Chilenisches Tagebuch

Götterdämmerung des Neoliberalismus?

17.06.2021   Lesezeit: 4 min

Wird der Neoliberalismus an einer seiner Geburtsstätten überwunden? Von Katja Maurer und Mario Neumann

Am Ende war es eine Kleinigkeit, die etwas ganz Großes in Gang setzte. „Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre": Im Oktober 2019 begann der chilenische Aufstand gegen den Neoliberalismus. Auslöser war eine geplante Fahrpreiserhöhung der U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago um 30 Pesos. Die Gegenproteste und ungehorsamen Aktionen von Schüler:innen erweiterten sich schnell zu einer allgemeinen Bewegung, die weite Teile des Landes erfasste. Meinungsumfragen ermittelten in diesen Zeiten Zustimmungswerte zu den Protesten von bis zu 80 Prozent in der Bevölkerung. Nach einer Phase linker Regierungen in Lateinamerika, die mit einer extensiven Wirtschaftsweise versuchten, eine Umverteilung zu ärmeren Schichten zu gewährleisten, schien das Reservoir transformatorischer Optionen in Lateinamerika vorerst ausgeschöpft. Doch der Wind drehte sich – und das ausgerechnet im neoliberalen Musterland Chile. 

Daran hat auch die Pandemie nichts geändert. Durch den Druck der Bewegung kam es im Oktober 2020 zu einem Referendum. Die Bevölkerung war vor zwei Fragen gestellt: Erstens, ob es anstelle der extrem neoliberal ausgerichteten Diktatur-Verfassung von 1980 eine neue Verfassung geben sollte und zweitens, ob diese durch einen neu zu wählenden Verfassungs-Konvent oder die bestehenden politischen Institutionen erarbeitet werden wird. Bezeichnenderweise gab es nicht nur für beide Fragen eine große Mehrheit, es votierten sogar mehr Menschen für einen neu gewählten Konvent als für die neue Verfassung: Wenn schon neu, dann bitte ganz.

Das hat Gründe. Chile gilt zurecht als das Vorzeige- und Geburtsland des Neoliberalismus. Nach dem Putsch gegen die gewählte Regierung von Salvador Allende im Jahr 1973 waren es vor allem die weltbekannt gewordenen „Chicago Boys“, die international diese Vorreiterrolle verkörperten und so etwas wie eine neoliberale Avantgarde bildeten. Im Leitartikel des Wall Street Journal, nicht einmal zwei Monate nach dem Putsch, hieß es: „Eine Anzahl chilenischer Ökonomen, die in Chicago studiert haben und in Santiago unter dem Namen Chicago School bekannt sind, steht zum Loslegen bereit. Es wird ein Experiment sein, das wir aus akademischer Sicht mit großem Interesse verfolgen“.

Die Chicago Boys wurden dann unter Pinochet tatsächlich zu Funktionsträgern und maßgeblichen Architekten im diktaturgestützten Labor eines „autoritären Liberalismus“ (Grégoire Chamayou), dessen Experimente weit über das Land hinaus Unterstützung genossen. Die Ideen Milton Friedmans und Friedrich August von Hayeks hatten die Chicago Boys schon in den USA beeinflusst und fasziniert, im Chile Pinochets waren die beiden Vordenker des Neoliberalismus dann gern gesehene Gäste des Präsidenten und verteidigten dessen diktatorischen Weg zur neoliberalen Freiheit des Kapitals vor der Weltöffentlichkeit.

Heute, knappe 50 Jahre später, geht in Chile möglicherweise – ähnlich symbolträchtig wie einst – zu Ende, was damals begonnen wurde. Im April 2021 wurde der Verfassungs-Konvent gewählt und die Ergebnisse haben selbst bekennende Optimist:innen überrascht. Nicht nur sind die regierenden Parteien deutlich abgestraft worden und erreichten nicht einmal die 1/3 Sperrminorität. Viele der gewählten Vertreter:innen sind nicht in der etablierten politischen Landschaft verortet, sondern in lokalen Bewegungen und Communities verankert.

Der so zusammengesetzte Konvent soll in den nächsten 12 Monaten einen Verfassungsentwurf ausarbeiten, der dann in einem weiteren Referendum zur Abstimmung steht. In der neu gewählten verfassungsgebenden Versammlung, in der zur Hälfte Frauen sitzen und indigene Völker endlich angemessenen repräsentiert sind, werden Normen einer neuen demokratischen Verfasstheit verhandelt, die auch die Wiedergewinnung des Politischen ermöglichen soll und in der auch die Grenzen des Nationalen zur Debatte stehen. Im November diesen Jahres stehen außerdem die Präsidentschaftswahlen in Chile an: Der nächste Test auf die tiefe Krise der Repräsentation steht also unmittelbar bevor.

Der chilenische Prozess ist ein paradigmatisches Beispiel und geht uns alle an. Denn er steht nicht bloß symbolisch für die Frage einer post-neoliberalen Gesellschaft und der ihr zugehörigen politischen Verfasstheit, er findet auch statt in einer Zeit großer Umwälzungen, die die verschleppte Krise des neoliberalen Kapitalismus von allen Seiten herausfordern und sich durch die Pandemie verschärft haben. Während sowohl die USA als auch die Europäische Union mit großen Hilfs- und Reformprogrammen gewissermaßen „von oben“ an den eigenen neoliberalen Paradigmen rütteln und der Klimawandel das Weiter-so herausfordert, wollen wir auf diese Prozesse auch durch die chilenische Brille blicken. Denn sie eröffnet uns einen alternativen Blick auf die Auseinandersetzungen um ein post-neoliberale Zeitalter und verbindet sie mit der alles entscheidenden Frage nach Demokratie und Menschenrechten.

Wir können also heute unter veränderten Vorzeichen das Wall Street Journal aus dem Jahr 1973 zitieren: „Es wird ein Experiment sein, das wir aus akademischer Sicht mit großem Interesse verfolgen“. Und selbstverständlich nicht nur aus dieser Sicht.


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