Im Park der freien Rede

Im kurdischen Diyarbakir trifft sich das 2. Mesopotamische Sozialforum

24.09.2011   Lesezeit: 7 min

Es ist das Donnern der startenden F-16-Kampfjets über dem Sümerpark, die allen Teilnehmern des zweiten Mesopotamischen Sozialforums in der kurdischen Großstadt Diyarbakir die drohende Kriegsgefahr einer großangelegten Militärintervention der türkischen Armee im Nordirak (Südkurdistan) mehrmals am Tag in Erinnerung rufen. Fast trotzig wirkt jetzt das diesjährige Motto des Sozialforums „Die Freiheit wird sich durchsetzen“, dass das Organisationsteam bereits vor Monaten auswählte. Zwar verhinderte ein massiver Polizeieinsatz mit Panzerwägen und einem angedrohten Tränengasnebel die traditionelle Auftaktdemonstration, am Veranstaltungsort selbst aber hält sich die ansonsten allgegenwärtige martialische Polizei trotz aller Eskalation in der Region (500 Festnahmen, 110 Verhaftungen kurdischer Aktivisten und Politiker allein in den letzten 10 Tagen!) dennoch merklich zurück.

Der Park entpuppt sich als einer der selten freien Orte Kurdistans in der Türkei und die wenigen Zivilpolizisten, die sich auf das Gelände trauen, werden von Jugendlichen schnell entlarvt und mit lauten Beschimpfungen und Parolen vertrieben. Den weitläufigen Sümerpark hat die gewählte, pro-kurdische Stadtregierung von Diyarbakir dem Sozialforum zur Verfügung gestellt. Für Erkan Ok, der im Organisationskomitee des Forums arbeitet, sind die dreitägigen Workshops und Podiumsveranstaltungen schon jetzt ein Erfolg. „Wir haben im Verhältnis zum ersten Forum vor zwei Jahren bereits im Vorfeld einen viel engeren Kontakt zur Bevölkerung gesucht“, betont der junge Ingenieur, die ansonsten in der Stadtverwaltung von Diyarbakir arbeitet und in seinem schwarzen T-Shirt mit Symbolen der mexikanischen EZLN-Guerilla und seiner ausgewaschenen Militärhose auch problemlos in einem autonomen Zentrum in Deutschland verkehren könnte. „Wir haben durch zehn Vorfeldveranstaltungen in verschiedenen Städten die Themen des Forums einer Abstimmung unterzogen“. Herausgekommen sei eine Konzentration auf die Fragen Arbeit, Armut, Frauen und Ökologie - und natürlich die Muttersprache, denn noch immer ist Kurdisch in der Türkei eine geächetet Sprache.

Seit Beginn des Forums sitzen im Sümerpark jeden Tag zwischen 10 Uhr Morgens und 20 Uhr abends ca. 1500 bis 2000 Leute, davon auffällig viele jüngere Männer und Frauen, die Tee trinken, ihre Workshops planen, oder in verschiedenen Gruppen tanzen, Musik machen oder politische Diskussionen führen. Natürlich fehlen auch in Diyarbakir nicht die illuminierten Gruppen der orthodoxen türkischen Linken, die noch immer glauben mit alten Klassenkampfparolen die neue Türkei umkrempeln zu können, aber das Bild prägt die kurdische Kultur und ihre politischen Aktivisten. Und diese Szene ist in den letzten Jahren äußerst vielfältig geworden. Natürlich hört man wie die Jugendliche Lieder der kurdischen PKK-Guerilla singen oder deren Vorsitzenden Öcalan hochleben lassen, aber es gibt auch kurdische Anarchisten in schwarzen T-Shirts, Umwelt- und Frauengruppen, am Rande des Parks baut eine alternative Baugruppe ein nachhaltiges Musterhaus aus Lehm und zahlreiche kurdische Stadtverwaltungen stellen an ihren Ständen bürgernahe Gemeindeprojekte zu Fragen der Müllsammlung, Gesundheitsversorgung und vor allem Armutsbekämpfung vor und diskutieren in den Workshops die wirklichen Alltagsprobleme.

Die solidarische Kraft des Efeus

In mehreren Arbeitsgruppen wird das allgegenwärtige Armutsproblem als eine der zentralen Fragen des aktuellen Lebens in den kurdischen Gebieten beschrieben. Allein in Diyarbakir leben fast 20 Prozent unter der absoluten Armutsgrenze und haben damit weniger als 1 Dollar am Tag. Kurdische Stadtverordnete beschrieben, wie die Armut alle Fragen der Politik für die betroffenen Menschen förmlich erstickt. Es trifft zumeist jene Familien, von denen der Großteil Zwangsvertriebene aus Dörfern sind, die während der 1990er Jahre entvölkert wurden. „Diese Menschen haben einfach nur Hunger, jeder Tag ist davon bestimmt auf irgendeine Weise etwas essbares zu finden“, beschreibt Selcuk Mizrakli, Vorsitzender der Selbsthilfeinitiative „Sarmasik“ (Efeu) die tagtägliche Not. Sarmasik ist ein ehrenamtlicher Zusammenschluss von sozialen Aktivisten, Gewerkschaftlern und Mitarbeitern der Stadtverwaltung, die wöchentlich Lebensmittelpakete verteilen und eine „Foodbank“ ähnlich der deutschen Tafel-Initiative gegründet haben. Ihr Motto lautet: „Schließen wir unsere Hände zusammen und öffnen sie nie mehr zum betteln“. Warum der Name Efeu? "Die Pflanze ist beharrlich, sie wächst auch im Schatten, teilt sich in einem fort und ist nicht mehr auszurotten", so Mizrakli. Er sieht sich in seinem Engagement auch nicht als Wohltäter: "Wir begreifen unseren Kampf als Form des sozialen Widerstands“. Erst wenn der Hunger gelindert wird, so die einhellige Meinung auf dem Podium, kann der Kampf um weitere soziale und politische Rechte beginnen.

Dies gilt nicht nur für die kurdische Region selbst. Mit eindringlichen Worten schildert der Parlamentsabgeordnete Sirri Süreyya Önder, wie der jahrzehntelange Krieg nicht nur die kurdische Bevölkerung aus ihren dörflichen Siedlungsgebieten in die mittelanatolische Landwirtschaft drückte, sondern wie dort auch der Hass gegen die Kurden geschürt wurde. Denn die Ankunft der armen kurdischen Dorfbewohner und deren Versuch in der Landwirtschaft Arbeit zu finden habe, so der Önder, ab Mitte der 1990er Jahre die Löhne um mindestens 50 Prozent gedrückt. „Das antikurdische Ressentiment unter den armen Landarbeitern hat in erster Linie ökonomische Gründe“, erläutert er wortreich:„Nach dem Hunger kam die Ideologie, dann kamen die Nationalisten und erklärten den plötzlich völlig verarmten Tagelöhnern, dass ihnen die Kurden das Brot stehlen. So wurde die soziale Frage gezielt nationalisiert und erfolgreich zum Kampf gegen die Kurden instrumentalisiert“.

Arabischer Frühling im Zentrum

Das Leitthema in allen Arbeitsgruppen aber ist die aktuelle Situation in der arabischen Welt. Entsprechend kommen fast 90 Prozent der Teilnehmer aus den verschiedenen Teilen Kurdistans, allein 300 aus Südkurdistan (Nordirak), 40 aus dem Iran; dazu auch Kurden aus Syrien, auch wenn die die allermeisten von ihnen zur Zeit im Irak leben, da niemand aktuell die syrisch-türkische Grenze überqueren kann. Hinzukommen Palästinenser aus Jordanien, politische Organisationen aus dem Libanon, dazu ägyptische Gewerkschaftler, Aktivisten aus Tunesien und Menschenrechtler aus Marokko. Für bestimmte Workshops wie die Fragen der Organisation kommunaler Stadtverwaltung oder die Erfahrung von Wahrheitskommissionen nach dem Ende militärischer Konflikte oder Diktaturen waren gezielt Aktivisten aus Ecuador, El Salvador, Argentinien und Chile eingeladen worden. Auffällig wenige Teilnehmer kommen aus Europa, es fehlt daher der übliche „Sozialforums-Jetset“ der besonders die europäischen Meetings prägt und dort bekanntermaßen keine Resolution oder Programmänderung dem Zufall überlässt. „Wir haben zwar Einladungen ausgesprochen“, so Erkan Ok mit einem Lächeln, „aber wir vermissen die Europäer nicht besonders. Wir sind Menschen den Mittleren Osten und sind daher der Meinung, dass angesichts der aktuellen Ereignisse vor allem die Debatte unter uns in der Region geführt werden sollte“.

Das zeigt sich auch auf den zahlreichen Veranstaltungen zum „arabischen Frühling“. Hier fällt vor allem auf mehreren Podien die besondere Rolle der kurdischen Vertreter auf. Während die palästinensischen Redner der DFLP aus Jordanien oder der Kommunistischen Partei aus dem Libanon besonders die ägyptische Revolution loben, sich aber ansonsten auf blumige Bemerkungen über ein neues arabisches Selbstbewusstsein und die Beschwörung der allgegenwärtigen Gefahr einer „zionistischen-amerikanischen Konterrevolution“ beschränken, sind es kurdische Intellektuelle und Journalisten aus der Türkei und aus dem Irak, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Sie sprechen von notwendigen Freiheitsrechten für alle und greifen offen und ausnahmslos alle despotischen Regime direkt an und nennen dabei auch jenen Namen, den die anwesenden Palästinenser offenbar fürchten in den Mund zu nehmen: „Bashar al-Assad“. In einer dieser Versammlungen ergreift einer der anwesenden Kurden aus Syrien nach den Vorträgen das Mikrophon. Der etwa 30-jährige Mann konnte nur anreisen, weil er aus dem Suleymania anreiste, da er Syrien bereits im Jahr 2004 aufgrund der Rebellion im kurdischen Qamisli verlassen musste. Der gelernte Arzt beschreibt in eindringlichen Worten die systematische Unterdrückung der Kurden: Keine Bürgerrechte, kein Pass, Verhaftungen, Folter, jahrelange Haft, zudem eine seit Jahrzehnten andauernde Strategie der herrschenden Baath-Partei die kurdischen Gebiete zu „arabisieren“, in dem gezielt arabische Ansiedlungen gegründet wurden. (Im persönlichen Gespräch wird er später diese Dörfer als „Settlements“ bezeichnen und auf Nachfrage bestätigen, dass er bewusst einen Begriff wählt, der üblicherweise in der Region für die israelischen Siedlungen in der Westbank vorbehalten ist.) Dann ruft er im Forum zur Solidarität mit der Freiheitsbewegung auf und betont, dass die syrischen Kurden drohen ein „verlorenes Volk“ zu werden – da die gesamte arabische Welt, so sie denn überhaupt den Aufstand in Syrien respektiere, zugleich die Not der Kurden ignorieren würde. Auch die türkische Bevölkerung bittet er um Hilfe – aber nicht durch Waffen und eine Militärintervention, sondern durch eine menschliche Geste der Solidarität: „Demonstriert für uns, lasst uns nicht alleine!“ ruft er mit leiser Stimme in den Saal. Ein starker Auftritt!

Veröffentlicht von Martin Glasenapp am 24.09.2011


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