschen doch allemal noch finden, oder?
Niemand, so dachte sich der nicht zu Ende befreite Sklave weiter, kann mich dazu zwingen, zu glauben, so war es immer und so wird es immer sein, aber niemand, dachte er weiter, kann mich dazu zwingen, zu glauben, so müsse es kommen und so müsse es sein. Das ist das tückischste an der Freiheit, dass ich sie in mir spüre, dass ich sie auf eine merkwürdige Art eigentlich habe, dass sie sich gar nicht vollständig unterdrücken lässt, nicht einmal von mir selber. Aber sobald ich sie gebrauchen will, sobald ich ihr Ausdruck zu verleihen suche, sobald ich sie mit anderen teilen will, verschwindet sie. Ich könnte meinem Dilemma nicht einmal entgehen, indem ich ganz einfach auf die Freiheit verzichten würde. Es gibt, hat Alexander Kluge einmal gesagt, Dinge, die umso ferner zurück schauen, je näher man sie ansieht. Vielleicht, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave, gibt es auch Dinge, bei denen es sich umgekehrt verhält, je mehr man versucht, sie aus dem Blickwinkel zu schieben, desto hartnäckiger kommen sie zurück. Freiheit existiert, weil sie unterdrückt wird. Es ist die Unterdrückung, die sie erzeugt, um sich ihrer Energie zu bedienen. Ich muss mir wohl die Freiheit nehmen, noch einmal ganz anders über Freiheit nachzudenken. Vielleicht als das, was Alain Badiou das Ereignis nennt, nämlich das fundamental Neue, das sich nie mit dem Alten in der Welt begründen lässt. Das Mögliche, das nicht vorherbestimmt ist. Und damit war der nicht zu Ende befreite Sklave doch ein wenig getröstet.
Aber dann erschienen die Schergen des Herrn und erklärten dem nicht zu Ende befreiten Sklaven, dass er weder das Recht habe, unter diesem Baum zu sitzen, der dem Herrn gehört, noch dass er das Recht habe, hier einfach herum zu sitzen, und nachzudenken, wo doch nur Shoppen oder Amüsement ein hinreichender Grund dafür sei, nicht zu arbeiten. Und sie führten den nicht zu Ende befreiten Sklaven davon, dass er das schöne Bild nicht störe, dem man den Begriff „Natur“ gegeben hatte. Je größer meine Gedanken zur Freiheit, desto kleiner die Freiheiten, die man mir immer noch zu nehmen imstande ist, erkannte er. Der Herr verfügt nicht über die wahre, die Menschenfreiheit, daher zerlegt er sie in viele kleine Freiheiten, die er nach Lust und Interesse vergeben oder verweigern kann. Der endlose Kampf um die Teilfreiheiten soll uns blind machen und unfähig zu tun, was Freiheit immer braucht: Sie denkbar zu machen. Der Sehnsucht nach ihr Bilder zu geben. Die Schergen grinsten, denn sie wussten, dass es das beste Mittel gegen die Freiheit ist, dem nicht zu Ende befreiten Sklaven keine Gelegenheit zu lassen, über sie nachzudenken. Aber der wusste es noch besser. Er hatte den Baum des freien Denkens nämlich bereits in sich.