„Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.“
Franz Kafka
Mit dem Zitat von Kafka kündigte sich das Symposium in eher leisen Tönen an. Doch hinter diesen stand, so sollte es später medico-Referent Thomas Seibert formulieren, „die älteste Frage allen politischen Denkens: Wie lässt sich das Verharren in der selbstgewählten Ohnmacht und der freiwilligen Knechtschaft überwinden?“ In die Dringlichkeit der Gegenwart übersetzt: Wieso gelingt es dem, was man kritische Öffentlichkeit nennt, so wenig, ihre Haltung, ihr Wissen, ihre Ressourcen und Kräfte in den politischen Verhältnissen wirkmächtig werden zu lassen? Wie kann ein weiter-so regieren, obwohl es offenkundig so nicht weitergehen kann? Was lässt die Empörung über den Zustand der Welt immer wieder in das Versteck der Lethargie kippen? Und warum reagiert eine „Demokratie in der Krise“, so der Titel des Symposiums, auf die Krise nicht mit dem Mut für Veränderung, sondern mit Passivität, Ressentiment und Gleichmut?
Für eine Organisation wie medico, die den Möglichkeiten emanzipatorischer Veränderung verpflichtet ist, sind diese Fragen essentiell – zumal in einer Zeit, in der die Denk- und Handlungsräume weltweit immer enger werden, beschnitten durch Repression, eingehegt durch eine Politik der Alternativlosigkeit, delegitimiert durch die Macht des Faktischen. Die (Handlungs-)Schwäche der kritischen Öffentlichkeit ist der eine Strang. Doch es gibt einen anderen: Inwieweit ist diese Schwäche eben auch Folge innerer Verstrickungen mit dem, wogegen man sich zu wenden meint? Wie komplex dieses Verhältnis ist, zeigt sich in Befreiungsbewegungen, die an der Macht in unterdrückende Herrschaft umschlagen, oder auch an Hilfe, die mehr schadet als hilft. Angesichts dessen kommt die Kritik der Verhältnisse nicht ohne kritische Selbstbetrachtung aus. All das war gemeint, als Thomas Gebauer, der das erste Symposium im medico-Haus als Sprecher der Stiftung eröffnete, das Anliegen so formulierte: „Um Wege aus der Krise zu finden, wollen wir die Tiefe dieser Krise ausleuchten, die als strukturelle Krise der politischen Verhältnisse verstanden werden muss.“ Der Anspruch hätte kaum höher sein können.
Der Aufstand gegen die Erzählung selbst
Alle Freiheiten, die man dem nicht zu Ende befreiten Sklaven versprochen hatte, in den großen Erzählungen vom Fortschritt und von der Geschichte der Kämpfe zwischen den Kulturen, hatten sich als fatal erwiesen. Die eine Freiheit war jene gewesen, die man als frei gelassener Sklave nur bekommt, wenn man dafür jemand anderen in die Sklaverei drängt. Die andere Freiheit hatte man nur bekommen, wenn man gelernt hatte, statt des Herrn und seiner Aufseher sich selbst zu kontrollieren und zu zwingen. Eine Freiheit war darin bestanden, selber in einen erbarmungslosen Wettbewerb mit den anderen zu treten. Und so ging es fort mit den vielen Freiheiten, die sich unentwegt selbst zerstörten. Es geht, dachte der nicht zu Ende befreite Sklave also, nicht allein darum, die Geschichte neu zu schreiben, sie aus anderen Perspektiven zu sehen. Der Aufstand kann nicht in der Erzählung stattfinden, die man uns gelehrt hat. Es geht darum eine andere Form von Geschichte zu finden, eine, in der es nicht darum geht, eine Kette von Schuld als Fortschritt zu fixieren. Denn dies ist es, was uns die Luft zum Atmen nimmt, die Zeit zum Nachdenken, die Bereitschaft zum Empfinden.
Der nicht zu Ende befreite Sklave
Eben diesem Konflikt zwischen Freiheit und Unterdrückung widmete sich der Auftaktvortrag, bei dem der Film- und Kulturkritiker Georg Seeßlen einen großen Wurf wagte: Er skizzierte die Geschichte der Nichtbefreiung, also einer fortgesetzten Teilung der Welt in Herren und Sklaven, Gewinner und Verlierer, Besitzende und Besitzlose, Regierende und Regierte, indem er eine Figur entwarf: den „nicht zu Ende befreiten Sklaven“, der darüber nachsinnt, was seiner vollständigen Befreiung entgegensteht. Dieser spielt diverse Hindernisse durch, sich befreien zu können – oder zu wollen: von seiner Identifikation mit dem Herrn über die Angst vor denen, die sich dem Aufstand verweigern, bis zur Befriedigung darüber, immerhin noch andere unter sich zu wissen, als idealer Untertan also „Sklave nach oben und Herr nach unten“ zu sein. Die Figur blieb deutungsoffen: Ist besagter Sklave jede und jeder, der Paria ebenso wie der neoliberale Leistungsträger, Frau wie Mann, eine Klasse, ein Milieu, eine Gesellschaft, gar man selbst und die eingangs erwähnte „kritische Öffentlichkeit“? Genau diese Offenheit lud ein, den jeweiligen historisch-konkreten Formen der Unterwerfung und Freiheitsbestrebungen dieses oder jenen Sklaven nachzuspüren. Und immer wieder blitzte auf, was sich als bohrende Gegenwartsdiagnose lesen ließ: die ominöse Mitte der Gesellschaft als idealer Untertan, der sich nach oben empört und zur Sicherung des eigenen Status nach unten Zäune ziehen lässt? Oder das Bild der Herrschaft als anonymer Maschine, die sich zurückzieht und die Sklaven sich selbst überlässt – ein treffendes Bild des globalisierten Neoliberalismus und der verabsolutierten Konkurrenz? So oder so: Seeßlens Erzählung der Nichtbefreiung erinnert daran, dass zu jeder Zeit und auf jeder Stufe jede Befreiung neue, raffiniertere und perfidere Formen von Kontrolle und Zwang hervorgerufen hat und hervorzurufen droht. Damit war eine Spur gelegt: Um es mit dieser unerhörten Dialektik aufzunehmen, braucht es ein Denken und Handeln auf der Höhe dieser Komplexität.
In seinem Vortrag überführte Thomas Seibert die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven in „unsere Geschichte, die Geschichte der Erbinnen und Erben der Französischen Revolution.“ Diese habe zwar die drei Forderungen Freiheit, Gleichheit und Solidarität auf die politische Bühne gehoben, sei jedoch unvollendet geblieben, weil sie sie nicht in eine „gemeinsame Fuge“ gebracht habe. Seither, so Seibert, hat jedes politische Projekt einen Strang zulasten der anderen priorisiert: der frühe Liberalismus das Primat der Freiheit, die realen Sozialismen und Nationalismen des 20. Jahrhunderts das der Gleichheit. Mit der Krise der Wohlfahrtsstaaten und dem Sturz der realsozialistischen Staaten schlug dann die Stunde des Neoliberalismus und damit der radikalen Bevorzugung eines bestimmten Freiheitspostulats: „Sei frei, optimiere dich und verwirkliche nichts als dich selbst – nötigenfalls jenseits von Gut und Böse.“
Es mag ein dürftiger Freiheitsbegriff sein, aber in der Überwindung so mancher Fesseln immerhin doch so überzeugend, dass der Neoliberalismus weltweit hegemonial werden konnte. In seiner individualisierenden Kraft ist er, so die zentrale These, allerdings auch ein von eklatantem Utopieverlust gekennzeichnetes „Versteck“: Der politische Horizont verengt sich auf eine pragmatische Realpolitik. „Der Neoliberalismus hat zu einer Lähmung des Politischen selbst geführt, die noch heute Teil unserer Ohnmacht ist.“ Und ärger noch: Laut Seibert ist auch die bestimmende Gegenbewegung, ein „rückwärtsgewandter Antineoliberalismus“, der die Sozialdemokratie ebenso prägt wie Teile der Linken, ein Versteck. Denn wer sich gegen die verunsichernde neoliberale Globalisierung eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat samt national organisierter Lohnarbeiterschaft wünscht, suche nur den „Schutz vor der offenen, weiten Welt“. Genau dieser aber müsse man sich zuwenden. Leitend hierbei könne der Bezug auf einen positiven Freiheitsbegriff sein, wie er immer wieder aufgeschienen und im Mai 1968 massiv erprobt worden ist. Diese Freiheit, so Seibert, kann dann zum übergreifenden Momentum werden, wenn sie auf solidarischen und gleichheitsorientierten Füßen steht. Konkret: materielle Voraussetzung der Freiheit ist eine etwa durch ein Grund-einkommen und gleichzeitige solidarische Infrastrukturen gewährleistete Sicherheit für jeden Menschen. „Diesen Auftrag nicht zu übernehmen heißt, weiter in der Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven zu verharren.“
Das Zusammen-sein der Verschiedenen
Was es für das Zusammenleben in pluralistischen Demokratien nicht braucht, ist eine Politik, die die Tat zum Wert an sich erhebt. Die weder reflexiv abwägt noch differenziert begründet. Die das Gewinnen und nicht etwa die beste Lösung oder die innovative Vision zum Maßstab des Politischen macht. Und die alles verachtet, was nach Schwäche aussieht. Was es nicht braucht, ist ein Dezisionismus, der sich von Abwertung, Rache und Antagonismus nährt und von Empathie nichts wissen will. Was es vielmehr braucht, ist Offenheit für die Welt und die Bereitschaft, sich von dem, was sich in ihr ereignet, berührt und bewegt zu werden. Was es braucht, ist eine Grammatik für das Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen; ein Ethos der Begegnung mit den Anderen ohne deren Andersheit auszulöschen; dort zu zögern, wo die Tat die Begegnung verdrängt. Und das heißt auch: zu handeln, wo die Tat die Begegnung vernichtet.
Dominanzverhältnisse verlernen
Die Soziologin Sabine Hark erinnerte in ihrem Vortrag an den Sommer 2018, als zivilgesellschaftliche Seenotrettungsschiffe mit Hunderten geretteten Menschen keinen europäischen Hafen fanden, an dem sie anlegen durften. „Was“, so Hark, „hält uns davon ab, das Leben mit anderen zu teilen, Demokratie also wirklich werden zu lassen?“ Damit rückte sie die Verstrickungen in die Teilung der Welt und die Dominanzverhältnisse in den Fokus, die „wir tagtäglich einüben und in denen wir uns einrichten“. Begriffe und Bilder, Selbstverhältnisse und Gefühle, sie alle seien durchzogen von „Sichten von Welt, die regeln, wem was zusteht, wem gegenüber wir verpflichtet sind und wer unserer Zuwendung nicht wert ist“. Daher suchte Hark unter Rückgriff auf feministische Aktivistinnen und Theoretikerinnen nach Mitteln und Wegen, dem „Ton des Fremdmachens und der Dehumanisierung“ zu entkommen. Statt das Zögern als Nicht-Handeln zu kritisieren, votierte Hark für eine Rehabilitierung des Zögerns als Tugend: In einer radikal kritischen Haltung müssen wir Gewissheiten verlernen und an definierenden Verallgemeinerungen zweifeln. Zum Beispiel: „Von welchem Notstand reden wir? Wessen Prekarität und Bedrohung wird zur Sorge?“ Eine reflektierte Bedachtheit, die Komplexität und Differenz auszuhalten vermag, ist das, was Hark mit einem „aktiven Zögern“ meint.
Mit den drei Vorträgen waren hinreichend Pfade ausgelegt, die auf Podien und in Arbeitsgruppen weiterverfolgt wurden. Hier mussten sie sich an den Widersprüchen konkreter Auseinandersetzungen bewähren. Sind etwa, so das Thema der Journalistin Elsa Köster, die französischen Gelbwesten Ausdruck eines emanzipatorischen Aufstandes der Prekarisierten oder doch bloß Verteidigungskampf eines zerstörerischen Status quo – oder beides? Hat die Fridays-for-Future-Bewegung das Versteck verlassen, indem sie eigene Vorstellungen von Freiheit, Sicherheit und Zukunft so ernst nimmt, wie es in den neoliberalen und antineoliberalen Einhausungen nicht vorstellbar ist? Und welche Dominanzverhältnisse schreiben sich fort, wenn der Westen zugunsten einer gewünschten Stabilität die Freiheitsbestrebungen der Menschen im arabischen Raum so schmählich im Stich lässt? Möglich ist das nur, weil die dortigen Gesellschaften, im Sinne von Sabine Hark, zu einer uns fremden, fernen Welt klassifiziert worden sind. Eine solche Fremdmachung mündet in Gleichmut – mit verheerenden Folgen, wie Till Küster, bei medico Projektkoordinator für Syrien, in einer bitteren Bilanz aufzeigte: „Sehr oft besteht die letzte emanzipatorische Handlung der Menschen in Syrien darin, die Verletzten und Toten aus den Trümmern zu bergen.“ Um die Überwindung postkolonialer Dominanzverhältnisse ging es auch in den Beiträgen von Boniface Mabanza Bambu. Der Philosoph und Theologe schilderte das Aufkommen vielfältiger sozialer Bewegungen in afrikanischen Staaten, die alle auf ihre Weise gegen imperiale Kontinuitäten aufbegehren – sei es die Fetischisierung westlicher Politikmodelle oder die fortgesetzte Plünderung von Ressourcen.
Übung in komplexem Denken
Nach und nach hat das Symposium ein Terrain erschlossen, auf dem der Konflikt zwischen Unterdrückung und Freiheitsbestrebungen ausgetragen wird; ein Gelände, in dem Wirkungsmacht erstritten und Aufstände geprobt werden. Am Ende lagen keine Lösungen auf dem Tisch. Und doch hatten sich so viele funkelnde Gedanken, Bilder, diskursive Schneisen und Begegnungen entfaltet, dass die eineinhalb Tage selbst zu einer Art Antwort wurden: Die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Suche – offen, interessiert, auch kontrovers – ist elementarer Teil des Weges zu einem erneuerten politischen Denken und zur Überwindung der Ohnmacht. Wie heißt es doch in dem Zitat von Franz Kafka: „Möglichkeiten der Rettung sind so viele wie Verstecke.“
Christian Sälzer ist Journalist und arbeitet für medico international als Redakteur – was einschließt, eineinhalb hochkomplexe Symposiumstage auf 10.000 Zeichen zu bringen.
Das Zuwenig an Freiheit des Neoliberalismus
Wenn die freie Entscheidung zur Gleichheit und Solidarität in der Freiheit unsere Aufgabe ist – die Aufgabe eines nach vorne gewandten Antineoliberalismus –, dann ruft sie uns in die Geschichte zurück. Wer hegemonial werden will, muss in diesem Kampf glaubhaft machen, das Gemeinwohl zu vertreten. Dieser Vorschlag muss die konkrete historische Erfahrung, die Erfahrung der Kämpfe um Freiheit, Gleichheit und Solidarität reflektieren, und er muss auch die Nöte reflektieren, denen diese Kämpfe entspringen. Deshalb markiert der Mai 68 heute den wirklichen, höchst konkreten, ganz materiellen Ausgangspunkt eines Antineoliberalismus, der die neoliberale Hegemonie zu Fall bringen könnte: weil er dem Neoliberalismus nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Freiheit vorwirft: die Reduktion der Freiheit auf die negative Freiheit des zugleich borniert und verängstigt nur auf sich und sein Eigeninteresse vernagelten Privatindividuums.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!