"Bereitet euch auf einen schweren Anblick vor!", sagt uns Yoléne Gilles vor dem Frauengefängnis von Port-au-Prince. Yoléne und ihre Kollegen der Menschenrechtsorganisation RNDDH besuchen es regelmäßig, um eine öffentliche Kontrolle über den Umgang mit den Gefangenen herzustellen. Man erwartet uns, begutachtet nur kurz unsere Pässe, dann betreten wir das langgezogene einstöckige Gebäude - der Satz von Yoléne hängt über uns wie die drückende Hitze dieser Stadt. Im Zellentrakt schauen wir mit gesenktem Kopf aus den Augenwinkeln. Auf wenigen Quadratmetern sitzen Frauen dicht gedrängt auf Matratzen, auf denen sie nachts schlafen, ihre Habseligkeiten hängen in den Gitterstäben. Auf dem Boden hätten sie - neben 10, 12, manchmal 20 Frauen - keinen Platz. An der Wand hängt ein Fernsehapparat. Soaps aus aller Welt schicken ihre krisseligen Bilder und scheppernden Töne in die menschenunwürdige Wirklichkeit dieser Frauen. 247 Frauen sitzen hier ein, die meisten warten seit Jahren auf ein Gerichtsverfahren. Wir gehen schnell an allen Zellen vorbei. Das Gefängnisleben der Frauen wird unseren Blicken ungeschützt preisgegeben, wie das von eingepferchten Tieren. Die wortkarge Yoléne, eine Journalistin, die seit vielen Jahren für RNDDH die Menschenrechtsarbeit an die Öffentlichkeit trägt, hat eine trockene Art die Umstände zu beschreiben: „Jede Gefangene hat nach internationalem Recht Anspruch auf 4,1 m2 - dieses Recht wird hier gebrochen.“ Aber die Frauen haben noch Glück: Sie müssen nicht im Stehen schlafen wie viele männliche Gefangene.
Keine Rechte für die Armen
77% aller Gefangenen sitzen seit Jahren in „verlängerter Untersuchungshaft“, ermittelte eine im Oktober erschienene Studie von RNDDH. „Eine massive Menschenrechtsverletzung“, so Pierre Esperance, Direktor von RNDDH, die niemand skandalisiere, weil sie nur die ärmsten Armen trifft. Leute wie Ex-Diktator Duvalier hingegen seien frei. Allein 22 Anklagen gegen ihn vertritt RNDDH. Für Pierre ist die Freiheit Duvaliers ein fatales Zeichen dafür, dass „die Straflosigkeit - eines der größten Probleme Haitis - anhält.“
Um des lieben Friedens willen werden Themen wie die Strafsache Duvalier unter den Teppich gekehrt. Andere Fragen gelten als wichtiger. Tatsächlich aber legitimiert diese Haltung die systematische Deinstitutionalisierung des Staates und den Voluntarismus bei allen Maßnahmen des Wiederaufbaus. Ich frage Pierre, ob es nicht nötig sei, auch die internationalen Hilfsmaßnahmen zu beobachten. Er winkt verzweifelt ab: „Da müsstet ihr uns viel Geld geben, um so viele Akteure zu kontrollieren.“ Pierre ist ein sachlicher Mann, wenn er aber auf die Haltung vieler internationaler NGOs zu sprechen kommt, wird es ungemütlich: „Vieles hilft nicht, sondern verschlechtert die Situation hier.“ Die Handlungsmöglichkeiten für die haitianische Zivilgesellschaft seien kleiner geworden. Während des Erdbebens hätten sie schwere menschliche und materielle Verluste erlitten und als sie sich halbwegs erholt hatten, hätten ausländische NGOs längst ihre Arbeitsfelder eingenommen. „Es gibt wenige NGOs, die wie medico die Eigenständigkeit lokaler Akteure achten“, äußert Pierre.
Gesundheit und Ökologie
Szenenwechsel. Fauché liegt wenige Kilometer von Léogâne, dem Epizentrum des Erdbebens, entfernt. Hier fördert medico die Errichtung einer Gesundheitsstation, die das lokale Bauernkomitee OPPF beantragt hat. Wir biegen von der Küstenstraße ab, auf der bereits ein Hinweisschild die Gesundheitsstation ankündigt. Auf Schotterpisten fahren wir durch weit verstreute Teile der Gemeinde, durchqueren ein riesiges Flussbett, in dem zwischen schweren weißen Geröllsteinen in Flusslachen Kinder baden und Frauen ihre Wäsche waschen. Am Ende des Flussbettes parken wir das Auto und erklimmen einen steilen Hang, der zum Dorfzentrum führt, in dem sich auch die künftige Gesundheitsstation befindet. Man kann von hier aus das Meer erblicken, denn im Gegensatz zu Port-au-Prince gibt es Platz und freie Sicht. Verwundert fragen wir uns, warum die Gesundheitsstation zwar idyllisch aber abgelegen liegt. Ein hagerer älterer Bauer erläutert uns auf einer Versammlung mit den Anwohnern den Grund: „Das Dorfzentrum liegt auf der Anhöhe, da bei jedem schweren Regen die Wassermassen unsere Ernte auf den Feldern im Tal vernichtet.“ Da füllt sich das ausgetrocknete Flussbett, das wir gerade durchfahren haben, in wenigen Minuten und begräbt alles unter sich.
Haitis immense ökologischen Probleme werden hier sichtbar. Die entwaldeten Berge sind ein wesentliches Hindernis für eine eigenständige ökonomische Entwicklung. So wundert nicht, dass die Menschen auf der Dorfversammlung - neben sanitären Anlagen, Nahrungsmittelsicherheit und Bildung - den Erosionsschutz als eine wichtige Gesundheitsmaßnahme betrachten. Das erhoffen sie von der medico-Unterstützung, denn bis hierher kam kaum Hilfe, obwohl das Dorf vom Erdbeben fast vollständig zerstört wurde. Die Bedürftigkeit und Ohnmacht ist riesig: Vorsichtig erläutern wir, dass die Gesundheitsstation ein Anfang ist, dass sie sich mit den lokalen Gesundheitsbehörden vernetzen müssen, um Teil eines öffentlichen Gesundheitssystems zu werden. Und dass man dann weitersehen werde. Als wir das Dorf verlassen, verfolgen uns freundliche, aber auch misstrauische Blicke. Kommen die wieder, scheinen sie zu fragen. Die Armut Haitis starrt uns hier aus einem tiefen schwarzen Loch entgegen, so tief, das niemand den Grund erblickt und niemand es füllen kann.
Zurück in Port-au-Prince wird das Elend dieses Landes nur deutlicher. Überall Menschen, Menschen - und mehr Menschen. Port-au-Prince hat heute mehr Einwohner als vor dem Erdbeben. Und damit ist einer der wichtigsten Indikatoren, die über Gelingen oder Scheitern des Wiederaufbaus entscheiden, nicht erfüllt: Die Dezentralisierung und die Neuansiedlung der Obdachlosen in anderen Regionen des Landes - um die Vulnerabilität der Hauptstadt zu senken - war ein Kernstück des Plans, Haiti besser wieder aufzubauen.
Gefahr des Autoritarismus
Die Situation in Port-au-Prince ebenso wie auf dem Land löst, fast zwei Jahre nach dem Erdbeben, bei den meisten Haitianern eine tiefe Frustration aus. Suzie Castor, medico-Partnerin und große alte Dame der haitianischen Soziologie, hat keine Hoffnung auf eine große Wende. Sie sieht nur die Möglichkeiten mit guter Arbeit an der Basis, Dinge zu verbessern und einzelne Akteure zu finden, die inmitten der Verantwortungslosigkeit verantwortlich handeln. Aber egal mit wem wir sprechen, auf eine Erneuerung des Landes mit einer funktionierenden Gemeinwesenstruktur und verantwortlichen Politikern setzt keiner einen haitianischen Gourd.
Camille Chalmers, Direktor der Plattform PAPDA (Plattform für eine alternative Entwicklung Haitis), die viele haitianische Organisationen der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen, darunter auch medico-Partner wie der Bauernverband Tet-Kole vereinigt, sieht fünf schwere Jahre auf Haiti zukommen. Der neue Präsident Martelly habe einen nostalgischen Blick auf die Duvalier-Diktatur. In seinem Team säßen Nachkommen von Duvalier-Funktionären: „Ich halte den Nostalgiediskurs für sehr gefährlich, weil er autoritäre Politikvorstellungen befördert“, meint Chalmers.
Diesen autoritären Politikstil befördern die internationalen zivilen wie militärischen Akteure durch das Umgehen haitianischer Institutionen. Das höchste Budget in Haiti besitzt eine nicht gewählte und auch nicht demokratisch kontrollierte Institution: die Clinton-Kommission. Sie verwaltet die internationalen Gelder und hat, laut Camille Chalmers, 95% ihrer Aufträge an US-amerikanische und dominikanische Unternehmen vergeben. Das ökonomische Entwicklungskonzept der Clinton-Kommission bestünde in der Schaffung von Sweatshops in steuerfreien Zonen. Nicht einen Gedanken habe man dort darauf verwendet, die vorhandene haitianische Behörde für sozialen Wohnungsbau einzubeziehen und öffentlichen Wohnungsbau zu fördern.
Auch die Anwesenheit der Minustah, der UN-Truppen, zählt zur negativen Bilanz des „autoritären Politikstils“. Selbst innerhalb der UN-Verwaltung vor Ort wird der Einsatz als „von Anfang an überdimensioniert“ eingestuft. Über eine Million Dollar kostet er täglich. Und viele fürchten, dass zwei Ergebnisse dieser jahrelangen Truppenpräsenz in Erinnerung bleiben werden: eine lange Liste nicht geahndeter Vergewaltigungsverbrechen und die Verantwortung für die weltweit größte Choleraepidemie. In einer aufwendigen Recherche zu den Wiederaufbaubemühungen in Haiti bilanziert die US-amerikanische Musikzeitschrift „Rolling Stone“ deshalb, „der Versuch der Welt Haiti wiederaufzubauen ist gescheitert.“ Auf das Erdbeben sei unmittelbar die „Katastrophe der guten Intentionen“ gefolgt. Bleibt wieder die Frage, was lernt die Welt daraus?
Katja Maurer
Projektstichwort
medico unterstützt seit dem Erdbeben im Januar 2010 eine Vielzahl haitianischer Organisationen der Zivilgesellschaft. Die Maßnahmen reichen von Menschenrechtsarbeit bis zu Gesundheitsprojekten, die alle die Selbstermächtigung der Haitianer zum Ziel haben. Spenden werden erbeten unter dem Stichwort: Haiti.