Gesundheit: Keine Utopie

Warum die WHO an ihrem Ziel "Gesundheit für Alle" festhalten sollte.

07.03.2007   Lesezeit: 5 min

Was man von der neuen Direktorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Margaret Chan erwarten kann, ist Spekulation. Was notwendig wäre, das beschreibt Alison Katz in ihrem offenen Brief an die neue Führung. Nichts weniger als einen Paradigmen-Wechsel fordert die langjährige Mitarbeiterin der WHO und Aktivistin des People's Health Movement in ihrem Brief, den wir in Auszügen veröffentlichen.

Sehr geehrte Frau Doktor Chan,

bevor Sie die Führung der WHO übernahmen, war diese internationale Behörde jahrzehntelang einem permanenten Druck von mächtigen Minderheiten ausgesetzt. In dieser Zeit ist die WHO der neoliberalen Globalisierung zum Opfer gefallen. Ein Teil der WHO-Mitarbeiter auf höchster und mittlerer Ebene haben versucht, wenigstens die schlimmsten Auswüchse dieses Prozesses zu verhindern. Aber der angerichtete Schaden ist groß. Da ist nicht nur die Tragödie der vermeidbaren Krankheiten und der Skandal, dass daran nach wie vor Millionen von Menschen sterben. Da ist auch die Tatsache, dass die WHO viele Freunde unter den Menschen verloren hat, die auf sie angewiesen sind. Stattdessen hat sie reiche und mächtige "Partner" gewonnen, die vor allen Dingen auf Ausweitung ihrer Einflusszonen erpicht sind.

{rs200701_20jpg class="rechts"} Die Welt braucht eine Rückkehr zu den Zielen sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit. Im Gesundheitsbereich ist dies das Versprechen der "Erklärung von Alma Ata". Der WHO-Slogan "Gesundheit für Alle" war Ergebnis eines 30-jährigen Prozesses, von 1945 bis 1975, in dem es um eine gerechtere und damit gesündere Welt ging. Das war die Zeit der Entkolonisierung, als die Notwendigkeit, Macht und Ressourcen umzuverteilen, noch Common Sense war. Damals waren alle davon überzeugt, dass eine universelle und umfassende öffentliche Verantwortung existiert, um den wichtigsten Gesundheitsbedürfnissen der Menschen zu entsprechen.

Wenn die Zyklen von Fortschritt und Rückschritt etwa 30 Jahre betragen, dann könnte jetzt nach 30 Jahren Rückschritt, in denen mächtige Minderheiten ihre Interessen durchgesetzt haben, wieder die Chance bestehen, 30 Jahre Fortschritte hin zu sozialer Gerechtigkeit zu erreichen. Einige Ihrer Aussagen stärken bei mir die Vermutung, dass Sie diesen Prozess beschleunigen könnten. Sie identifizieren Armut und Unsicherheit als zwei der größten Bedrohungen für Harmonie; ein Begriff, der – wie Sie zutreffend anmerken – "zum Kern der WHO-Charta gehört”. Sie sagen, dass "Gesundheit mit Entwicklung und mit Sicherheit verbunden ist, und daher auch mit Harmonie.” Eine Perspektive von sozialer Gerechtigkeit würde noch einen Schritt weiter gehen: Frieden und Sicherheit sind von hier aus ohne Gerechtigkeit nicht zu erreichen.

Ungleichheit macht krank

Wir sollten uns heute auf die Ungleichheit und nicht nur auf die Armut konzentrieren. Denn ungleiche Machtverhältnisse verursachen Armut und Unsicherheit. Ungleichheit ist – jenseits materiellen Wohlstands oder materieller Entbehrungen – schlecht für die Gesundheit und für eine gefestigte, sichere und gesunde Gesellschaft. Einige Daten, die die Schere der Ungleichheit verdeutlichen: Heute besitzen 1 % der Erwachsenen 40 % der globalen Vermögenswerte; die reichsten 10 % besitzen sogar 85 % weltweit. Diese Ungleichheit ist nicht nur grotesk, sondern tödlich.

Es ist in Mode gekommen, sich mit den Armen auseinander zu setzen, indem man Partnerschaften mit den "Reichen" eingeht. Wenn man das fundamentale Problem der Ungleichheit angehen will, dann muss man dieses Muster vom Kopf auf die Füße stellen. Man muss sich mit den Reichen auseinandersetzen. Sie sind die Architekten einer Politik, die Ungleichheiten produziert und verstärkt.

Angemessene Steuereinkünfte

Sie stellen fest, dass "die Landschaft des öffentlichen Gesundheitswesens eine komplexe und dicht gedrängte Arena von Aktivitäten geworden ist, mit einer wachsenden Anzahl von Gesundheitsinitiativen”, und Sie erinnern uns daran, dass die WHO "aufgrund ihrer Charta das Mandat besitzt, im Bereich der Gesundheit zu koordinieren und die Richtung vorzugeben." Wie Sie wissen sind Public Private Partnerships zum politischen Paradigma für globale Gesundheitsarbeit geworden – trotz der offensichtlichen Interessenskonflikte. Behörden und Organisationen mit öffentlicher Verantwortung "verpartnern” sich mit dem privatwirtschaftlichen Sektor, weil nur noch er über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügt. Neoliberale Wirtschaftsauflagen haben dafür gesorgt, dass Steuereinnahmen als Grundlage öffentlicher Budgets sukzessive zurückgefahren wurden – auf Druck transnationaler Konzerne und internationaler Finanzinstitutionen.

Wie kann die Lösung des Problems darin liegen, dass man bei dem Sektor betteln geht, der für dieses Problem verantwortlich ist? Die Lösung ist vielmehr wirtschaftliche Gerechtigkeit. Dazu gehören auch angemessene nationale und internationale Steuersätze, um eine entsprechende Finanzierung für alle öffentlichen Dienste und öffentlichen Institutionen wie der WHO durch reguläre Budgets sicherzustellen.

Sie berichten, dass "die Geldsummen, die von Stiftungen sowie öffentlichen Institutionen und Regierungen zur Verfügung gestellt werden, so hoch wie nie zuvor” seien. Das wäre positiv, wenn Sie in der Lage wären, diese Gelder entsprechend Ihren Visionen und Prioritäten einzusetzen – wie es Ihr Recht und Ihre Pflicht ist. Aus meiner Sicht kann das nur gelingen, wenn die WHO selbst über ein zu 70% gesichertes Budget verfügt, um unwillkommene Einflussnahme zurückzudrängen. Der private Sektor hat in der Entwicklung und Ausgestaltung einer nationalen und globalen öffentlichen Gesundheitspolitik nichts zu suchen.

Privatisierung von Wissen

Sie benennen technische Kompetenz als eine der vier Vorzüge der WHO und Sie stellen fest, dass "die WHO die wissenschaftliche Forschungs- und Entwicklungsagenda beeinflussen muss.” Dann sollten die Kommerzialisierung von Wissenschaft und die enge Beziehung zwischen der Industrie und den akademischen Institutionen bei der WHO größte Besorgnis auslösen. Die international renommierte Fachzeitschrift für Gesundheitsfragen "The Lancet" hat festgestellt, dass "akademische Institutionen ein eigenes Geschäft geworden sind, die versuchen, Forschungsergebnisse und -entdeckungen für ihre eigenen Zwecke zu vermarkten, statt ihren unabhängigen wissenschaftlichen Status zu bewahren." Genauso beunruhigend sind die rein auf Handel bezogenen Regularien zum Schutz des geistigen Eigentums. Das ist eine nie zuvor da gewesene Privatisierung von Wissen. Wissen muss jedoch in der öffentlichen Hand bleiben – zugänglich für alle.

Angesichts des anhaltend hohen Maßes von vermeidbaren Krankheiten und dem damit einhergehenden alarmierenden Wiederaufleben von alten und neuen Infektionskrankheiten, angesichts der verheerenden Auswirkungen von Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit auf die öffentliche Gesundheit kann sich die Welt eine "Wissenschaft der Konzerne" nicht leisten. Die WHO besitzt die Autorität und Kompetenz und muss deshalb die Führung in Sachen öffentliches Wissen übernehmen. Sie muss die Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung bestimmen, sie muss sie finanzieren und dafür Sorge tragen, dass das Wissen im Sinne aller angewandt wird.

Doktor Chan, Ihre Visionen sind eine Inspiration für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der WHO. Sie werden Mut und Überzeugungskraft benötigen, um sie gegen eine mächtige Opposition durchzusetzen.

Herzlichst Ihre Alison Katz

Übersetzung: Heike Kleffner


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