Wenn Menschen aus unterschiedlichen Motiven für eine unbestimmte Dauer eine internationale Grenze überschreiten, um an einem anderen Ort zu arbeiten oder zu leben, dann spricht man in der Wissenschaft von Migration. Diese Wanderungsbewegungen sind für viele Menschen in Westafrika eine traditionelle Lebensweise, die in erster Linie mit den Rhythmen saisonaler Arbeit und des Handels zusammenhängt. Der Weg in die Ferne eröffnet immer wieder neue Handlungshorizonte und ist zugleich eine Strategie, die eigene Mobilität gegen gesellschaftliche Zwänge einzusetzen. Dabei nutzen die Menschen in Westafrika die Ressource ihrer Mobilität nicht nur, um unmittelbaren Gewaltverhältnissen zu entkommen, sondern auch, um sich durch Abwanderung und Neuansiedelung Alternativen zur Abhängigkeit von transnationalen Konzernen und lokalen Produzent/innen zu schaffen.
In dieser Broschüre werden die Migrationsbewegungen aus drei Ländern Westafrikas beleuchtet: Mali, Westsahara und Sierra Leone. Alle drei Länder sind reich an natürlichen Ressourcen. Es ist gerade dieser Reichtum an Gold, Baumwolle, Diamanten und Boden, der Migrationsbewegungen hervorruft.
Innerhalb weiter Teile des subsaharischen Afrikas sind die Grenzen der Nationalstaaten noch immer durchlässig und die Menschen-, Güter-, Ressourcen- und Waffenströme kaum eingeschränkt. Auch deshalb sind die unterschiedlichsten Ressourcen des westafrikanischen Raums – von Gold, Diamanten, Holz, Erdöl bis hin zu Uran und Metallen – auch für internationale Wirtschaftsinteressen bedeutsam.
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Extraktion der Ressourcen
Eine durch Wirtschaftinteressen bedingte Migration ist exemplarisch in Sierra Leone zu beobachten. In dem kleinen westafrikanischen Land an der Atlantikküste, das zuletzt einen der furchtbarsten Bürgerkriege der jüngeren afrikanischen Geschichte durchlitt, leben beispielsweise 70 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut, obwohl das Land reich an Diamanten, Bauxit und seltenen Metallen ist. Für den Diamantenabbau werden riesige Landflächen verpachtet oder verkauft, während die betroffenen bäuerlichen Dorfgemeinschaften lediglich mit niedrigen Kompensationszahlungen abgespeist werden. Viele wandern in die Städte ab, wie etwa die Hauptstadt Freetown, aber auch in die Nachbarländer.
„Zwangsmigration ist eine Folge von Bergbauaktivitäten in Sierra Leone“, berichtet Patrick Tongu von Network Movement for Justice and Development (NMJD), einer Partnerorganisation von medico international in Sierra Leone. Dass es paradoxerweise nicht allein die Armut, sondern gerade auch der vorhandene Ressourcenreichtum ist, der die Abwanderung innerhalb Afrikas oder ins europäische Ausland begründet, verdeutlicht auch ein Blick ins Nachbarland Mali – der drittgrößte Goldproduzent Afrikas und zugleich eines der ärmsten Länder der Welt. Mali besitzt eine sehr lange Tradition der Migration innerhalb Afrikas und in arabische Länder, die sowohl aus der schwachen Wirtschaft, als auch aus den gesellschaftlichen Traditionen einer nicht an den Nationalstaat gekoppelten Kultur der Mobilität resultiert. Geschätzte 4 Millionen Malier/innen, ein Drittel der Gesamtbevölkerung von 12 Millionen Menschen, leben im Ausland, der Großteil davon in afrikanischen Nachbarländern.
Die anhaltende Landflucht ist auch in Mali ein Beweis dafür, dass in der Realität die neoliberalen Kreditauflagen und Entschuldungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), gekoppelt mit einer seit Jahrzehnten praktizierten aggressiven Freihandelspolitik, längst die Herrschaft übernommen haben und von einer eigenständigen staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht mehr die Rede sein kann. Hinzu kommen zahlreiche bilaterale Wirtschaftsabkommen mit den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die die betroffenen afrikanischen Länder zwingen, die Rahmenbedingungen für Investitionen zu liberalisieren, und europäischen Unternehmen den Zugang zu den lokalen Märkten zu eröffnen. Die aufgehobenen Exportrestriktionen schaffen in Mali und der gesamten westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht „mehr Markt“, sondern verknappen die ohnehin beschränkten regionalen Handlungsspielräume weiter und treffen besonders die Agrarwirtschaft. Geht es nach der EU, sollen weder Steuern auf Importe erhoben noch die lokale Landwirtschaft subventioniert werden. Die Agrarsubventionen, mit denen die EU ihre eigenen Bauern und Bäuerinnen unterstützt, bleiben von derartigen Liberalisierungsmaßnahmen hingegen unbehelligt. So werden die Märkte Malis und anderer Länder Westafrikas mit Gütern aus der hoch subventionierten europäischen Agrarindustrie überschwemmt: Milchpulver, Eier und Fleisch, sogar tiefgekühlte Hühnerflügel werden gehandelt. Das Regime des Freihandels entzieht dem Land aber auch den Zugriff auf seine Ressourcen und führt zu Migration. Die Goldexporte aus Mali machen z.B. 75 Prozent der gesamten Exporte aus, der Goldhandel trägt aber nur zu 8 Prozent des malischen Bruttoinlandsproduktes bei. Die Gründe für diese vermeintliche Paradoxie liegen im Wesen des neoliberalen Marktes: weitgehende Öffnung des Goldsektors für ausländische Investor/innen bei gleichzeitiger Ausweitung der industriellen Goldproduktion, dazu extrem rentable Produktionskosten durch Niedrigstlöhne und maximale Steuer- und Handlungsfreiheit für private Unternehmer.
Viele Malier/innen verlassen aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen und der Umweltverschmutzung in den Bergbaugebieten die rohstoffreichen Regionen. Samba Tembely, Sprecher der kritischen malischen Coalition des Alternatives Africaines Dette et Développement (CAD) weist auf einer Versammlung der malischen Zivilgesellschaft auf diesen eklatanten Widerspruch hin: „Mali konsumiert, was es nicht produziert und produziert, was es selber nicht konsumiert. Dies führt zur Verarmung unserer Bevölkerung, zu der Plünderung unserer Ressourcen und verunmöglicht alle Perspektiven einer wirklich demokratischen Veränderung. So wird unser Land in Abhängigkeit und Unterdrückung gehalten.“
Landraub und Agrartreibstoffe
Die Krise der internationalen Finanzmärkte hat in den letzten Jahren diesen Armutstrend verstärkt, da unterbrochenes Wachstum die Investitionen stocken und in Wirtschaftsystemen ohne staatliche Regulationsmechanismen den Hunger zusätzlich anwachsen lässt. Nahezu unbeachtet und im Schatten der Finanzkrise haben sich die Getreideimporte nach Angaben der Food and Agriculture Organization (FAO), der Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen, in den letzten Jahren um bis zu 50 Prozent verteuert: Weizen, Reis und Mais sind zum neuen Öl geworden. Die Gründe für diese Nahrungsmittelkrise liegen in einer von den USA und der EU jahrzehntelang durchgesetzten Politik, in der internationale Institutionen wie Weltbank und IWF die afrikanischen Länder zwangen, die staatlichen Subventionen für die Landwirtschaft zu streichen und die lokale Agrikultur in die globale Wirtschaft zu integrieren. Als Resultat wird Getreide exportiert, die regionalen Märkte zerfallen, die Landflucht verstärkt sich.
Die hohen Weltmarktpreise führten auch dazu, dass Länder mit knappem Ackerboden und Wasser versuchen, Land im Ausland zu kaufen. Der hohe Anstieg der Weltmarktpreise für Lebensmittel ist zum Teil auch Spekulationskäufen geschuldet, die die EU und die USA mit ihren neuen „Biosprit“-Richtlinien ausgelöst haben. Die FAO bezeichnet dieses von Finanzinvestoren und transnationalen Konzernen betriebene „Land Grabbing“ als neue Form des Kolonialismus. Das Ergebnis sind Boden- und Wasserkonflikte sowie eine verstärkte Migration in den städtischen Raum.
Die ärmsten Länder wie Mali oder Niger sind auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen und bleiben den Preisschwankungen des globalen Marktes schutzlos ausgeliefert. Die enormen Preissteigerungen der Lebensmittel im letzten Jahrzehnt drückten vor allem in Afrikas Städten fast 150 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze.
Weltweit entstehen Bewegungen, die sich für eine bedarfsgerechte Landwirtschaft einsetzen: In Sierra Leone kämpfen Aktivist/innen gegen die weitere Beschlagnahmung ihres Bodens. Erkrankte nicaraguanische Zuckerrohrarbeiter/ innen fordern mit internationaler Unterstützung einen Importstopp für Agrotreibstoffe, solange die agroindustrielle Produktion von Pflanzen zur Energiegewinnung Nahrungsmittelverknappung und Hunger zur Folge hat, zu Umweltzerstörung und Gesundheitsschäden für die lokale Bevölkerung führt.
Das leer gefischte Meer
Entlang der westafrikanischen Küste verloren Fischer/innen in den vergangenen Jahren durch internationale Fischereiabkommen und die industrielle Fischerei zunehmend ihre ökonomischen Grundlagen. Es ist in erster Linie die EU, die die Existenz westafrikanischer Fischer/innen mit industriellen Fangmethoden ruiniert hat. Zuerst wurden den Regierungen der Küstenländer – oftmals unter Druck – die Fischereirechte abgekauft. Dann holten hoch technisierte, steuersubventionierte Fischereiflotten in kürzester Zeit mehr Fisch aus dem Wasser als die Einheimischen dies in Jahrzehnten vermocht hätten. Besonders gilt dies für die Küste der von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara. Hier wird den ansässigen Fischer/innen nicht nur von der EU, sondern auch von marokkanischen Trawlern das Meer leer gefischt. Viele der um ihre Verdienstmöglichkeiten gebrachten Fischer/innen sehen keine andere Möglichkeit, als ihre Boote an Flüchtlinge zu vermieten oder zu verkaufen oder gar selbst die gefährliche Fahrt in Richtung kanarische Inseln anzutreten. So sorgt die EU indirekt selbst für seeerfahrene „Reiseunternehmer/innen“ und Bootsflüchtlinge.
Schreckensszenario Migration
Flucht und Migration innerhalb des afrikanischen Kontinents und entlang der südlichen Grenzregionen der Europäischen Union sind die Folge einer Globalisierung, deren Akteur/innen an den Ressourcen und Märkten des afrikanischen Kontinents interessiert sind, nicht aber an seiner Bevölkerung.
Weil Mali auch ein Transitland für viele Migrant/innen aus den südlichen Teilen Westafrikas ist, hat die europäische Außenpolitik das Land als Laboratorium ihres Migrationsmanagements ausgewählt. Dabei hat die alte Kolonialmacht Frankreich das frankophone Westafrika und besonders Mali immer schon als historische Sonderwirtschaftszone betrachtet. Doch seitdem das Reservoir der billigen afrikanischen Arbeitskräfte nicht mehr benötigt wird und das Schengener Abkommen im Jahre 1990 die Visumsfreiheit für Frankreich beendete, dient Mali nur noch als erweiterte Banlieue, als Randgebiet, in das die überflüssigen „Papierlosen“ aus Europa abgeschoben werden.
In den Fernseh- und Zeitungsberichten erscheint dieses Randgebiet des subsaharischen Afrikas vielfach als von Gewalt zerrissener Kontinent, dessen wachsende Bevölkerung versucht, dem Hunger durch Abwanderung zu entkommen. In dieser Darstellung entsteht das Schreckensszenario barfüßiger und zerlumpter Massen, die an den Toren des Westens rütteln. Die europäische Politik und das Agieren von internationalen Unternehmen wird dabei meist genauso ausgeblendet wie der Umstand, dass die Mehrheit aller Afrikaner/innen, selbst diejenigen, die nicht in ihrem Heimatland leben, nicht die Absicht haben, ihren Kontinent zu verlassen. Insgesamt leben überhaupt nur drei Prozent aller Afrikaner/innen als Migrant/innen außerhalb ihres Geburtslands. Dem entspricht, dass das Hamburger WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) die Zahl der Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in der gesamten Europäischen Union (EU) auf gerade mal drei bis sechs Millionen Menschen schätzt. Die angebliche Fluchtbewegung der afrikanischen „Massen“ nach Europa ist eine ideologische Behauptung, die auch dem Zweck dient, ganze Bevölkerungsgruppen in materieller Unsicherheit zu belassen, indem ihre Menge und ihre virtuellen Forderungen nach Rechten – letztlich ihre bloße Existenz – als Bedrohung begriffen werden.