Gesundheit: Ein alternatives Modell

Eckpunkte eines anderen globalen Regierens. Auszüge aus dem "Global Health Watch"

17.11.2008   Lesezeit: 9 min

Im Oktober 2008 erschien der "Global Health Watch 2", der zweite alternative Weltgesundheitsbericht, herausgegeben u.a. vom People's Health Movement und mitfinanziert von medico international. Vor dem globalen Finanzcrash verfasst, beschäftigt sich der Bericht kritisch mit der globalen Gesundheitssituation und den Alternativen eines am Gemeinwohl orientierten öffentlichen Handelns. Die weltweite Finanzkrise rückt die Frage nach den alternativen Konzepten in den Mittelpunkt der Debatte. Wie der Philosoph Jürgen Habermas jüngst formulierte, verändern solche Gezeitenwechsel die Parameter der öffentlichen Diskussion und "das Spektrum der für möglich gehaltenen politischen Alternativen." Wir veröffentlichen Auszüge aus dem Einleitungskapitel.

Geht es um Gesundheit für Alle, dann ist das herrschende Entwicklungsmodell der radikalen Markt-Öffnung und Handelsliberalisierung eindeutig gescheitert. Die Kennziffern zur Gesundheitsverbesserung in den Entwicklungs- und Schwellenländern haben sich in den letzten 30 Jahren dramatisch verlangsamt. Aufgrund des Klimawandels stehen wir am Vorabend einer Umweltkatastrophe. In den Entwicklungs- und Schwellenländern stützt sich das marktliberale Wirtschaftsmodell auf eine an der Niedrighaltung von Inflation orientierten Geldpolitik, auf konkurrenzfähige Wechselkurse, die Privatisierung von staatlichen Unternehmen und öffentlichen Dienstleistungen, die Beseitigung von Schutzmaßnahmen für Landwirtschaft und Industrie, die Deregulierung der Märkte und Preise sowie eine streng limitierte Rolle des Staates. Durchgesetzt hat sich diese Strategie mit der Ölkrise von 1973, den Regierungsübernahmen der Republikaner in den USA und der Konservativen in Großbritannien, sowie mit der Übernahme der Reagonomics durch den Internationalen Weltwährungsfonds und die Weltbank in den 1980er Jahren.

In der Folge dramatischer Wirtschaftskrisen hatten insbesondere die Länder des subsaharischen Afrikas und Lateinamerikas keine andere Wahl, als die politischen Bedingungen des IWF und der Weltbank zu akzeptieren: Wer Finanzierungen brauchte, musste Strukturanpassungsprogramme (SAP) und "Armutsbekämpfungsmaßnahmen" übernehmen, die der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik engste Grenzen setzten und sich auf die Förderung minimaler sozialer Netze beschränkten.

Das angestrebte Wirtschaftswachstum allerdings blieb aus: Die Wirtschaft in Lateinamerika entwickelte sich mehr als enttäuschend, das subsaharische Afrika schlitterte in eine Katastrophe.

Heute steht die Menschheit vor drei großen Herausforderungen: die Beseitigung der Armut, die Verwirklichung des Menschenrechts auf gute Gesundheit, die Bewältigung des Klimawandels. Gemeistert werden können sie nur, wenn die in der globalen politischen Ökonomie verwurzelten Probleme angegangen werden, die ihren ersten Grund in der ungleichen Verteilung der globalen Ressourcen haben. Schon allein das aber stellt die global herrschende Wirtschaftspolitik der Liberalisierung und Kommerzialisierung fundamental in Frage.

Voraussetzungen für Alternativen

Viele Kritiker des gegenwärtigen Entwicklungsmodells sehen die Alternative in der Rückkehr zu einer aktiven interventionistischen Rolle des Staates. Ihr Vorbild ist entweder das ostasiatische Modell eines starken exportorientierten Staates oder das lateinamerikanische Modell einer import-substituierenden Industrialisierung. Doch auch wenn beide Modelle bezüglich des Wirtschaftswachstums wesentlich erfolgreicher waren als das neoliberale, setzten auch sie darauf, die Reichen reicher zu machen, um die Armen weniger arm werden zu lassen. In einer Welt aber, in der die CO2-Emissionen entscheidend verringert werden müssen, ist jedes Modell wachsenden Konsums in Frage zu stellen. Unser Vorschlag basiert deshalb auf vier Grundprinzipien:

I. Eine Alternative muss als zentrale gesellschaftliche Ziele Armutsreduzierung, Gesundheit, Bildung und ökologische Nachhaltigkeit umfassen.

II. Die vorgeschlagenen Politiken, Programme und Projekte sollten diese Ziele auf lokaler Ebene erreichen. Nationale Politiken sollten dazu dienen, diese lokalen Veränderungen zu unterstützen, zu fördern und zu erleichtern. Globale Systeme müssten wiederum vorrangig diese nationalen Strategien absichern und stärken. Diese Orientierung von "unten nach oben" ist genau das Gegenteil zum "Top-Down" der gegenwärtigen Prozesse, in dem nationale Politik auf extreme Weise von globalen ökonomischen Bedingungen abhängt.

III. Es geht darum, die Synergien zwischen Entwicklung, Umwelt, Gesundheit und Bildung bestmöglich zu verstärken. Das bedeutet, die sozialen und Umweltfaktoren der Gesundheit und die Gesundheitsversorgungssysteme als ein miteinander verwobenes holistisches Bezugssystem zu begreifen.

IV. Ein alternatives Modell sollte auf Kooperation, nicht auf Konkurrenz und auf einem effektiven System globalen Regierens (global governance) beruhen, das in der Lage ist, einen demokratischen Entscheidungsprozess mit einem langfristigen Horizont zu organisieren.

Armutsreduzierung

Um soziale und ökologische Ziele zu erreichen, muss die Existenzgrundlage der Armen verbessert werden. Dazu könnte gehören: die Vergabe von Mikrokrediten und einkommensschaffende Maßnahmen, öffentliche Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen im Infrastrukturbereich, eine öffentliche Förderpolitik für mittlere, kleine und Kleinstunternehmen, Fördermaßnahmen für arme Bauern, soziale Unterstützungsnetze, Existenzgeld-Programme.

Dort, wo Landbesitz in wenigen Händen konzentriert ist, könnte eine Landreform entscheidende Impulse zur Armutsreduzierung und Entwicklung liefern. Verbesserte Landrechte hätten auch positive Auswirkungen auf die informellen Siedlungen in den städtischen Räumen.

Manche Ansätze werden in einzelnen Programmen bereits durchgeführt. Wir schlagen aber zwei wesentliche Änderungen vor: Diese Programme dürfen kein Randdasein mehr führen, sondern gehören ins Zentrum der jeweiligen nationalen Wirtschaftspolitik: Nur so können sie effektiv wirken. Und: Nachhaltig werden diese Programme nur, wenn es gelingt, mit dem steigenden Bedarf die armen Haushalte in die Erzeugung der Güter einzubeziehen.

Ein solches Herangehen hätte wichtige Vorteile. Ein Dollar mehr Einkommen bei den Ärmsten bewirkt weitaus mehr als bei den reicheren Schichten (und wäre wahrscheinlich weitaus umweltschonender). Die ärmsten Haushalte geben ihre zusätzlichen Einkommen eher für notwendige Güter und Dienstleistungen aus, die lokal durch andere arme Haushalte hergestellt werden. Im Ergebnis wird mehr Extra-Geld unter den Armen kursieren als je durch den "Trickle-Down"-Effekt von den Reichen zu den Armen herabfließen wird.

Energie-Management

Es gibt große Besorgnis über die wachsenden CO2-Emissionen von China, Indien oder Brasilien. Allerdings sind die Pro-Kopf-Emissionen im Norden weitaus höher. Eine Reduzierung der CO2-Emissionen des Südens, die durch zusätzlichen Konsum als Folge von Armutsbekämpfung entstehen, erfordert eine entschlossene Wende weg von der fossilen, hin zur erneuerbaren Energiegewinnung. Bislang ist die Installierung von kleinen erneuerbaren Energiesystemen zu teuer. Das könnte sich schlagartig ändern, wenn solche Technologien für alle unterentwickelten ländlichen Regionen der Länder niedrigen und mittleren Einkommens angewandt würden. Würden globale Einrichtungen zu diesem Zweck geschaffen, finanziert durch Hilfsgelder oder andere internationale Ressourcen, hätte das enorme Wirtschafts- und Lern-Effekte. Das könnte vielleicht auch die reichen Länder dazu bewegen, endlich die Energiewende in Angriff zu nehmen.

Öffentliche Haushalte

In allen Entwicklungsländern ist der öffentliche Sektor erheblich eingeschränkt worden. Der Staat wurde abgebaut und seine Ausgaben maßgeblich reduziert. Verschärft wurde das Ganze noch durch fortgesetzte Einschränkung der administrativen Möglichkeiten zur Steuererhebung. Der staatliche Einkommensverlust konnte durch die Einführung von Mehrwertsteuern, eine beliebte neoliberale Alternative zu Steuern auf Einkommen und Gewinne, kaum aufgefangen werden. Das betrifft insbesondere die ärmsten Länder. Die Rehabilitierung des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Dienste ist dringend notwendig.

In vielen Ländern sind Infrastrukturprogramme dringend notwendig. Aus gesundheitlicher Sicht haben Wasser und sanitäre Anlagen dabei höchste Priorität. Der Zugang zu Wasser könnte durch eine entsprechende Tarifstruktur gesichert werden, die kostenlose Wassernutzung für lebensnotwendigen Grundbedarf vorsieht.

Globales Regieren

So wichtig nationale Programme sind: eine Chance haben sie nur mit einem globalen Politikwechsel. Die gegenwärtigen Institutionen, in denen globales Regieren praktiziert wird, sind Belege ihrer kolonialen Wurzeln. Ihnen mangelt es an Inklusion, Gleichheit der Stimme, Transparenz und Rechenschaftspflicht. Das 1944 etablierte globale Wirtschaftssystem hat keine Antwort auf die Fragen und Notwendigkeiten des frühen 21. Jahrhunderts. Es dient in keiner Weise den ökonomischen Interessen der Weltbevölkerungs-Mehrheit. Es reflektiert auch nicht die modernen Standards demokratischen Regierens. Hier gibt es enormen Handlungsbedarf für fundamentale Reformen.

Internationale Finanzen

Es ist absolut notwendig, das verbliebene Schuldenproblem zu lösen. Die Kosten der Schuldenkrise für die Entwicklung und ihre direkten und indirekten sozialen Folgen sind unkalkulierbar geworden. Die Schulden der Länder sollten so weit reduziert werden, dass sie nicht ihre Fähigkeit zur Armutsbeseitigung, Gesundheitsversorgung und Bildung behindern. Es bedarf eines globalen Besteuerungssystems, um globale Institutionen und globale öffentlicher Güter zu finanzieren. Dieses globale Steuersystem (Spahn-Steuer, Tobin-Steuer u.v.m.) könnte auch für Entwicklung eingesetzt werden. Idealerweise wäre das mit einer Kollektivierung der Hilfe zu verbinden, die durch demokratische globale Institutionen zu verteilen wäre.

Außerdem müssen die von globalen Institutionen verhängten Besteuerungslimits zurückgenommen werden. Die internationale Koordinierung von Besteuerungsraten auf Finanzkapital und Unternehmensgewinne verhindert den schädlichen Standort-Wettbewerb um Niedrigsteuern. Das Schließen von Steueroasen und die Festlegung von Mindeststeuern auf Einkommen aus Finanzkapital und Unternehmensgewinnen würden sofort zu erheblich höheren öffentlichen Haushalten führen. Letztlich bedarf es einer demokratisch kontrollierten und von kommerziellen Interessen gänzlich freien internationalen Steuer-Institution.

Zivilgesellschaft

Im letzten Jahrzehnt ist der Einfluss der Zivilgesellschaft auf die globale Wirtschaftspolitik beachtlich gewachsen. Gestärkt wurde sie durch die Entwicklung globaler Netzwerke wie das Weltsozialforum und das People's Health Movement. Die Durchsetzung der Schuldenreduzierung für arme Länder, die Verhinderung des Multilateralen Investitionsabkommens, welches die Rechte von Auslandsinvestoren erweitern wollte, die Blockade der WTO-Abkommen auf den Ministertreffen in Seattle und Cancún wären hier unter anderem zu nennen.

So wichtig diese Erfolge waren, so sehr muss man auch deren Grenzen anerkennen: Sie haben lediglich Schlimmeres verhütet. Nichtsdestotrotz spielt die Zivilgesellschaft als Akteur der Veränderung eine Schlüsselrolle. Die dringlichste Aufgabe des globalen zivilgesellschaftlichen Engagements besteht darin, eine demokratische Reform der globalen Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Denn hierin liegt der entscheidende Grund für die Mängel des globalen Wirtschaftssystems und des gegenwärtigen Entwicklungsmodells. Wenn es nicht gelingt, globale Strukturen des Regierens fundamental zu ändern, werden zivilgesellschaftliche Bemühungen nicht mehr als Schadensbegrenzung erreichen.

Solange nördliche Regierungen den Entscheidungsprozess über eine Reform des globalen Regierens beherrschen, werden sie diese Dominanz für ihre Interessen nutzen. Es ist deshalb wesentlich, diesen Demokratisierungsprozess aus den gegenwärtigen Entscheidungsstrukturen herauszunehmen und in einen neuen separaten Prozess einzuspeisen. Er müsste in einer neuen Bretton-Woods-Konferenz (1) enden, die allerdings die gegenwärtigen Demokratiestandards erfüllen müsste: Inklusion, Gleichheit der Stimmen, Transparenz und Rechenschaftspflicht.

Eine große globale Kampagne für einen solchen neuen Bretton-Woods-Prozess, die das ganze Spektrum der Zivilgesellschaft umfasst und die Regierungen der einkommensschwachen und der Schwellenländer mit einschließt, wäre ein Riesenschritt hin zu einem globalen Wirtschaftssystem, das die Gesundheit von vielen über den Wohlstand weniger setzt.

1) Das Bretton-Woods-System, benannt nach der Konferenz von Bretton Woods im Jahr 1944, war ein Währungssystem, das vom goldhinterlegten US-Dollar als Leitwährung bestimmt war und im Jahr 1973 zusammenbrach.

Bestellungen des Textes oder der CD bitte bei der medico-Zentrale unter der Telefonnummer: 069-944380.


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