Von Katja Maurer
Vor einem Jahr traf ich den chilenischen Botschafter in Haiti. Von der Mitte-Links-Regierung Bachelet eingesetzt, verkörperte er diesen sonnigen Optimismus ehemaliger von Pinochet vertriebener Oppositioneller, die nun in Regierungsämtern das Gefühl haben, irgendwie für die Nichtanerkennung und Verfolgung in der Vergangenheit entschädigt worden zu sein. Wahrscheinlich reicht schon die Tatsache, dass wir von der medico-Partnerin Suzy Castor, einer in ganz Lateinamerika bekannten Historikerin, geschickt wurden, um als Teil einer politischen Familie mit all ihren Zerwürfnissen zu gelten. Jedenfalls glaubte er mich zu kennen, weil er schon ahnte, dass auch ich eine politische Sozialisation habe, die von den chilenischen Ereignissen 1973 ff. geprägt ist. Ich kannte ihn nicht, wollte aber wissen, was mit den Haitianerinnen und Haitianern, die zu diesem Zeitpunkt nach Chile ausgewandert waren, passieren werde. 200.000 hatten bis 2018 die Visumsfreiheit zwischen Haiti und Chile zur Einwanderung in das südliche Andenland genutzt.
In der Botschaft war Überraschendes zu erfahren. Vor einem Jahr noch Boomland, war Chile sehr aufnahmebereit und unbürokratisch. Man habe Interesse, so der Botschafter, die Haitianer*innen möglichst schnell mit einem sicheren Aufenthaltsstatus zu versehen. Nötig seien dafür ein Pass und ein polizeiliches Führungszeugnis. Da letzteres von den haitianischen Behörden nicht schnell genug geliefert werden könne, habe man sich für die Zusammenarbeit mit Interpol entschieden. Auch Familiennachzug hatte Chile recht einfach geregelt. Nachweise über Spanischkenntnisse verlangten sie keine. Die Kinder der Einwander*innen würden dann schon Spanisch lernen, so der Botschafter.
Ein Jahr später sind die Grenzen zu Chile dicht. Man braucht für ein Besuchsvisum, Krankenversicherung und Rücklagen, wie weltweit in der Flüchtlingsabwehr üblich. Auch alle anderen Wege, der haitianischen Misere zu entkommen, verschließen sich. Die USA haben in Haiti ihre Konsularabteilung zur Erstellung von Visa geschlossen. Eine Katastrophe für Angehörige der Hunderttausenden in den USA lebenden Haitianer*innen. Die Grenzkontrollen zur dominikanischen Republik sind immer engmaschiger und gleichen sich europäischen und US-amerikanischen Normen der Biometrie an.
Dieses Grenzregime hat enorme Auswirkungen auf das Land selbst und auf die haitianischen Communities außerhalb Haitis. Denn bedroht ist das, was für die soziale Entwicklung Haitis bislang von großer Bedeutung war: die grenzübergreifende Infrastruktur und die Herausbildung eines grenzübergreifenden nationalen Selbstverständnisses. Wer zu einem guten haitianischen, kreolsprechenden Arzt will und es sich leisten kann, fliegt eben kurz nach Miami. Zwei Flugstunden entfernt gibt es eine haitianisch geprägte Infrastruktur. Auch Treffen der über den Kontinent verstreuten Verwandtschaft finden gern in der bunten Küstenstadt Floridas statt. Das ist natürlich eine Mittelschichtserzählung. Aber die Mittelschicht hat Haiti sukzessive verlassen und der gescheiterte Wiederaufbau nach dem Erdbeben von 2010 hat diesen Trend noch verstärkt. 70.000 flohen nach dem Erdbeben in die USA.
Der seit über einem Jahr andauernde Protest in Haiti, der sich seit Oktober 2019 in einen permanenten Aufstand verwandelt hat, hat einen Ausgangspunkt genau in diesem transnationalen Selbstverständnis. Begonnen haben die Demonstrationen und Proteste, nachdem die Ergebnisse mehrerer Untersuchungskommissionen des haitianischen Parlaments über den Petrocaribe-Skandal zu keinerlei politischen und juristischen Maßnahmen führten. Die offiziellen Untersuchungen stellten fest, dass zwei Milliarden Dollar der venezolanischen Hilfsgelder entwendet wurden. Beschuldigt wird dabei auch der gegenwärtigen Präsident Jovenel Moïse, dessen Absetzung seither von fast allen haitianischen Parteien und Organisationen gefordert wird.
Die Petrocaribe-Gelder waren ein Langzeitkredit der venezolanischen Regierung unter anderem an Haiti. Öl wurde zu einem bewusst billigen Preis weitergegeben, mit der Erlaubnis, es auf dem Weltmarkt zu weitaus höheren Preisen zu verkaufen, um aus dem Gewinn dringend nötige Sozialprogramme zu finanzieren. Die angekündigten Sozialprojekte wurden in Haiti nie verwirklicht. Eine Gruppe junger Leute aus der nordamerikanischen Diaspora richtete eine Webseite ein, auf der man den Ist-Zustand von angeblich mit dem Geld finanzierten Projekten posten konnte. Diese Idee gründete eine Jugendbewegung, die bis heute ein Pfeiler des Widerstands gegen die Regierung ist. Bis ins Detail konnten die jungen Leute im ganzen Land nachweisen, dass statt Projekten allenfalls Bauruinen entstanden sind. Bereichert hat sich eine haitianische Elite, die sich den Staat angeeignet hat, während die haitianische Bevölkerung auf dem Kredit aus Venezuela sitzen bleibt. Das hat in der gesamten haitianischen Community weltweit für enorme Empörung gesorgt.
Dieser transnationale Echoraum des Widerstands gegen eine korrupte Politik und gegen die Straflosigkeit vollzieht sich vorwiegend in den sozialen Netzwerken und den Medien des Südens. Während über den Aufstand in Haiti, seine Verzweiflung und seine Vielfalt – es demonstrieren junge Leute, aber auch Gesundheitsarbeiter*innen und die Kirchen mit ihren Gläubigen – fast niemand in den westlichen Medien berichtet, hat Al Jazeera längst das Thema entdeckt und mehrfach in großen transatlantischen Diskussionsrunden, geführt von einer klugen Moderatorin mit Kopftuch und professioneller Maske, ergründet. Der Initiator der Petrocaribe-Bewegung forderte dort nichts weniger als den Rücktritt aller Politikerinnen und Politiker. Ein neues System müsse her, das die Würde der Haitianer*innen wieder herstelle. Eine Wortwahl, die man von anderen Aufständen derzeit kennt.
Der legitime Widerstand in Haiti trifft auf die sture Ignoranz der Herrschenden, die offenbar eine bürgerkriegsähnliche Entwicklung inkaufnehmen, anstatt den Weg zu einer politischen Lösung zu öffnen. Sie können sich dabei von der sogenannten internationalen Gemeinschaft in Form der Core-Group, der neben der UNO, Kanada, den USA und Frankreich auch Deutschland angehört, unterstützt fühlen. Die Core-Group setzt auf ein Weiter-So mit Präsident Moïse. Es scheint, als habe das nationale und internationale Establishment für Haiti, das mit seinem Befreiungskampf das Symbol für die Universalität der Menschenrechte ist, keinen anderen Plan, als es dem Vergessen anheim zu geben. Kein anderes Schicksal also als das der Haiti-Geflüchteten, deren Perspektiven von Chile bis in die Dominikanische Republik trostlos sind. Das aber ist unhaltbar. Der Aufstand geht also weiter.
Siehe auch die Blogs von Katja Maurer zu Haiti. Im Frühjahr erscheint das von ihr mit verfasste Buch „Haitianische Renaissance“ bei Brandes und Apsel.
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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!