Der Krieg in Afghanistan geht in sein viertes Jahrzehnt, ein Ende ist nicht abzusehen. Die medico-Partnerorganisation Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO) bringt vor Ort Überlebende zusammen, die sich erinnern und gegenseitig Rechenschaft ablegen. In „Memory Boxes“ stellen sie Hinterlassenschaften von nahen Verwandten aus, die den Krieg nicht überlebt haben. Sechs dieser Erinnerungskisten wurden im Juni 2018 im medico-Haus öffentlich ausgestellt, ergänzt durch Exponate aus der „Bibliothek der Generationen“, einem Erinnerungsprojekt im Historischen Museum Frankfurt. Eigentlich sollte Hadi Marifat, Geschäftsführer von AHRDO, schon auf dem medicoFestakt Ende Mai in Berlin über diese Arbeit berichten. Doch die Erteilung eines Visums wurde verschleppt. Anfang Juni klappte es schließlich, so dass er die Ausstellung in Frankfurt miteröffnen konnte. Hier wurde auch dieses Interview geführt.
medico: Die Memory Boxes sind schon eine Weiterführung der Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit von AHRDO. Die Basis bildet das „Theater der Unterdrückten“. Wie kam es dazu?
Hadi Marifat: Vielleicht kann ich das über meine eigene Geschichte erzählen: Nach dem Zusammenbruch des Taliban Regimes kehrte ich 2001 wie viele andere afghanische Flüchtlinge zurück. Ich wollte dazu beitragen, ein demokratisches Afghanistan aufzubauen und arbeitete für internationale Organisationen. Diese Erfahrung war extrem ernüchternd. 2008 habe ich gemeinsam mit anderen vom Krieg Betroffenen an einem Workshop teilgenommen, in dem wir die Methode des Theaters der Unterdrückten kennenlernten. Ich habe dabei erlebt, wie Opfer, in diesem Fall Menschen mit furchtbaren Kriegserlebnissen, tatsächlich dadurch gestärkt wurden. Ich habe die Energie im Raum gespürt, alles war interaktiv und bedeutsam. Die Methode hat uns überzeugt. Also haben wir selbst eine Organisation gegründet, um Kriegsopfer und andere marginalisierte Gruppen der Gesellschaft damit zu erreichen. So entstand 2009 AHRDO.
Was funktioniert dabei so gut?
Der partizipative Ansatz hat sich bewährt. Gerade bei den vielen Analphabetinnen und Analphabeten, mit denen wir zu tun haben, ist diese Methode sehr wirksam. Die Übungen und Spiele schaffen eine vertrauensvolle Atmosphäre, so dass die Menschen schließlich bereit sind, ihre Geschichten und Probleme mit den anderen Anwesenden zu teilen. Und das ist sehr wichtig in einem Land wie Afghanistan mit seiner langen Geschichte von Kriegen und Konflikten, in dem das Fundament des Vertrauens nachhaltig zerstört wurde.
Das Teilen von Erinnerungen spielt eine wichtige Rolle. Kamt ihr so auf die Idee mit den Memory Boxes?
Ja, genau. In der afghanischen Öffentlichkeit gibt es keinen Raum und kein Konzept für Erinnerung. Deswegen ist es für die Menschen schwierig, Verbindungen zwischen den verschiedenen Konflikten zu ziehen, die Afghanistan in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. Wir wollten erreichen, dass die Menschen das ganze Bild sehen und Möglichkeiten finden, miteinander in Beziehung zu treten. Das ist auch das Ziel der Memory Boxes: Dass die Leute sich austauschen und merken, wie lange schon das Leben in Afghanistan von Gewalt erschüttert ist. Wir haben Boxen, die an die sowjetische Intervention von 1979 erinnern, an die Zeit der Mudschaheddin, die der Taliban und auch welche aus der gegenwärtigen Phase.
Wie laufen die Workshops ab? Kommt es vor, dass dort Menschen aufeinandertreffen, die sich gegenseitig vorwerfen, auf der Seite der Täter zu stehen?
Das kommt vor, aber eine sehr viel größere Herausforderung ist es, wenn Opfer verschiedener Konflikte, verschiedener ethnischer Gruppen und mit verschiedenen religiösen Hintergründen sich miteinander vergleichen. Manchmal gibt es einen regelrechten Wettbewerb, wem schlimmeres Unrecht angetan wurde. Die Workshops dauern eine Woche. In den ersten beiden Tagen sprechen wir gar nicht darüber, was die Einzelnen erlebt haben. Wir bauen erstmal Vertrauen auf. Am Ende gibt es immer viel mehr Verständnis füreinander, oft sagen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann: „Egal, was genau uns jeweils angetan wurde, eins haben wir gemeinsam: Wir sind alle Opfer. Wir müssen uns zusammentun und für einen Wandel in diesem Land eintreten, damit es Gerechtigkeit gibt.“
Über Geschichte und Erinnerungen zu sprechen, bedeutet auch immer etwas für die Gegenwart und die Zukunft. Was möchtet ihr mir eurer Arbeit erreichen?
Wir wollen eine andere Erzählung in Umlauf bringen. Schulkinder in Afghanistan lernen nichts darüber, was in den 1980er und 1990er Jahren wirklich passiert ist. Stattdessen werden Erzählungen wie die des Dschihad glorifiziert. Es gibt sogar ein Museum in Herat, für das ein Warlord alles Mögliche über die Mudschaheddin zusammengetragen hat. Aber die Erzählung der Opfer fehlt komplett in der Geschichtsschreibung des Landes. Es gibt keine Hinweise darauf, wie der Dschihad das Leben von Millionen Afghaninnen und Afghanen zerstört hat.
Wir sagen: Ja, es gab den Dschihad, aber vergesst nicht, was er den Menschen in Afghanistan angetan hat. Das Gleiche gilt für alle Ideologien, die in Afghanistan mit Gewalt verbreitet wurden, auch für den Kommunismus und die Taliban. Selbst heute im Namen der Demokratie werden Menschen tagtäglich Opfer von Gewalt. Das alles hat mit einer Kultur der Straflosigkeit zu tun. Nach vierzig Jahren Krieg und unzähligen Opfern sind die Täter immer noch in machtvollen Positionen. Für uns ist es daher auch wichtig, die Kultur der Straflosigkeit anzugreifen, denn in ihr gedeiht die Gewalt. Jedes Jahr kostet die Gewalt Tausende von Menschenleben. Aber nicht ein Täter wurde bislang zur Rechenschaft gezogen.
Was denkst du, wenn du hörst, dass Europa Afghanistan zu einem sicheren Land erklärt und immer mehr Menschen dorthin abschiebt – zusätzlich zu denen, die aus Pakistan und Iran nach Afghanistan zurückkehren müssen?
Ich denke: Sie schicken die Menschen in den Krieg. Es ist falsch zu behaupten, es gebe sichere Gegenden in Afghanistan, auch Kabul ist nicht sicher. Ich lebe dort. Jeden Tag gibt es einen oder mehrere Anschläge. Wir leben in einem Zustand von permanenter Angst und Terror, und ich kann nicht verstehen, wie man Menschen in solche Verhältnisse abschieben kann. Wir wissen von Abgeschobenen aus Europa, die nach ihrer Rückkehr bei Selbstmordattentaten verletzt wurden. Wenn behauptet wird, nach der Rückkehr werde vor Ort etwas für die Menschen getan, stimmt auch das nicht. Weder die afghanische Regierung noch sonst jemand tut etwas für sie. Ich habe versucht, die Internationale Organisation für Migration zu erreichen, die für Rückkehrer zuständig ist. Sie haben einfach aufgelegt. Die Abgeschobenen sind nach der Rückkehr vollkommen auf sich allein gestellt. In den meisten Fällen können sie nicht nach Hause zurückkehren. Oft haben sie das ganze Vermögen ihrer Familien aufgebraucht, um nach Europa zu gehen. Deshalb bleiben viele in den Städten und versuchen, Geld zu verdienen, um erneut ausreisen zu können, zum Beispiel erstmal in den Iran und dann weiter nach Griechenland und anderswohin.
Ihr habt ein neues Projekt gestartet, mit dem ihr rausfinden möchtet, was mit Abgeschobenen nach ihrer Rückkehr passiert.
Uns interessiert ihre gesamte schwere Reise, beginnend in Afghanistan über die illegale Einreise in Europa, das Leben dort, den Asylantrag, das Asylverfahren, die Ablehnung und schließlich die Deportation. Es ist wichtig, diese Geschichten zu erzählen, die Wahrheiten der Abgeschobenen, die bislang keine Aufmerksamkeit erhalten. Wir recherchieren jetzt erstmal, aber wenn wir die Situation der Abgeschobenen besser verstanden haben, würden wir gerne unsere Erfahrungen nutzen, um mit ihnen gemeinsam Lösungen für ihr Leben zu erarbeiten.
Das Interview führte Ramona Lenz.
Im Juni 2018 kündigte Bundeskanzlerin Merkel bei der Regierungsbefragung an, dass abgelehnte Asylbewerberinnen und -bewerber aus Afghanistan wieder uneingeschränkt abgeschoben werden. Dies spricht der Lage vor Ort Hohn wie selbst die Expertinnen und Experten des Bundesaußenministeriums eingestehen, die von einer „weiterhin volatilen Sicherheitslage“ in Afghanistan sprechen. Umso wichtiger sind die entlarvenden Recherchen von AHRDO über die Situation von Abgeschobenen – und unsere Unterstützung.
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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!