Failed State oder Failed Aid?

07.03.2007   Lesezeit: 6 min

Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig blickt zurück. 5 Jahre nach der Bonner Afghanistan-Konferenz sind viele Veränderungen nur oberflächlich. Die Friedensdividende ist ausgeblieben. Die Regierung wie die internationalen Akteure stecken in einer tiefen Vertrauenskrise.

Gut fünf Jahre nach dem Fall des Taliban-Regimes und dem politischen Neuanfang von Bonn befindet sich Afghanistan erneut an einem Scheideweg. Es gibt zu wenige Erfolge im Wiederaufbau. Das macht das Unvermögen deutlich, den politischen Prozess positiv ins Alltagsleben der afghanischen Bevölkerung zu übersetzen. Dadurch sind die 'internationale Gemeinschaft' und die Karzai-Regierung in eine tiefe Vertrauenskrise geraten, von der die Taliban und andere destruktive Kräfte nun profitieren. Und schon ist von Afghanistan als "failed state" die Rede.

Zu lange haben die externen Akteure den politischen Prozess in Afghanistan durch eine rosarote Brille betrachtet. Dies betrifft vor allem die US-Regierung: Angesichts des von ihr im Irak verursachten Chaos sollte Afghanistan vor den Präsidentschaftswahlen 2004 als außenpolitischer Erfolg Bushs präsentiert werden. Koste es was es wolle, und sei es die Wahrheit. Viele Westeuropäer, darunter Deutschland, wollten nach ihrer Ablehnung des Irak-Abenteuers nicht noch einen weiteren Konflikt mit dem transatlantischen Verbündeten produzieren und folgten im Wesentlichen den US-Politikvorgaben. Die verdrängten Probleme holen uns – aber vor allem die Afghanen – nun ein.

Inzwischen sind fast ein Drittel des Landes No-Go-Areas für zivile Entwicklungshelfer. Dort muss man jederzeit mit Überfällen, Beschuss oder Hinterhalten rechnen. Dorthin schickt kaum eine westliche Regierung oder NGO einen Mitarbeiter. Gefährlicher ist es aber vor allem für Afghanen geworden, die dort am Wiederaufbau mitarbeiten. Oft reicht schon die Visitenkarte oder eine Telefonnummer eines westlichen Partners für ein Todesurteil, wenn Taliban dies an einem ihrer mobilen Checkpoints entdecken. So entsteht ein Teufelskreis aus fehlender Sicherheit und fehlendem Wiederaufbau.

Beschönigung der afghanischen Realität

Einiges wurde sicher erreicht. Durch die Loya Jirgas 2002 und 2003/04 sowie die Präsidenten-, Parlaments- und Provinzratswahlen 2004 und 2005 entstanden politische Institutionen. Es gibt eine neue Verfassung, Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitssektor, eine relativ freie Medienlandschaft. Frauen können wieder arbeiten, Mädchen sich bilden. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen verdoppelte sich auf 300 US-Dollar. Die Wirtschaft wächst zweistellig.

Die internationale Gemeinschaft sagte Afghanistan auf den Konferenzen von Tokio, Berlin und London 26,8 Mrd. US-Dollar für den Wiederaufbau zu, auf sieben Jahre gerechnet. 40.000 Soldaten aus 37 Ländern sollen Sicherheit gewährleisten. Die afghanische Bevölkerung wünschte nach ihren bitteren Erfahrungen der vorangegangenen 25 Jahre ausdrücklich das – militärische wie entwicklungspolitische – Engagement des Auslands. Dass der afghanische Friedens- und Wiederaufbauprozess jetzt ins Stocken geraten ist, liegt daran, dass viele dieser Veränderungen an der politischen Oberfläche geblieben sind. Ein gewähltes Staatsoberhaupt, ein Parlament kann man nicht 'essen'. Eine Verbesserung der Lebensumstände für einen signifikanten Teil der Bevölkerung aber ist ausgeblieben – die Friedensdividende fehlt.

Wenn der Grundstein schief liegt

Was ist falsch gelaufen? Zunächst liegt einiges in der Bonner Afghanistan-Konferenz selbst begründet. "Wenn der Grundstein schief liegt, kann die Mauer nicht gerade werden", sagt ein afghanisches Sprichwort. Afghanistans Nachkriegsordnung wurde in Bonn zwischen einer dominanten bewaffneten Kriegspartei und drei kleineren, im Wesentlichen unbewaffneten Exilgruppen ausgemacht. Die erste, die frühere Nordallianz, dominiert bis heute in vielen Schlüsselbereichen. Gleichzeitig wurden Vertreter des unbewaffneten demokratischen Untergrunds und Exils, obwohl offiziell von UN und Bundesregierung eingeladen, nicht als fünfte Delegation zugelassen. Dies führte zum vollständigen Ausschluss dieser Kräfte aus dem folgenden Bonn-Prozess. Zudem wurde das Bonner Abkommen von der ersten Minute an verletzt. Kabul wurde nicht demilitarisiert. UN-Blauhelme wurden nicht angefordert, der Einsatz der Stabilisierungstruppe ISAF kam erst nach den entscheidenden ersten beiden Jahren und blieb auf Kabul beschränkt, weil die US-Regierung keine Behinderung in ihrem 'Anti-Terror-Krieg' wünschte. Die Entwaffnung der 'Milizen' blieb erfolglos. Heute geht die UNO von etwa 120.000 Angehörigen so genannter illegaler bewaffneter Gruppen aus, zufällig genau dieselbe Zahl, die 2001 nach Angaben der Nordallianz unter Waffen stand.

Diese Gruppen kontrollieren heute große Teile des Drogenhandels. Mit 6.100 Tonnen Rohopium – doppelt so viel wie im ersten Nach-Taliban-Jahr und 92 Prozent der Weltproduktion – markierte Afghanistan in diesem Jahr einen absoluten Rekord. Die CIA-Gelder für Anti-Taliban-Kommandeure, Erträge aus illegal erhobenen Steuern und über Schein-NGOs abgezweigte Hilfsgelder dienten als Anschubfinanzierung für dieses lukrativste aller Geschäfte. Längst expandieren die Drogenhändler in legale Wirtschaftszweige und monopolisieren diese. Sie sitzen in der Regierung, im Parlament und in Provinzverwaltungen. Die internationalen Truppen, deren Mandat die Drogenbekämpfung nicht vorsieht, und die machtlose – oder selbst korrupte – afghanische Polizei schieben sich den schwarzen Peter gegenseitig dafür zu, dass den Drogengeschäften nicht Einhalt geboten wird.

Enttäuschte Hoffnungen

Heute heißt es oft, dass Afghanistan nicht bereit sei für 'die Demokratie' und der Westen sich 'zu viel vorgenommen' habe. Diese Argumentation übersieht, dass der Bonn-Prozess – mit den Loya-Jirgas-Wahlen – auf einen originär afghanischen Plan zurückgeht und an Vorkriegs-Strukturen anknüpft. Die Präsidentenwahl 2004 mit ihrer Wahlbeteiligung von enormen 80 Prozent war ein Beispiel für das Interesse der Bevölkerung an demokratischen Prozessen. Doch die Enttäuschung setzte ein, als Karzais Reformagenda Rhetorik blieb und er sich weiterhin auf die diskreditierten Jihadi-Führer stützte. Die Bildung einer konstruktiven und organisierten Opposition wurde verhindert, die pro-demokratischen Kräfte wurden weiter geschwächt.

Neben Korruption und Kriminalität ist es Karzais Personalpolitik, die Zweifel an der Regierung hervorruft. Wie soll die Bevölkerung Vertrauen in die Institutionen gewinnen, wenn unfähige Gouverneure und Polizeichefs nicht entlassen, sondern nur auf andere hohe Positionen versetzt werden, wenn belastete Personen sogar an international vereinbarten Prozeduren vorbei ernannt werden, wenn der Anruf eines hohen Amtsträgers genügt, beschlagnahmte Drogen wieder frei zu bekommen?

Afghanistanhilfe als Billigvarianten

Auch beim Wiederaufbau und in der Wirtschaft ist bei weitem nicht alles Gold was glänzt. Von den zugesagten 26,8 Mrd. Dollar sind nach BMZ-Angaben etwa 10 Mrd. noch nicht ausgegeben worden, sondern ruhen mangels Kapazität der Regierung (die aber kritisiert, dass zu viel über NGOs fließt) ungenutzt auf Konten. Anfang 2005 waren sogar erst Projekte für ganze 3,3 Mrd. Dollar umgesetzt worden. Zudem liegen die Pro-Kopf-Aufwendungen in Afghanistan weiter hinter denen in anderen Post-Konflikt-Ländern: In Bosnien betragen sie 679 US-Dollar, im Kosovo 526, in Osttimor 233, in Afghanistan gerade mal 57 Dollar. Eine Studie der RAND-Corporation belegt, dass eine minimale Pro-Kopf-Aufwendung von 100 Dollar Voraussetzung für eine erfolgreiche Stabilisierung ist.

Unsere eigenen politischen Mechanismen haben sich als unfähig erwiesen, den Afghanen nach 2001 schnell zu helfen – und heute die Strategien zu ändern. Zunächst ist der politische Wille gefragt, sich selbst und auch die afghanische Regierung kritischer ins Gericht zu nehmen. Hier immerhin scheint es Fortschritte zu geben. Andererseits zeigt das Beispiel Irak, wie versucht wird, die Verantwortung auf die irakische Regierung zu schieben. Anstatt vom 'failed state' Afghanistan könnte man auch von 'failed aid' sprechen.

Einen endgültigen Rückfall in die barbarischen Zeiten des Bürgerkriegs und der Taliban-Herrschaft lässt sich verhindern, wenn die internationale Politik endlich einmal die Wünsche der afghanischen Bevölkerung ernst nimmt und sich nicht vorrangig an innenpolitischen Erwägungen orientiert. Einen 'allafghanischen' Plan wird es nicht geben, sondern man wird sich der Mühe unterziehen müssen, in Dörfern und Distrikten teilweise neu zu beginnen. Dies könnte man auch Demokratie nennen – und von der hat es, denke ich, bisher eher zu wenig als zu viel gegeben.

Der Autor arbeitete von 2000-2006 in Afghanistan und ist z.Zt. Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.


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