Der Vorsitzende der unabhängigen Menschenrechtskommission Ahmad Nader Nadery über die Straflosigkeit in Afghanistan
Mehr als eine Million Afghanen haben (in den vergangenen Jahrzehnten der Kriege und Bürgerkriege) ihr Leben verloren. Etwa zwei Millionen Menschen wurden dauerhaft körperbehindert. Abertausende wurden verhaftet und wegen ihrer politischen Überzeugung gefoltert. Fast alle Städte des Landes wurden zerstört und die Felder abgebrannt. In den drei Kriegsjahrzehnten wurden mehr als sieben Millionen Menschen gezwungen, ihre Dörfer und Städte zu verlassen und als Flüchtlinge im Iran, in Pakistan und in anderen Ländern der Welt zu leben. Erst das Petersberg-Abkommen im Dezember 2001 beendete diesen jahrelangen Konflikt. Seinem Wesen nach war er sowohl eine internationale wie eine interne bewaffnete Auseinandersetzung. Deshalb hat er ein so schreckliches Erbe hinterlassen. Das Ausmaß an Gewalt und an Menschenrechtsverletzungen übertrifft alles, was es in der Geschichte Afghanistans je zuvor gegeben hat. Diese Last der Vergangenheit ist auf allen Ebenen der afghanischen Gesellschaft spürbar – physisch wie psychisch.
Auch wenn dieser Konflikt zu Ende ist, bleiben die Fragen nach Recht und Gerechtigkeit und nach einem adäquaten Umgang mit dieser Vergangenheit unbeantwortet. Die Petersberg-Vereinbarungen haben sich im Gegensatz zu anderen von den Vereinten Nationen getragenen Friedensabkommen nicht mit der Frage beschäftigt, wie "Transitional Justice"* aussehen könnte, und wie mit den Verbrechen der Vergangenheit umgegangen werden könnte. Der Hauptgrund dafür war, dass sich alle Vertragsparteien im Verlauf des Konflikts schwere Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen. Die Friedensgespräche fanden nicht zwischen einem Sieger und einem Verlierer statt, sondern zwischen verschiedenen "Verlierer-Gruppen", die es nach den US-geführten Koalitionsangriffen gegen die Taliban geschafft hatten, bestimmtes Terrain zurückzugewinnen. Die Stimmen der Opfer, die Gerechtigkeit forderten, wurden weder von den neuen afghanischen Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft zur Kenntnis genommen. Beide vertraten den Standpunkt "erst Frieden, später Gerechtigkeit".
Die internationale Gemeinschaft hat sich in anderen Nachkriegsländern in Fragen der "Transitional Justice" ganz anders positioniert. Im Irak verurteilte ein Sondergerichtshof den ehemaligen Staatschef Saddam Hussein wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Überprüfungsprozess für alle ehemaligen Mitglieder der Baath-Partei, die nach wie vor politisch aktiv sind, wird mit starker internationaler Unterstützung durchgeführt. Für den Internationalen Strafgerichtshof ist der Prozess gegen die "Lord's Resistance Army" aus Uganda von oberster Priorität. Im Fall von Afghanistan jedoch, das seit März 2003 das entsprechende Gesetz ratifiziert hat und seitdem Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofes ist, gibt es wenig Interesse mit den schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit umzugehen. Selbst wenn sie sich gerade erst ereignet haben. So brachte 2003 eine paramilitärische Gruppe in Bala Murghab in der Provinz Badghis 30 Menschen um, vergewaltigte Frauen und setzte das ganze Dorf in Brand. Obwohl die Menschen nach Gerechtigkeit riefen, taten die UN nicht mehr, als den Vorfall in einer öffentlichen Erklärung zu verurteilen. Einige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft gingen noch weiter. Um sich ihrer Hilfe im Kampf gegen den Terror zu versichern, unterstützen sie einige notorische Warlords politisch und finanziell. Dazu gehören Ali im Osten, Zadran und Shairmohmaad im Süden, Amanulah Zairkoh und Khan im Westen und General Dostum im Norden. Anstatt sie zu marginalisieren, wurden sie mit dieser Unterstützung in ihrer Position noch legitimiert.
Die Politik von "Frieden jetzt, Gerechtigkeit später" führt zu mehr Gewalt durch die lokalen Warlords und zu einem Zustand der Straflosigkeit. Diese Politik hat die Glaubwürdigkeit der neuen demokratisch gewählten Regierung in Afghanistan und den Friedensprozess in großem Maß untergraben. Im Gegensatz zu der klaren Forderung der Öffentlichkeit nach Überprüfung aller politischen Akteure auf ihre Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen wurden einige der bekanntesten Menschenrechtsverletzer auf wichtige offizielle Posten gesetzt. Die Justiz wurde politisiert. Eine große Zahl von korrupten und bekannten Menschenrechtsverletzern wurde Teil ihres Apparats. Wenn sich das fortsetzt, wird das Vertrauen der Menschen in die Regierungsinstitutionen vollends schwinden. Das spielt den Taliban in die Hände und wird die demokratischen Veränderungen in Afghanistan untergraben.
* Der Begriff umfasst Prozesse der Wahrheitsfindung, Reparationszahlungen und Strafverfolgung in Übergangsgesellschaften.