Für eine Große Friedenskonferenz aller türkischen & kurdischen Menschen

01.04.2000   Lesezeit: 11 min

Für eine Große Friedenskonferenz aller türkischen & kurdischen Menschen

DIE TAGESORDNUNG

»Das türkische Bildungsministerium fordert die Herausgeber eines Grundschul-Mathematikheftes auf, die Buchstaben P und K aus einer Gleichung zu entfernen, da sie zusammen das Akronym der verbotenen Terroristengruppe PKK bildeten. Die Verleger des Can-Mathematik-Magazins wurden aufgefordert in den Algebra-Übungen die Buchstaben E, G, F, und H zu benutzen, damit »fälschliche Interpretationen" vermieden werden. Der Verlag kam dem Gesuch nach und versprach bei weiteren Auflagen das kränkende P und K zu entfernen.«

»Milliyet«, Tageszeitung, vom 1.1.2000

Ankara, Anfang Februar – ein grimmiger Winter hat die Stadt im Griff. Die mittelanatolische Hochebene ist eingeschneit. Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten, der Verkehr in der Hauptstadt Anatoliens nur noch ein einziges Chaos. Nichts geht mehr. Aber die Medien melden im Stundentakt die neuesten Leichenfunde aus den »Grabhäusern« der Hizbullah-Todesschwadrone, die nun, nachdem die kurdische Guerilla die Berge verließ, ihren Dienst erfüllt haben. Daneben Aufrufe des türkischen Verkehrsministers: Angesichts der eisigen Verkehrsverhältnisse erinnert er an seine Verordnung des Jahres 1997, daß ein jedes Auto einen Leichensack mit sich zu führen habe.

Ich möchte Ismail Besikci besuchen. Der türkische Soziologe und Autor kam im November 1999 nach nahezu 17 Jahren Haft in den »Genuß« einer Amnestie für »Gedankenschuldverbrechen«. Was tut jemand nach 17 Jahren Haft? Wie denkt einer wie er über die neusten Entwicklungen in einer Türkei, in der die kurdische PKK fast bis zur Selbstaufgabe ihren Friedenswillen bekundet, die kemalistischen Machteliten um Ecevit und Demirel Frieden aber nur als Unterwerfung buchstabieren können? Besikcis einziges »Verbrechen« bestand über all die Jahre darin, Bücher geschrieben zu haben. Seine Texte untersuchten stoisch immer wieder einen Tatbestand: Die Existenz von Kurden und Kurdinnen auf dem Staatsgebiet der Türkei. Er führte den soziologischen Nachweis, daß Kurdisch eine eigene Sprache und kein Dialekt des Türkischen ist, er wies nach, daß der herrschenden kemalistischen Staatsdoktrin die ethnisch-chauvinistische Verfolgung von Kurdinnen und Kurden immanent ist.

Der Soziologe verband damit keinen Aufruf zum Aufstand, sondern er wiederholte nur in mehr als 30 Untersuchungen, Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln, daß die Existenz Kurdistans anzuerkennen sei. Das genau reichte. Anklage auf Anklage, Urteil auf Urteil folgten. In redundanten Gerichtsverfahren wurde ihm vorgehalten, daß es Kurden in der Türkei nicht geben könne, da sie per Verfassung nicht existierten und daß ein jeder, der dies behaupte, Atatürks Vermächtnis negiere und deshalb Hochverrat beginge & »Rassenhaß« deklamiere. Ismail Besikci stand solche Wiederholungen auf eine altertümlich-anrührende Weise unbeugsam durch. Das Exil lehnte er ab. Keine der zahlreichen akademischen Einladungen ins Ausland nahm er an. Er zog absichtlich die Gerichtssäle und Gefängnisse seiner Heimat vor – ihm waren sie wahrheitsgemäße Orte. 17 Jahre dauerte diese Reise durch die »Menschenlandschaften« (Nazim Hikmet) der türkischen Gefängnisse.

Ein Besuch bei Besikci sei kein leichtes Unterfangen, sagt mir Nazmi Gür. Der aus dem kurdischen Van kommende Generalsekretär der IHD-Menschenrechtsvereine nennt Besikci respektvoll »Hodschah Ismail« (der Lehrer Ismail), wenn er von ihm spricht. Der »Hodschah« empfange zur Zeit keinen Besuch und verweigere jedes Interview, gibt Gür mir zu verstehen. Zwei Tage später erhalte ich einen Anruf: Ja, ich möge kommen. Besikci erwarte mich.

»Guten Tag, mein Name ist Besikci«

Der Yurt-Verlag besteht aus wenigen, spärlich eingerichteten Räumen. Im hinteren Bereich des Flures sehe ich einen kleinen gebeugten älteren Mann, bekleidet mit einem groben alten Wollpullover und abgewetzter Stoffhose. Lächelnd kommt er mit schlurfenden Schritten auf mich zu, schüttelt mir die Hand und begrüßt mich mit einer leisen, warmen Stimme: »Guten Tag, mein Name ist Besikci«. Er bittet mich in einen ungeheizten Raum, in dem Bücher, Papiere und Notizzetteln herumliegen. »Meine Studierzelle«, bemerkt er auf meine Blicke hin und räumt ein Stuhl frei, damit wir uns setzen können.

Das Gespräch

Ich rede von der medico-Hilfe für die Opfer des Erdbebens vom Herbst letzten Jahres. Von unserer langjährigen Zusammenarbeit mit den IHD, dem medico-Projekt »Demokratische Türkei«, welches als Bedingung & Konsequenz Frieden und Anerkennung für Kurdistan verlangt. Ismail Besikci kennt medico. Wie es ihm gehe, frage ich, ob er etwas bräuchte nach all den Jahren der Haft. Nein, erwidert er, ihm persönlich fehle es an nichts, nur die politische Lage der Türkei, das sei etwas, was ihn drücke – trotz der wiedererlangten Freiheit. »Sie geben keine Interviews«, frage ich weiter? Er lacht: »Sie müssen wissen, meine einzige Waffe ist das Wort und daher auch das Schweigen. Ich schweige aus Protest gegen eine Presse, die die Kurden noch immer nur als ›Terroristen‹ bezeichnet, über den türkischen Staatsterror aber nichts sagt«. »Seit 25 Jahren herrscht ein Krieg in diesem Land, es gibt Verschwundene, Tote, Folter, entleerte Dörfer. Aber wo sind die Medien, die dies versuchen aufzuklären? Journalisten, Fernsehsender, auch deutsche, wollen mit mir sprechen, aber wann sind sie nach Kurdistan gefahren, wann haben sie dort Fragen gestellt?«. Besikci nennt Beispiele. Er spricht über die Ereignisse im Gefängnis von Diyarbakir am 24. September 1996: »10 Gefangene wurden dort mit kaum vorstellbarer Brutalität ermordet, ein regelrechtes Massaker. Mit Gewehrkolben und Bajonetten wurden die Menschen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, ihre Schädel wurden ihnen mit Eisenstangen eingeschlagen. Die Presse dagegen sprach von ›Selbstmord‹, sie zeigte keinerlei Aufmerksamkeit für diese Taten«. »Die kurdische Bewegung wird nicht anerkannt in Europa. Auch die EU spricht nur von Terroristen. Sie sieht nicht die Realität eines Volkes, das nichts anderes will, als die Anerkennung seiner Rechte«.

Besikcis Hände fangen an zu gestikulieren: Eine weiteres Massaker sei passiert. Diesmal in Ankara, im September 1999, wo 11 Gefangene grausam getötet worden seien. Kein Wort in der Presse! »Was ist das für ein Land, wo so etwas möglich ist?« Er lacht ein bitteres Lachen und langsam spricht er weiter: »Ein solches Land soll nach Europa kommen? Nein, das klingt wie eine böse Ironie, die Mörder von Diyarbakir und Ankara in den Kontinent der Menschenrechte zu holen. Wie kann ein Demokrat, ohne über diese Verbrechen auch nur zu sprechen, das wollen?«.

Besikci sitzt am Fenster. Ich betrachte seine Schuhe. Es sind schwarze, etwas zu groß scheinende Cowboystiefel. Ein etwas merkwürdiges Schuhwerk für diesen Mann. »Ja«, lacht Besikci, meine Gedanken erratend, »diese Schuhe schenkte mir jemand nach meiner Entlassung«. Abrupt steht er auf und verläßt den Raum, um mit großen Gläsern Tee zurück zu kommen. Wir schweigen & trinken. Besikci kramt einen Zettel aus der Tasche und beschriftet ihn mit winzigkleinen Buchstaben. Minuten vergehen, er scheint mich vergessen zu haben. Ich nehme das Gespräch wieder auf.

»Gut«, sage ich, »Europa möchte vom türkischen Staatsterrorismus nichts wissen, aber wie ist es mit den Kurden? Als in Helsinki der Türkei der Status der Anwärterschaft auf die Europäische Union zugestanden wurde, da fanden vor dem Tagungsgebäude kurdische Demonstrationen statt. Und gefordert wurde der Beitritt der Türkei zur EU«.

Vorsichtig, jedes Wort abwägend, antwortet er: »Ich bin nicht gegen einen Weg nach Europa. Aber Sie müssen wissen: die Nachfolger des ottomanischen Reiches, die Jungtürken unter Atatürk, sie hatten kein anderes Ziel als endlich von Europa akzeptiert zu werden. Aber die Kurden, die jetzt den Weg nach Europa suchen, sie müssen verstehen, warum ihr Land geteilt wurde. In ihrer Entscheidung für eine freie Zukunft müssen sie die Gründe ihrer Teilung untersuchen«. Frankreich und England mit ihrer imperialen Vergangenheit seien beides Länder, so Besikci, die für die koloniale Teilung Kurdistans stehen. Auch die »liberalen Demokratien« der skandinavischen Länder hätten sich gegen einen kurdischen Staat ausgesprochen. »Aber die Kurden sind ein Volk von 35 Millionen Menschen. Wie kann es sein, daß Länder wie Norwegen, Schweden oder Liechtenstein sich in dieser Frage in der Konsequenz wie Polizeistationen der Türkei verhalten?«, gibt Besikci zu Bedenken. All dies, so fährt er fort, dürften die Kurden auf ihrem europäischen Weg nicht vergessen. Im Hintergrund beginnt sein Verleger Ünsal Öztürk mir Zeichen zu geben, ich solle langsam zum Ende kommen. Der »Hodschah« wirkt müde, aber er gibt zu verstehen, daß er das Gespräch fortsetzen möchte. Wie es für ihn sei, nach 17 Jahren Haft, immer nur durch kurze Zeit unterbrochen, wieder das Leben in Freiheit zu erfahren, frage ich weiter. Die Antwort fällt kurz aus. »Nein«, sagt Besikci, der ungern über sich selber redet, »fremd geworden ist mir diese Welt nicht. Ich kann mich in ihr bewegen. Aber ich bin nur im Genuß einer Freiheit auf ›Urlaub‹. Fünf Jahre darf ich mich nicht öffentlich zu Themen äußern, wegen denen ich verurteilt wurde. Bei Übergehung droht mir eine Fortsetzung der Haft. Dies bedrückt mich, aber, ich erklärte es ihnen, es ist dies nicht der Grund meines Schweigens«. Denn so sei es für alle, die im letzten Herbst unter die Amnestie für »Meinungsdelikte« fielen. »Denken Sie nur an den blinden Anwalt Esber Yagmurdereli. Er mußte seine ausgesetzte langjährige Haftstrafe erneut antreten, weil er es wagte Kurdistan beim Namen zu nennen«. Nein, eine Demokratisierung verspüre er beim besten Willen nicht, betont er. Da sei beispielsweise die andauernde Kontrolle der Universitäten durch den Nationalen Sicherheitsrat, der unlängst zum Milleniumswechsel per Rundbrief darauf insistierte, daß in der Türkei nur Türken leben und dies an allen Universitäten zu beachten sei. Keiner der Direktoren habe dagegen protestiert oder auch nur ein Widerwort gewagt. »Oder lesen Sie nur die Zeitung, die vermeintliche ›Aufdeckung‹ der islamistischen Hizbullah«, fährt er fort, »wir wissen doch, wessen Kind diese Killer sind, wer sie von der Kette ließ. Musa Anter, Vedat Aydin und Metin Cetin, die führenden Intellektuellen und Menschenrechtskämpfer – sie starben durch diese staatlichen Töter nur weil sie Kurden waren, die von Kurdistan sprachen. Damals wie heute wurden sie totgeschwiegen. Wir sehen die grauenhaften Bilder der ›Grabhäuser‹ der Hizbullah, sehen die verscharrten Leichen, hören von den bestialischen Folterungen – alles Verbrechen, so will uns der Innenminister erklären‚ die im Namen des Islam geschehen seien sollen. Wir aber wissen, daß es der Staat war, der diese Mörder anleitete. Allein in Batman kamen so seit Anfang der 90er Jahren 500 Menschen unter offiziell ›ungeklärten Umständen‹ ums Leben«

Besikci wird unruhig, klaubt Zettel auf, überfliegt sie, notiert hier und da etwas, um sich erneut hinzusetzen. Es ist spät geworden und nur noch Zeit für eine letzte Frage. medico sammelte Spenden für seine Freiheit, für die Kampagne »Für die Freiheit der Meinung und Wissenschaft in der Türkei«, die verknüpft mit dem Namen Besikci, seinem Schicksal und seiner Unbeugsamkeit, höchst erfolgreich verlief und zahlreiche Unterstützer im In- und Ausland fand, erkläre ich. Nun sei er frei, aber 20.000 DM seien noch übrig. Was soll damit geschehen? Besikci überlegt eine Zeit lang. »Frieden«, sagt er, »setzten Sie das Geld für einen wahren und gerechten Frieden zwischen der Türkei und den Kurdinnen und Kurden ein. Ermöglichen Sie damit eine Begegnung, eine Konferenz, damit die Türkei endlich versteht und anerkennt, daß Kurdistan seine Existenzberechtigung hat und daß man dieses Volk nicht in alle Ewigkeit mit Panzern, Verboten und Ausgrenzung bestrafen darf. Würde dieses Geld bei Ihnen ein wenig dazu beitragen, daß in Europa eine größere Sensibilität für die legitimen Forderungen der kurdischen Bewegung entsteht, so wäre ich sehr glücklich.«

Bevor wir uns verabschieden erinnert er mich an seinen öffentlichen Protest: »Bitte respektieren Sie meinen Boykott. Sie waren der erste Ausländer, den ich empfing. Schreiben Sie nicht in Zeitungen darüber. Betrachten Sie unser Gespräch als eine Unterhaltung unter Freunden.« Ob ich seinen Unterstützern, den Spendern von medico von unserer Begegnung erzählen darf? »Natürlich«, erwidert Besikci. »Erklären Sie ihnen, warum ich nicht nach Deutschland komme, warum ich keine Interviews geben möchte. Leben Sie wohl und grüßen Sie alle.«

Der Feierabendverkehr hat mich zurück. Ich finde eine der wenigen Bierhallen Ankaras. Um mich herum stehen Arbeiter. Suppe, Hühnerspieße, Kebabs werden gegessen und Schnaps getrunken. Ich bestelle ein Bier. Ein Passage aus Besikcis Brief an medico kommt mir in den Sinn, in der er in aller Höflichkeit, aber auch mit galligen Worten eine Einladung nach Deutschland ausschlug. »Wären Kurdinnen und Kurden wenigstens verrücktes Rindfleisch oder genössen den Status verseuchter Hühner man würde sich sorgfältig und lösungsbereit mit ihnen auseinandersetzen. Aber weil sie das nicht sind, sondern Menschen, die ihre Freiheit einklagen, – wieso steht Europa nicht an ihrer Seite, sondern ausschließlich auf Seiten der groben Gewalt?«. Der Lärmpegel der Bierhalle nimmt zu. Einige der Arbeiter reden kurdisch miteinander. Zwei Polizisten kommen herein und wollen ebenfalls etwas essen. Das kurdische Idiom verstummt, wie auf Kommando wechseln alle ins Türkische. Eine Türkei, die nach Europa will, findet diesen Weg nur über Diyarbakir.

Martin Glasenapp

Helfen Sie bitte mit, einen friedlichen und demokratischen Lösungsweg zu finden: für alle beteiligten Seiten gerecht. Unterstützen Sie den ausdrücklichen Wunsch Ismail Besikcis und unser »Demokratie Projekt Türkei«. Stichwort: »Kurdistan«.


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