Vom 21. bis 24. Oktober 2012 fand zum vierten Mal der World Health Summit in Berlin statt. Diesen sogenannten Weltgipfel haben 2009 die Berliner Charité und die Universität Paris Descartes ins Leben gerufen. Heute sind die Hauptanteilseigner die Messe Berlin und die Werbeagentur Visit Berlin; die Charité hält 15 %. Beim Lesen der Pressemitteilungen drängt sich der Eindruck auf, die Veranstalter verstünden Weltgesundheit als Werbegag. Die Organisatoren wollen die touristische Attraktivität Berlins erhöhen und ein „Davos der Medizin“ schaffen. Ganz unverblümt nennen sie ihre Ziele: „Im Fokus steht, Berlin als Kongressdestination zu stärken, Wissenschaft, Forschung, standortübergreifende Gesundheitspolitik und das öffentliche Gesundheitswesen zu fördern und so weitere Gesundheitskongresse und Großveranstaltungen für Berlin zu interessieren.“
Wenn auch das öffentliche Gesundheitswesen nur deshalb gefördert werden soll, um Berlin attraktiver zu machen, so ist dies immerhin ein Fortschritt. Beim letzten Gipfel stand es noch nicht auf dem Programm. Damals waren neben der Politik fast ausschließlich private Gesundheitsdienstleister und Pharmakonzerne eingeladen. Der Blick richtete sich nur auf medizinische Probleme in den Industrienationen, Präventionsmedizin kam nicht vor. Deshalb organisierte medico gemeinsam mit 20 gesundheits- und entwicklungspolitischen Organisationen die alternative Gegenkonferenz „Public Eye on Berlin“.
Einsprüche statt kooptierte Kritik
Beim diesjährigen World Health Summit waren auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen Partner der Veranstalter, die vor vier Jahren noch Teil der Alternativkonferenz waren. Zu den Sprechern gehörten renommierte Experten für Public Health.
Darum stellte sich durchaus die Frage, ob der World Health Summit einen Raum geboten hätte, um mit Kritik Politiker und Mediziner zu erreichen: „Reingehen und aufweichen oder sauber bleiben.“ Das bezeichnete Rolf Rosenbrock bei der Veranstaltung „Menschen vor Profite – Ein kritischer Einspruch“ am 22. Oktober als Frage des Abends. Dazu hatte medico gemeinsam mit Attac, der Buko Pharma-Kampagne, Diakonie, IPPNW, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte und dem Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten in die Berliner Kalkscheune geladen. Die Buchautorin Silke Helfrich („Commons – Für eine Politik jenseits von Markt und Staat“) und Prof. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes, diskutierten mit medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer mögliche Alternativen zum gesundheitspolitischen Konzept des World Health Summit.
Schnell wurde deutlich, dass auch dieses Jahr der Weltgesundheitsgipfel grundsätzlich falsch konzipiert war. Für Thomas Gebauer war es schon das Wort „Welt“: „Da stellt sich die Frage, welche Welt gemeint ist?“ Angefangen mit dem Hauptredner Joseph Ackermann zeige die Auswahl der Sprecher, wessen Interessen im Vordergrund ständen. Die Anzahl der Referenten, die aus der Industrie kamen, war viermal so groß wie die der Sprecher aus Entwicklungsländern. Vor allem aber stand die Ausrichtung des Gipfels der Idee von Public Health entgegen. „Die Frage ist: Will ich Markt und Individuum oder will ich Gleichheit und Gesundheit?“, formulierte Rolf Rosenbrock, der über 15 Jahre die Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin leitete.
Die sozialen Bedingungen entscheiden
In seinem Vortrag erläuterte Rosenbrock einige Grundannahmen. Gesundheit entstehe nicht in erster Linie durch medizinisch-technischen Fortschritt, sondern durch die Verbesserung der Gesamtbedingungen. So sank die Anzahl der Tuberkulosefälle ab Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich, obwohl erst 1943 ein Antibiotikum zur Verfügung stand. Der Grund für den Rückgang war die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse und Ernährung. Nach Rosenbrocks Berechnungen liegt der Beitrag der Medizin zur Eindämmung chronisch degenerativer Krankheiten seit 1950 bei Frauen bei 20-40 %, bei Männern nur bei 10 %.
Der World Health Summit aber behaupte die Dominanz der Medizin für das gesundheitliche Geschehen. Damit liegt er im Trend: Nur 1,7 Promille der Ausgaben der Krankenkassen werden für Primärprävention verwandt. Die beste Primärprävention ist soziale Gerechtigkeit. Rosenbrock wies auf die Erkenntnisse des Buches „Gleichheit ist Glück“ der US-amerikanischen Wissenschaftler Kate Pickett und Richard Wilkinson hin: Je gerechter die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt würden, umso gesünder seien die Menschen – und zwar nicht etwa nur gesamtgesellschaftlich, weil es weniger Arme gebe. Auch die Reichen würden weniger krank. Doch diese Erkenntnis werde nicht umgesetzt, sondern im Gegenteil immer mehr „auf den einzelnen Fall und die Herzklappe“ geschaut, sagte Rosenbrock. Das sei im Interesse des medizinisch-industriellen Komplexes. Es ginge darum, Produkte zu bieten, die vermarktbar seien. Public Health erschaffe keine solchen Produkte.
Commons vs. öffentliche Güter
Die Analyse teilte Silke Helfrich. Sie sieht aber weniger ein Verteilungs-, denn ein Einstellungsproblem: „Man muss fragen, was will ich erreichen, nicht was will ich den anderen verkaufen.“ Helfrich verortet die Lösung in Commons oder Gemeingütern, die nicht mit öffentlichen Gütern zu verwechseln seien. Bei öffentlichen Gütern sorge der Staat dafür, dass alle Zugang haben, so Helfrich: „Das hat einen versorgungstechnischen Drall.“ Bei Commons oder Gemeingütern werde hingegen der Unterschied zwischen Konsumenten und Produzenten aufgehoben. Die Menschen produzierten das, was sie brauchen - und verkauften, wenn sie etwas darüber hinaus produzieren. Ihre Commons verwalteten sie selbst. Helfrich ist davon überzeugt, dass „wir rausmüssen aus der Illusion“, der Staat werde es richten. Für sie war die entscheidende Frage des Abends, wie man das Denken ändern könne und „dass es neben der Dichotomie von öffentlich gegen privat noch etwas Drittes gibt“.
Ein bisschen „wolkenmäßig“, befand Rolf Rosenbrock. Für ihn bleiben die sozialen Bewegungen der zentrale Adressat. „Wo man etwas mit dem Staat machen kann, habe ich nichts dagegen.“ Thomas Gebauer griff die Idee des Dritten auf: „Es geht nicht um Staat oder Nicht-Staat, sondern um eine andere, eine neue Staatlichkeit, die nicht privaten Wirtschafts- und Machtinteressen dient, sondern den Bedürfnissen der Menschen verpflichtet ist.“ Als Beispiel nannte er die gesetzliche Krankenversicherung. „Die Gesetzliche ist zwar staatlich reguliert, sie könnte aber auch gemeinschaftlich kontrolliert werden.“
Hannah Wettig
Die vollständige Videodokumentation der Veranstaltung finden Sie auf unserer Internetseite unter: www.medico.de/einspruch