Medien und Politik neigen seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 zur Pathologisierung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan als unzurechnungsfähigem „Diktator“. Es dominiert das Narrativ von einem gewählten Präsidenten, der als Demokrat startete und spätestens nach dem fehlgeschlagenen Putsch vollends zum Autokraten mit wahnhaften Zügen wurde. Aber ist diese Erzählung wirklich zutreffend? Wieviel Ressentiments bedienen auch Linke, wenn sie von einem neuen „Sultanat“ in der Türkei sprechen?
Die Strafmaßnahmen der türkischen Regierung scheinen derartige Urteile zu belegen: die Massenverhaftungen, der Ausnahmezustand, die Gleichschaltung der Presse, die permanente gewaltförmige Mobilisierung der Straße, der anhaltende Krieg in den kurdischen Gebieten – überhaupt die autoritäre Tendenz, gesellschaftliche Widersprüche sofort und militärisch durch eine Quasi-Ausmerze lösen zu wollen ohne auch nur den Anschein einer vermittelnden Instanz.
Mittlerweile können Verhaftete wieder wie in den schlimmsten Zeiten der Militärdiktatur bis zu 30 Tage ohne Rechtsbeistand inhaftiert bleiben. Die Berichte mehren sich, dass die Folter, die nie wirklich abgeschafft war, wieder verstärkt zum Einsatz kommt. Hinzu kommt die immer dominantere Rolle der Religion in der Sprache der aktuell herrschenden politischen Klasse. All das spricht für die Etablierung eines religiösen Führerstaates: ein klarer Verstoß gegen die Werte von Demokratie und Aufklärung. In den Augen der deutschen und allermeisten europäischen Medien zeigt sich hier erneut, dass diese Türkei nicht „reif für Europa“ ist – auch wenn die Regierungen mit ihr in der Flüchtlingsfrage aus Gründen der eigenen Demokratieräson paktieren. Soweit der allgemeine Tenor der Berichterstattung.
Der Putsch als Katastrophe
Aber vielleicht ist es gerade für kritische Linke angebracht, einen etwas nuancierten Blick zu wagen. Nur so wird es nämlich möglich, die tatsächlichen Gefahren ebenso wie die politischen Chancen für mögliche demokratische Auswege analysieren zu können. Es ist völlig richtig festzustellen, dass Erdoğan den gescheiterten Putsch aus Teilen der Militärs dafür nutzt, eine neue Form des popularen Autoritarismus zu institutionalisieren. Er verlässt dafür die repräsentative Form des allmächtigen und allgegenwärtigen Staatspräsidenten und etabliert sich als bonapartistischer Führer, der versucht seine Herrschaft aus unterschiedlichsten Kreisen der Bevölkerung zu legitimieren. Zum einen wird er durch seine unmittelbare Gefolgschaft gestützt, also jene Zehntausende, die sich in der Nacht des Putschversuches aktiv gegen die Panzer und Militär stellten und damit nicht nur den „reis“, den geliebten religiösen Führer verteidigten, sondern letztlich auch ihre Demokratie vor dem Zugriff der Militärs schützten. Hätte es diese Bewegung nicht gegeben, hätte der Putsch möglicherweise erfolgreich sein können. Zum anderen stützt sich Erdoğan jetzt aber auch vermehrt auf jene gesellschaftlichen Kreise, die ihn eigentlich ablehnen, die aber trotz ihrer säkularen Grundeinstellung und Feindschaft gegenüber dem politischen Islam nicht bereit waren, einen Putsch aktiv zu unterstützten. Zu traumatisch ist die Erinnerung an die Herrschaft der Militärs in den 1980er Jahren.
Durch den Ausnahmezustand entmachtete Erdoğan das parlamentarische System.
Durch den Ausnahmezustand entmachtete Erdoğan das parlamentarische System, entledigte sich der öffentlichen Meinungsfreiheit und setzte die verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte aus – die in den kurdischen Gebieten der Türkei ohnehin nie galten. All diese Tendenzen sind nicht neu und waren spätestens nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 der Modus von Erdogans Herrschaft, nachdem die linksdemokratische und prokurdische HDP-Partei mit 13 Prozent ins Parlament einzog und die 13-jährige AKP-Alleinregierung beenden konnte. Gibt es somit nur zwei gleichermaßen schlechte Alternativen, quasi „Faschismen“ in der Türkei – hier Erdoğan, dort die Putschisten? Nein, das wäre ein gefährlicher Vergleich, der die Militärs verharmlosen und Erdoğan unnötig dämonisieren würde. Ein erfolgreicher Putsch wäre eine menschliche und politische Katastrophe für die Türkei gewesen. Insoweit spricht es für die türkische Gesellschaft, dass dieser Putschversuch am aktiven Widerstand der AKP-AnhängerInnen und der passiven Verweigerung der säkularen Mittelklasse gescheitert ist. Wichtig ist auch, dass sich die kurdische Opposition vorbehaltlos gegen den versuchten Staatsstreich positionierte – und zugleich den Autoritarismus der Regierung kritisierte.
Säuberung unter seinesgleichen
Die aktuelle Verhaftungs- und Suspendierungswelle im türkischen Staatsapparat weckt Erinnerungen an finsterste Säuberungsaktionen. Zugleich ist es aber auch der Versuch, jede Form von geheimer Herrschaft innerhalb der Staatsbürokratie endgültig auszuschalten. Die Rolle des Gülen-Netzwerkes wird jetzt propagandistisch aufgebläht, aber de facto war es über mehrere Jahrzehnte eine ungeheure Macht im Staat, die nicht nur die Politik, sondern auch weite Bereiche des Militärs kontrollierte. Gefolgsleute des islamistischen Predigers saßen an den Schaltstellen im Polizei- und Justizapparat, in den Ministerien und im Offizierskorps. Fethullah Gülen stammt aus der Nurculuk-Bewegung, der wichtigsten islamischen Bewegung in der Geschichte der Türkei. Die Bewegung propagierte von Beginn an eine Art Synthese von westlichen Staatsaufbau und religiöser Herrschaft. Ohne das Gülen-Netzwerk wäre eine im Kern plebejische Partei wie die AKP niemals in der Lage gewesen, die ersten zehn Jahre ihrer Herrschaft gegenüber der alten kemalistischen Elite zu überdauern. Gülen hatte die Intelligenz des Apparats, Erdoğan besaß das Vertrauen der Massen. Gülens Bewegung ist mit einer Art islamistischer Scientology vergleichbar, die AKP mit einem islamischen Front National. Einig waren sich beide in ihrer reaktionären Frömmelei, ihrem religiösen Führerkult und Obskurantismus; verbunden waren sie in ihrem Hass auf alle Linken und durch ein tiefsitzendes antikurdisches Ressentiment.
Die umfassende Säuberung birgt aber auch große Unruhe. Unzählige Schlüsselfunktionen müssen umgruppiert oder neu besetzt werden, die Staatsbürokratie ist extrem geschwächt, niemand scheint mehr sicher.
Jetzt versucht Erdoğan seinen alten Koalitionspartner unwiderruflich zu liquidieren. Mehrmals hatte die Gülen-Bewegung ihn und seine AKP-Elite durch die Veröffentlichung heimlich mitgeschnittener Telefongespräche kompromittiert, die Korruptionsvorwürfe sowie Interventionsabsichten im syrischen Bürgerkrieg betrafen. Seitdem wusste die AKP-Führung, dass es in ihrer Partei selbst, im Militär und in der Verwaltung ein Netzwerk gab, das sich nicht nur ihrer Kontrolle verweigerte, sondern das auch nicht davor zurückschreckte, Erdogan als den politischen Führer anzugreifen. Gülenisten hatten sich offenbar mit kemalistischen Hardlinern im Militär verbunden, um Erdoğan zu beseitigen. Der gescheiterte Putsch bedeutet für sie mehr als nur ihr politisches Todesurteil. Wenn zehntausende Beamte und Militärs verhaftet oder suspendiert werden, wird ihnen auch die ökonomische Lebensgrundlage genommen: Ihre Pensionsansprüche erlöschen, ihre Wohnungen und Vermögenswerte werden beschlagnahmt.
Die umfassende Säuberung birgt aber auch große Unruhe. Unzählige Schlüsselfunktionen müssen umgruppiert oder neu besetzt werden, die Staatsbürokratie ist extrem geschwächt, niemand scheint mehr sicher. Zahlreiche Militärs, die noch vor kurzem im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung als Helden der Nation galten, werden nun im Fernsehen nackt, geschlagen und ihrer Würde beraubt als „Vaterlandsverräter“ vorgeführt. Wenn sich aber alle fragen müssen, wer der nächste ist und wenn niemand mehr unantastbar ist, dann kann eine solche Verunsicherung auch zu einer weiteren Destabilisierung der ohnehin angeschlagenen Macht führen.
Entmachtung des Militärs
Im Rahmen dieser gesellschaftlichen Paradoxie setzt der Staatspräsident eine Reform des Militärapparates durch, von denen die liberale und linke Opposition in der Türkei bestenfalls träumen konnte. Die türkischen Streitkräfte, die bisher eine in den NATO-Staaten einmalige Stellung außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle besaßen, werden der Regierung untergeordnet. In den bürgerlichen Demokratien Westeuropas ist das der Normalzustand, für die Türkei ist es ein historischer Vorgang. Die Befehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftwaffe sind nicht mehr dem Generalstab gegenüber rechenschaftspflichtig, sondern allein dem Verteidigungsministerium. Die Befehlsgewalt liegt von nun an beim Minister und dem Staatspräsidenten.
Auch die schwer bewaffnete Gendarmerie, eine besonders in den kurdischen Gebieten gefürchtete Heereseinheit zur inneren Aufstandsbekämpfung, wird der Generalität entzogen und dem Innenministerium unterstellt. Sämtliche Militärakademien des Landes – bislang Hort der kemalistischen Stahlhelm-Demokratie, in denen Jahrzehnte lang die militärische Elite in einem von der Außenwelt abgeschotteten Internatswesen ihre Offiziersnachwuchs aus 14-jährigen Kadetten heranzüchtete – werden geschlossen und in eine von der Regierung kontrollierte neue „Verteidigungsuniversität“ überführt. Das Verteidigungsministerium soll die Lehrpläne erarbeiten und die Offizierslaufbahn wird künftig für Absolventen aller Schulen – inklusive der religiösen Iman-Hatip-Gymnasien – geöffnet. Die höheren Offiziersränge werden damit erstmals für die religiöse Bewegung zugänglich und damit auch der gesellschaftlichen Realität angepasst. Jede bürgerliche Regierung wäre allein bei dem Ansinnen einer solchen Heeresreform vom Militär weggefegt worden. Nachdem das Militär sich politisch selbst erledigt hat, kann Erdogan nun aber handeln – und hat in dieser Frage eine Bevölkerungsmehrheit hinter sich, die weit über seine eigene Gefolgschaft hinausgeht.
Gleiches gilt für den „Hohen Militärrat“, der turnusmäßig zweimal im Jahr tagt und bislang ein Ort des politischen Mysteriums und des gesellschaftlichen Geraunes war. Bislang wurden die Karrieren hoher Militärs und damit über den Fortgang der Republik allein von Militärs entschieden. Auch das ist Vergangenheit: Ein neuer Proporz – mehr Minister und weniger Generäle – stärkt auch hier die Legislative, wenngleich diese jetzt zu 100 Prozent von der AKP gestellt wird.
Von hoher gesellschaftlicher Symbolkraft ist auch der Beschluss, die großen Militäreinrichtungen aus den urbanen Zentren zu verlegen. Der öffentliche Raum, besonders in den größeren Städten, wird vielfach von großflächigen und abgeschirmten Kasernenanlagen dominiert. Die AKP will jetzt die Panzer an die Stadtgrenzen verbannen und einen etwaigen erneuten „Putsch der kurzen Wege“ verhindern. Diese quasi „exterritorialen Areale“ der Streitkräfte waren bislang der öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Nutzung nicht nur entzogen, sie waren auch – gerade in den kurdischen Gebieten – in ihrer unübersehbaren militärischen Präsenz eine manifeste Drohung gegen jede Form von politischer Opposition.
Widersprüchliche Transformation
Auch hier zeigt sich die Widersprüchlichkeit der aktuellen Transformation in der Türkei. Die Armeereform der AKP verwandelt das Militär formal in eine Parlamentsarmee – was im westlichen Sinne als „modern“ gilt – und sie öffnet die Streitkräfte zugleich für einen religiösen Autoritarismus. Oder anders ausgedrückt: Ein Staatspräsident versucht aus einer ihm ideologisch noch immer feindlich gesonnenen Armee seine eigene „Revolutionsgarde“ zu machen.
Parallel gibt es eine beispiellose Mobilisierung der Straße gegen den gescheiterten Militärputsch, die von Erdoğan in Form eines andauernden Plebiszits benutzt und gesteuert wird. Es ist eine Massenmobilisierung, die von der Regierung organisiert und kontrolliert wird. Zugleich hat sie einen spontanen und plebejischen Charakter, in der die Stimme der „ungehörten muslimischen Mehrheit“ die Straße bestimmen will. Es ist nicht die gesellschaftliche Mehrheit, wie die gleichgeschaltete türkische Medienlandschaft zu behaupten versucht, aber die aktive Menge ist tagtäglich groß genug, um zu verdeutlichen, dass all jene, die bereit waren sich den Panzern in den Weg zu stellen, auch in der Lage wären, jede zivile Opposition gegenüber der AKP und ihre Vorstellung einer „islamischen Nation“ militant zu bekämpfen.
Aber auch wenn Erdoğan heute vielen als der „Retter der Nation“ gilt, braucht er zur Zeit die Einheit mit den Oppositionsparteien – selbstverständlich ohne die kurdische HDP –, um sich als demokratischer Führer der unteilbaren Nation darstellen zu können. Denn außenpolitisch ist Erdoğan isoliert wie nie. Die AKP propagierte im Nahen Osten eine Pax Ottomana, eine aggressive Außenpolitik, die das versunkene osmanische Reich als Vorreiter und Hüter einer muslimischen Gemeinschaft verstand und dieses wiederauferstehen lassen würde. Erdoğan fehlinterpretierte den arabischen Frühling als Siegeszug der Muslimbruderschaft, als dessen natürlicher Führer er sich selbst sieht. In Ägypten setzte er auf Präsident Mursi – und verlor. In Syrien unterstützte er radikalislamische sunnitische Kämpfer und verstärkte die antikurdischen Tendenzen innerhalb der syrischen Oppositionsgruppen. Dennoch entstand mit Rojava im syrischen Grenzgebiet zur Türkei eine neue kurdische Autonomiezone, die maßgeblichen Einfluss auf die innertürkische „Kurdenfrage“ ausübt. Die USA misstrauen mittlerweile der AKP-Regierung bezüglich ihres Kampfes gegen den IS-Terror derart offensichtlich, dass Erdoğans Vermutung, das Pentagon habe zumindest um die gescheiterten Putschpläne gewusst, wahrscheinlich richtig ist. Auch Europa paktiert im „Flüchtlingsdeal“ nur noch notgedrungen mit ihm, und auch hier sind die Signale eindeutig: Wir handeln mit dir, weil du die Macht hast, uns die Flüchtlinge vom Hals zu halten, aber du bist niemals einer von uns.
Illiberale Demokratie als höchste Form des Autoritarismus
Fakt ist, dass es in der Türkei derzeit keine Alternative zu Erdoğan und der AKP gibt. Solange kein alternatives gesellschaftliches Angebot der Opposition existiert, bleibt die AKP die einzige Macht im Staat. Die AKP-Elite wollte nie die Macht mit anderen teilen. Ihr Image basiert in weiten Teilen noch immer auf dem Narrativ, der tatsächliche Akteur der späten Demokratisierung der Türkei zu sein. Sie entwickelte zu diesem Zweck sehr flexible Mechanismen der Umverteilung in Form von sozialen Diensten, die besonders den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten zu Gute kamen. Millionen von Armen erhalten so monatlich ungefähr 400 Euro. Es ist eine klientelistische Politik der Sozialhilfe („Hizmet Siyaseti“), die bewusst nicht als eingeschriebenes Gesetz in der Staatsbürokratie verankert wurde, sondern unmittelbar an das Netzwerk der Partei gekoppelt bleibt. Insoweit haben jene Armen, die von dieser Förderung abhängig sind, das Gefühl alles zu verlieren, wenn sie die AKP als Regierungspartei nicht mehr unterstützen würden. Bewusst koppelte die AKP diese strategische Alimentierung an die Frauen in den Familien. Das erklärt auch, warum Erdoğan trotzt seines patriarchalen Politikverständnisses gerade bei ärmeren Frauen eine unverhältnismäßig hohe Zustimmung erfährt.
Ist für Erdoğan die Demokratie nur Mittel zum Zweck, und ist er in Wahrheit ein „religiöser Faschist“, wie viele behaupten?
Ist für Erdoğan die Demokratie nur Mittel zum Zweck, und ist er in Wahrheit ein „religiöser Faschist“, wie viele behaupten? Auf der Ebene der Phänomene und Bilder mag das stimmen, analytisch ist er aber eher Protagonist eines kompetitiven Autoritarismus, wie er auch in Russland zu beobachten ist. Es ist eine Form der illiberalen Demokratie gekoppelt mit einem neoliberalen Oligarchen-Kapitalismus, in der verschiedene Parteien konkurrieren und reguläre Wahlen stattfinden. Zugleich wird die Opposition unter massivem Druck gesetzt. Insoweit ist Erdoğan nicht so weit von einem europäischen Ungarn unter Orbán entfernt. Die „fortgeschrittene Demokratie“, wie Erdoğan die aktuelle Phase nach dem gescheiterten Putsch nennt, ist daher keine nahöstliche Spielart eines überkommenden Despotismus, sondern die sehr moderne Idee einer antagonistischen Mehrheitsdemokratie mit einer bewegungsförmigen Hegemonialpartei und ausgestattet mit einer umfassenden Exekutivdominanz. Der neoliberale Kapitalismus hat damit keine Probleme. Ähnliche Entwicklungen im asiatischen Raum zeigen, dass die autoritäre Demokratie eher das Role Model der globalen Wirtschaftsordnung der Zukunft wird, denn ihre liberale, westliche Spielart der europäischen Nachkriegsordnung.
Was tun?
Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma dieses Autoritarismus? Ja, ein demokratischer Ausweg ist denkbar, allerdings findet er nun unter nochmals erschwerten Bedingungen statt. Innerhalb der Türkei sind ca. 30.000 Menschen verhaftet worden, knapp 80.000 StaatsbürgerInnen wurden die Pässe entzogen. Während des Putschversuches kamen 238 Menschen ums Leben und mehr als 2.000 wurden verletzt. Die öffentliche Meinung in den Massenmedien ist quasi gleichgeschaltet, zahlreiche JournalistInnen sind suspendiert und verhaftet worden – darunter auch sehr viele linke und kurdische MedienaktivistInnen, die seit mehr als einem Jahr über den anhaltenden Krieg im kurdischen Südosten des Landes berichtet haben. Seit längerem versucht Erdoğan auch die kritische Intelligenz an den Hochschulen auszuschalten.
Die türkische Linke jedoch ist trotz lokaler Stärke und Mobilisierungsfähigkeit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene quasi nicht existent. Ihre traditionalistischen Organisationen konkurrieren weiterhin gegeneinander und ihr reduktionistischer Revolutionstraditionalismus macht sie letztlich unattraktiv für das individuelle Freiheitsbedürfnis einer neuen modernen linken Jugend- und Subkultur, wie sie sich in den Protesten um den Gezi-Park 2013 artikulierte.
Die kurdische HDP-Partei steht unter extremem Druck – ihr droht die Verhaftung ihrer aktivsten Generation und damit das Ende eines Versuches, die Interessen einer urbanen liberal-demokratischen WählerInnenschaft im türkischen Westen zu verbinden mit den Forderungen der kurdischen Bevölkerung im kurdischen Osten nach Anerkennung, kommunaler Selbstverwaltung und kultureller Autonomie. Die „Politik des Wartens“ auf einen wie auch immer gearteten Ausgleich und Friedensprozess mit dem türkischen Nationalismus wurde zuletzt aufgehoben und machte dem Wunsch nach einer Selbstverwaltung im Hier und Jetzt Platz. Das forderte vor allem eine zunehmend militante Jugendbewegung in den kurdischen Städten des Südostens, die vom Widerstand im syrisch-kurdischen Kobanê inspiriert den Aufstand probte. Dieser im Nachhinein schier aussichtslose Kampf, der aber auch als ein Versuch des aktiven Selbstschutzes gegen die anhaltende Gewalt der staatlichen Repression zu begreifen ist, endete in einem auch für türkische Verhältnisse äußert brutalen Krieg in den Städten. Zahlreiche Viertel in kurdischen Städten, die zugleich die Hochburgen der HDP sind, wurden zerstört und zwangsentvölkert. Hunderte Menschen starben, geschätzte 800.000 BewohnerInnen verloren ihre Häuser, Hab und Gut. Statt „ein neues Leben aufzubauen“, wie es der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas einst als Ziel kurdischer Politik formulierte, errichtete die militärische „Nekropolitik“ (Mbembe) der AKP-Regierung regelrechte Todeszonen im sozialen Raum und entzog damit großen Teilen der kurdischen Bevölkerung ihre urbane Lebensgrundlage.
Zarte Hoffnungsschimmer
Eine demokratische Alternative allein aus den kurdischen Gebieten und deren Partei, der HDP, ist damit aussichtsloser denn je. Die Wiederkehr der Massaker zwingt die kurdische Politik entweder in die Kapitulation des Wartens auf eine neue, mögliche Geste der Konzilianz Erdoğans, oder in eine militärische Konfrontation, die in sich die Tendenz zum destruktiven Bürgerkrieg trägt. Was tun? Richtig bleibt, was Selahattin Demirtas zuletzt in Izmir auf einer Kundgebung sagte: „Multireligiöse Gesellschaften können nur durch den Laizismus zusammengehalten werden“. Einen Schimmer von Hoffnung vermittelt auch das kurdische Angebot an die demokratische Opposition in der Türkei, eine neue plurale und demokratische Allianz zu konstituieren, die sowohl die Rückkehr des kemalistischen Ancien Régime ablehnt als auch Tendenzen zum religiösen Führerstaat bekämpft. Mehr denn je geht es in der Türkei jetzt darum, alle ausgeschlossenen Gruppen in der Gesellschaft zu einem gemeinsamen radikal-demokratischen Zukunftsblock zusammenzuführen. Dieses Projekt verlangt vor allem die Transformation des Türkischseins in eine Idee einer offenen pluralen Gemeinsamkeit, in der die Differenz der anderen – exemplarisch die Rechte und der Status der KurdInnen – nicht als Gefahr, sondern als Komponente wirklicher Demokratie begriffen wird. Für die kurdische Bewegung geht es aber auch um die erneut eröffnete Frage, ob eine demokratische Gesellschaft und damit die Anerkennung eines kurdischen Kommunitarismus im Hier und Jetzt dieser Türkei tatsächlich möglich ist.
medico international steht als dezidiert progressive Nichtregierungsorganisation an der Seite all jener, die in der Türkei für einen demokratischen Multikulturalismus kämpfen; all jener, die versuchen den Nationalismus hinter sich zu lassen, die darum kämpfen die strukturellen sozialen Ungleichheiten aufzuheben und tatsächliche Möglichkeiten einer demokratischen Partizipation und Emanzipation durchzusetzen. Die kurdische Frage ist mehr denn je eine türkische Frage. Die sozialen Bewegungen und die europäische Zivilgesellschaft müsste sich dies offenherzig und solidarisch zu eigen machen – geht es doch letztendlich um die Idee einer Demokratie ohne Grenzen über alle Grenzen. Wer von einem demokratischen und freien Europa aller für alle spricht, sollte mit sämtlichen politischen Möglichkeiten all jenen beistehen, die in Istanbul, Ankara, Diyarbakır, Cizre, Kobanê oder Qamishli für ihre und die Freiheitsrechte aller einstehen. Es sind mehr als wir oft denken, wir müssen sie nicht nur sehen – wir müssen sie auch verstehen wollen.