Viele Menschen fürchten angesichts der Bürgerkriegssituation in Somalia, dass von den Spenden für die Hungersnot in Ostafrika kaum etwas bei den Bedürftigen ankommt. Sind solche Bedenken berechtigt?
Katja Maurer: Die Befürchtungen sind verständlich. Im kriegszerrütteten Somalia mit seinen Warlord-Strukturen gibt es keine Alternative als mit den jeweiligen Machthabern zur verhandeln, um die Hungernden zu erreichen. Das tun einheimische Partner-Organisationen, die – unter großen Gefahren für Leib und Leben – seit vielen Jahren unter diesen Bedingungen arbeiten und bereits über ein etabliertes Netzwerk verfügen wie zum Beispiel unsere Kollegen von Brot für die Welt/Diakonie Katastrophenhilfe. Sie gehören wie medico international zum Bündnis Entwicklung Hilft.
medico international unterstützt lokale kenianisch-somalische Partner im Nachbarland Kenia. Sie arbeiten ebenfalls seit vielen Jahren in den Dörfern der Regionen Kenias, in denen Dürren und Unter- und Mangelernährung immer wieder auftreten. Dort leben Einheimische wie Flüchtlinge und teilen sich buchstäblich das letzte Hemd. Mit den Spendengeldern weitet unsere Partnerorganisation derzeit ihre Tätigkeit auf die Region Garissa aus, wo viele somalische Flüchtlingen leben und täglich neue dazu kommen.
Die Arbeit über lokale Partner gewährleistet, dass die Hilfe bei den Menschen ankommt. Denn die einheimischen Kollegen und Kolleginnen kennen sich wesentlich besser aus als beispielsweise Helfer von außen. Sie sind Teil der einheimischen Netze und provozieren weniger Aufmerksamkeit und Begehrlichkeiten als aufwändige Groß-Maßnahmen.
Was ist mit den Verwaltungskosten, die die meisten Hilfsorganisationen von den Spenden abziehen?
Argumente, die auf den ersten Blick so einleuchtend erscheinen, können sich auf den zweiten Blick als fahrlässig erweisen. "Hauptsache es wird geholfen." – Der beliebte Satz von Altbundeskanzler Kohl klingt ebenso richtig wie der Wunsch vieler Spenderinnen und Spender, ihr Geld möge ohne Abstriche zu den Bedürftigen kommen. Aber gerade eine sinnvolle, nachhaltige Hilfe bedarf der Professionalität. Sie muss in eine Erfahrungsgeschichte eingebettet sein, die auch die Misserfolge und Fehler reflektiert.
Die Medizinstudenten, die einst medico international gründeten, sammelten mit großem Einsatz und viel gutem Willen alte Medikamente in Arztpraxen und Privathaushalten, um sie den Hungernden in Biafra zugute kommen zu lassen. Diese Hilfe sorgte eher für Antibiotika-Resistenzen als für Gesundheit und war ein teures Entsorgungsproblem für den Sondermüll. Aus den Lektionen, die medico aus diesen und anderen Fehlern und Erfahrungen gelernt hat, entwickelte sich im Laufe der Jahre eine komplette und komplizierte Gesundheitsstrategie und -politik.
Es ist ein Netzwerk aus Partnern in vielen Regionen der Welt entstanden, das im Katastrophenfall wie in Ostafrika sinnvolle Hilfe leisten kann. Ohne eine Verwaltung, ohne einen professionellen Stab an Mitarbeitern wäre das nicht möglich. Finanziert wird dieser Ansatz durch unsere langjährigen Spenderinnen und Spender, die medico zum großen Teil ohne Zweckbindung unterstützen.
Trotzdem: Die Nachfrage nach der Höhe der Verwaltungskosten ist absolut berechtigt. Unsere Werbungs- und Verwaltungskosten waren lagen in 2010 bei 7,9 Prozent. Aufgrund der hohen Spendeneinnahmen wegen der Katastrophen in Haiti und Pakistan waren sie in diesem Jahr geringer als sonst. In der Regel liegen unsere Werbungs- und Verwaltungskosten bei ca. 9 Prozent, was auch nicht hoch ist. Werbungs- und Verwaltungskosten unter 10 Prozent gelten laut Deutschem Zentralinstitut für Soziale Fragen (DZI) als niedrig.
Die mit Abstand höchsten Spendeneinnahmen verzeichnen die meisten Hilfsorganisationen nach einer Katastrophe. Für präventive, langfristige und nachhaltige Unterstützungsmaßnahmen ist es sehr viel schwerer, Spenderinnen und Spender zu gewinnen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Der Anstieg der Aufmerksamkeit für die Arbeit von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen in Zeiten der Katastrophe hat in der Mediengesellschaft gute und schlechte Seiten. Die Wahrnehmung für die prekäre Lebenssituation vieler Menschen in der Welt ist gestiegen und führt bei den Menschen in den privilegierteren Regionen zu einer höheren Spendenbereitschaft. Das ist ein wichtiges Zeichen der Solidarität. Gerade in Deutschland gibt es eine große Spendenbereitschaft.
Gleichzeitig ist leider die Bereitschaft, sich mit den Ursachen von Katastrophen zu beschäftigen, zurückgegangen. Es fehlen die Solidaritätsbewegungen früherer Jahre, die sich lange und unabhängig vom medialen Interesse mit bestimmten Regionen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen beschäftigt haben und dabei viel Wissen und Weltverständnis entwickelten. Heute müssen entwicklungspolitische Grundsätze wie die Partnerorientierung immer wieder von Neuem erläutert werden. Der mediale Auftrieb während bestimmter Katastrophen prägt ein Bild von vermeintlich sinnvoller Hilfe, die vor allen Dingen zupackend und schnell sein muss. Gerade ein solches Hilfsverständnis aber kann in der Praxis mehr schaden als nutzen.
Aber mit jeder medial gespiegelten Katastrophe lernt die Öffentlichkeit. Gerade die Hungersnot in Ostafrika ist der traurige Höhepunkt in der Chronik einer angekündigten Katastrophe. Das wissen die Spenderinnen und Spender wie die Medien. Die Hilfe, die wir jetzt leisten, kann Menschenleben retten, aber die Ursachen für die chronische Unterernährung in Ostafrika sind struktureller Natur. Neben dem endlosen Bürgerkrieg in Somalia gehörten dazu Nahrungsmittelspekulation an den großen Börsen (die Preise sind um fast 300 Prozent gestiegen), Klimawandel und Landraub.
Das globale Gesundheitsnetzwerk People´s Health Movement, dem medico gemeinsam mit vielen Gesundheitsinitiativen weltweit angehört, entfaltet deshalb seit Jahren politische Arbeit und entwickelt lobbyistische Initiativen zum Beispiel gegenüber der Weltgesundheitsorganisation WHO, um auf die vielfältigen Ursachen von chronischer Unterernährung hinzuweisen.
Der Einsatz von Hilfsorganisationen schade oft mehr als dass er nutze, behaupten Kritikerinnen und Kritiker. Sehr öffentlichkeitswirksam wird dieser Vorwurf derzeit von der Journalistin Linda Polman vertreten. Was halten Sie davon?
medicos Arbeit ist geprägt von dem Grundsatz: Hilfe verteidigen, Hilfe kritisieren, Hilfe überwinden.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Hilfe. Das heißt, wir müssen alles dafür tun, dass Menschen in Not auch Hilfe erhalten: durch Sozialprogramme, durch Wohlfahrtsverbände, durch Katastrophenschutz, durch Hilfsorganisationen u.v.m. Hilfe kann aber Menschen entmündigen, zu Hilfsempfängern degradieren, ein System von Abhängigkeiten schaffen. medico setzt sich damit kritisch auseinander und reflektiert auch die eigene Praxis mit dem Konzept "Kritische Nothilfe".
Frau Polman kritisiert, dass die Organisationen sich eher am Spenderwillen als an den Bedürfnissen der Empfänger orientieren. Ja, es gibt diese Verführung. Salopp formuliert: Mit Kindern und der Vermutung ihrer Unschuld lassen sich mehr Spenden aquirieren als mit sinnvollen und nachhaltigen Programmen zur Humanisierung des Strafvollzugs. Auch die Entsendung von Ärzten erscheint auf den ersten Blick oft sinnvoller als die Unterstützung einheimischer Gesundheitsorganisationen. Wer aber dazu beitragen möchte, dass Hilfe von außen überflüssig wird, der muss nachhaltige Hilfe und strukturelle Ursachenbekämpfung unterstützen.
Spenderinnen und Spender sollten sich bei der Wahl der zu unterstützenden Organisation daher nicht nur an der Höhe der Verwaltungskosten orientieren, sondern auch an der inhaltlichen Ausrichtung auf Nachhaltigkeit statt auf PR-Effekte.
Seit Jahren wird Entwicklungshilfe in vielen afrikanischen Ländern geleistet. Dennoch erleiden die Menschen dort – wie es scheint – eine Katastrophe nach der anderen. Wie muss Hilfe aussehen, um in diesen Ländern tatsächlich etwas bewirken zu können?
Es ein Gerücht, dass afrikanische Länder soviel Hilfe erhielten. Die Exil-Somalier überweisen jährlich zwei Milliarden Euro in ihr Heimatland, die Bundesregierung hat im Vergleich dazu unter 40 Millionen Euro zur Bewältigung der Hungerkrise bereitgestellt.
Viele Länder des subsaharischen Afrikas leiden unter einer strukturellen Ausgrenzung, die in ihren Wurzeln bis in die Sklaverei zurückreicht. Wer sich globale Statistiken etwa auf der Seite worldmapper.org anschaut, wird feststellen, dass die meisten afrikanischen Länder keinen Platz mehr auf der Weltkarte haben, wenn es um die Höhe des staatlichen Gesundheitsbudgets, den Anteil der erteilten Patente oder die Höhe der Lebenserwartung im weltweiten Maßstab geht. Diese strukturelle Ausgrenzung können Hilfsleistungen nicht überwinden. Hilfe kann aber an konkreten Beispielen und in politischen Kampagnen vernünftige Alternativen aufzeigen.
Unsere Partner in Zimbabwe beispielsweise, die Community Working Group on Health, verbinden ihre Basisgesundheitsprogramme mit einer Kampagne für die verfassungsmäßige Einführung des Rechts auf Gesundheit. Denn in Zimbabwe wird gerade an einer neuen Verfassung gearbeitet. Im Kern geht es darum, die Regierenden dazu zu zwingen, einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums zur Sicherung von Gesundheitsleistungen für alle zu benutzen. Dazu muss man allerdings wissen, dass in vielen afrikanischen Ländern halbwegs funktionierende Gesundheitssysteme durch Auflagen des Internationalen Währungsfonds abgeschafft wurden. Das trifft auch auf Zimbabwe zu. Dass heißt, selbst wenn sich unsere Partner durchsetzen und der Verfassungsgrundsatz zustande kommt, bedarf es auch einer internationalen Politik, die den Aufbau eines Gesundheitssystems und staatliche Ausgaben für soziale Frage zulässt. Das war bislang nicht der Fall.
Dass sich Vieles ändern kann, wenn die Menschen in den Ländern sich ihrer Situation bewusst werden und öffentlich handeln, zeigen die Ereignisse der letzten Monate in den arabischen Ländern. medico unterstützt deshalb im Gesundheitsbereich gerade auch lokale politische Initiativen, die die einheimische Elite genauso in den Blick nehmen wie internationale Ausgrenzungsstrukturen.
Bei Rückfragen wenden Sie sich jederzeit gerne an
Gudrun Kortas, kortas@medico.de, oder
Ramona Lenz, lenz@medico.de.