Vom 21. bis 24. Oktober fand zum vierten Mal der sogenannte World Health Summit in Berlin statt. Doch wer unter dem Label „Weltgesundheitsgipfel“ eine Veranstaltung der Vereinten Nationen oder einen Zusammenschluss vielfältiger internationaler Akteure vermutet, irrt. Es war eine Privatveranstaltung. Ins Leben gerufen haben sie 2009 die Berliner Charité und die Universität Paris Descartes unter der Schirmherrschaft von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Heute sind die Hauptanteilseigner die Messe Berlin und die Werbeagentur Visit Berlin; die Charité hält 15%.
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Beim Lesen der Pressemitteilungen drängt sich der Eindruck auf, die Veranstalter verstünden Weltgesundheit als Werbegag. Vom „Potenzial für Berlin als Kongressstandort“ ist da die Rede und von der „touristischen Attraktivität“ der Stadt. Ein „Davos der Medizin“ wollen die Organisatoren schaffen und nennen ganz unverblümt ihre Ziele: „Im Fokus steht, Berlin als Kongressdestination zu stärken, Wissenschaft, Forschung, standortübergreifende Gesundheitspolitik und das öffentliche Gesundheitswesen zu fördern und so weitere Gesundheitskongresse und Großveranstaltungen für Berlin zu interessieren – und so Tausende von Medizinern in die Stadt zu holen. Auch der Gesundheitstourismus ist ein zentraler Aspekt.“
Wenn auch das öffentliche Gesundheitswesen nur deshalb gefördert werden soll, um Berlin attraktiver zu machen, so ist dies immerhin ein Fortschritt. Beim Gipfel vor vier Jahren stand es noch nicht auf dem Programm. Damals waren neben der Politik fast ausschließlich private Gesundheitsdienstleister und Pharmakonzerne eingeladen. Der Blick richtete sich allein auf medizinische Probleme in den Industrienationen, Präventionsmedizin kam nicht vor.
Deshalb organisierte medico international gemeinsam mit 20 gesundheits- und entwicklungspolitischen Organisationen die alternative Gegenkonferenz „Public Eye on Berlin“.
Beim diesjährigen World Health Summit waren auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen Partner der Veranstalter, unter anderen die Deutsche Stiftung Weltbevölkerung und Action for Global Health, die vor vier Jahren noch Teil der Alternativkonferenz waren. Zu den Sprechern gehörten renommierte Experten für Public Health.
Darum stellte sich durchaus die Frage, ob der World Health Summit einen Raum geboten hätte, um mit Kritik Politiker und Mediziner zu erreichen: „Reingehen und aufweichen oder sauber bleiben.“ Das bezeichnete Rolf Rosenbrock bei der Veranstaltung „Menschen vor Profite – ein kritischer Einspruch“ am 22. Oktober als Frage des Abends. Dazu hatte medico international gemeinsam mit attac, der Buko Pharma-Kampagne, Diakonie, IPPNW, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte und dem Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten in die Berliner Kalkscheune geladen. Die PodiumsteilnehmerInnen Silke Helfrich (Buchautorin, "Commons" und "Wem gehört die Welt?"), Prof. Rolf Rosenbrock (Vorsitzender Paritätischer Gesamtverband) und Thomas Gebauer (Geschäftsführer medico international) diskutierten Alternativen zum gesundheitspolitischen Konzept des World Health Summit.
Schnell wurde deutlich, dass auch dieses Jahr der World Health Summit grundsätzlich falsch konzipiert war. Für Thomas Gebauer war es schon das Wort „Welt“: „Da stellt sich die Frage, welche Welt gemeint ist?“ Angefangen mit dem Hauptredner Joseph Ackermann zeige die Auswahl der Sprecher, wessen Interessen im Vordergrund standen. Die Anzahl der Referenten, die aus der Industrie kamen, war viermal so groß wie die der Sprecher aus Entwicklungsländern.
Die hohen Eintrittspreise von 790 Euro und immerhin noch 200 Euro bei größtmöglicher Ermäßigung verwehrten vielen den Zugang. „Die, die betroffen sind, die sozialen Bewegungen sind nicht da, weil sie sich die Gebühren nicht leisten können“, sagte Gebauer.
Vor allem aber stand die Ausrichtung des Gipfels der Idee von Public Health entgegen. „Es gibt da wenige Kompromisse. Die Frage ist: Will ich Markt und Individuum oder will ich Gleichheit und Gesundheit?“, formulierte Rolf Rosenbrock, der bis 2012 die Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin leitete.
Die sozialen Bedingungen entscheiden
In seinem Vortrag erläuterte Rosenbrock einige Grundannahmen. Gesundheit entstehe nicht in erster Linie durch medizinisch-technischen Fortschritt, sondern durch die Verbesserung der Gesamtbedingungen. So sank die Anzahl der Tuberkulosefälle ab Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich, obwohl erst 1943 ein Antibiotikum zur Verfügung stand. Tuberkulose galt als die endemische Krankheit der städtischen Armen. Der Grund für ihren Rückgang war die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen und Ernährung.
Nach Rosenbrocks Berechnungen liegt der Beitrag der Medizin zur Eindämmung chronisch degenerativer Krankheiten, wie Kreislauf- und Krebserkrankungen, seit 1950 bei Frauen bei 20-40%, bei Männern bei 10%. „Das heißt 70-90% des Fortschritts gehen auf nicht-medizinische Maßnahmen zurück“, betonte er.
Der World Health Summit aber behaupte die Dominanz der Medizin für das gesundheitliche Geschehen. Damit liegt er im Trend: Nur 1,7 Promille der Ausgaben der Krankenkassen werden für Primärprävention verwandt, also Maßnahmen die vor dem Entstehen von Krankheiten einsetzen, etwa Verbesserung der Ernährung.
Die beste Primärprävention ist soziale Gerechtigkeit. Rosenbrock wies auf die Erkenntnisse von Richard Wilkinson und Kate Pickett (The Spirit Level, 2009) hin: Je gerechter die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind, umso gesünder sind die Menschen – und zwar nicht etwa nur gesamtgesellschaftlich, weil es weniger Arme gibt. Auch die Reichen werden weniger krank.
Doch diese Erkenntnis werde nicht umgesetzt. Im Gegenteil, es werde immer mehr „auf den einzelnen Fall und die Herzklappe“ geschaut, sagte Rosenbrock. Das sei im Interesse des medizinisch-industriellen Komplexes. Es ginge darum, Produkte zu schaffen, die vermarktbar seien. Public Health schaffe keine solchen Produkte.
Commons versus öffentliche Güter
Die Analyse teilte Silke Helfrich. Sie sieht aber weniger ein Verteilungs-, denn ein Einstellungsproblem: „Man muss fragen, was will ich erreichen, nicht was will ich den anderen verkaufen. Es muss ein Denken in anderen Kategorien stattfinden. Dinge, die wir zum Leben brauchen, müssen wir in eine neue Logik übertragen.“
Helfrich verortet die Lösung in Commons oder Gemeingütern, die nicht mit öffentlichen Gütern zu verwechseln sind. Den Unterschied erläutert James Quilligan in dem Buch „Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat“, das Helfrich gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung im April 2012 herausgegeben hat.
Bei öffentlichen Gütern sorgt der Staat dafür, dass alle Zugang dazu haben. „Das hat einen versorgungstechnischen Drall“, sagte Helfrich. Bei Commons oder Gemeingütern werde hingegen der Unterschied zwischen Konsumenten und Produzenten aufgehoben. Die Menschen produzierten das, was sie brauchen – und verkauften, wenn sie etwas darüber hinaus produzieren. Ihre Commons verwalteten sie selbst und organisierten auch eine politische Repräsentation, so Quilligan.
Die Idee der Commons lebt aber auch davon, dass Menschen was sie produzieren, frei zur Verfügung stellen. „Es gibt zwei Bereiche“, erläuterte Helfrich, „wenn ich Wasser trinke, können Sie es nicht mehr trinken“. Da müsse man Regeln finden. „Zweitens gibt es Wissen, dass immer mehr wird, wenn ich es teile.“ Diese Logik der Fülle müsse man reproduzieren. Jeder einzelne könne dazu einen Beitrag leisten, in dem er seine geistigen Erzeugnisse zur Verfügung stelle. Sie habe deshalb ihr Buch frei verfügbar ins Internet gestellt.
Von staatlichen Regulierungen hielt Helfrich wenig: „Wir müssen raus aus der Illusion ‚Der Staat wird es richten‛.“ Den Regierungen traut sie nicht. „Das ist doch genau die Regierung, die Verträge unterzeichnet, die Patente festschreiben.“
Intellektuelle Eigentumsrechte seien eine Katastrophe, weil sie die Kosten enorm erhöhten, gerade für Gesundheit. Auch verlangsamten Patentrechte häufig den Fortschritt. Als Gegenbeispiel nannte sie das Projekt Wikispeed. Wikispeed wurde berühmt durch den Bau eines Autos mit 1,5-Liter-Motor in nur drei Monaten. Das Team besteht aus Freiwilligen, die sich über das Internet gefunden haben. Die schnelle Arbeitsweise basiert auf dem Teilen von Wissen, der Arbeit in Zweier-Teams, flachen Hierarchien und einer hohen Arbeitsmoral, die auf Spaß und dem Gefühl sozialer Verantwortung beruht. Die Mitglieder arbeiten zunächst umsonst, der Gewinn wird geteilt. Der Gründer von Wikispeed Joe Justice glaubt, dass sich die Welt deutlich verbessern ließe, wenn jeder Mensch zwei Stunden seiner Freizeit pro Woche in die Lösung von Problemen investieren würde.
Nicht nur Software und Autos ließen sich so bauen, betonte Helfrich, sondern auch Medikamente entwickeln. Die damit verbrachte Zeit sei etwas Positives: „Je mehr Zeit wir damit verbringen, desto besser. Gute Sozialbeziehungen machen Lebensqualität aus.“
Für Helfrich war die entscheidende Frage des Abends, wie man das Denken ändern könne und dass es neben der Dichotomie von öffentlich gegen privat noch etwas Drittes gebe.
Ein bisschen „wolkenmäßig“, befand Rolf Rosenbrock. Für ihn bleiben die sozialen Bewegungen der zentrale Adressat. „Wo man etwas mit dem Staat machen kann, habe ich nichts dagegen.“
Thomas Gebauer griff die Idee des Dritten auf: „Es geht nicht um Staat oder Nicht-Staat, sondern um eine andere, eine neue Staatlichkeit, die nicht privaten Wirtschafts- und Machtinteressen dient, sondern den Bedürfnissen der Menschen verpflichtet ist.“ Als Beispiel nannte er die gesetzliche Krankenversicherung. „Die Gesetzliche ist zwar staatlich reguliert, sie könnte aber auch gemeinschaftlich kontrolliert werden.“
Autorin: Hannah Wettig