Kurdistan/Irak

Ein Konzept für das Zusammenleben im Vielvölkertstaat

01.06.1999   Lesezeit: 7 min

Rede von Hans Branscheidt auf der Berliner Kurdistan Konferenz, April 1999

Erstes Bild:

Die Erinnerung daran, daß die Ideologie der irakischen Baath Partei die arabische Adaption einer ultra-nationalistischen europäischen Vorstellung (Michel Aflaq) war, deren Resultat für den Irak bedeutete, eine ursprünglich kosmopolitische Gesellschaft in ein auf Arabisierung ausgerichtetes Terror-Regime zu verwandeln, das alle anderen Stimmen, Gruppen, Bevölkerungsteile an jedem eigenständigen Ausdruck hinderte: durch brutale Gewalt, die bis zum Völkermord führte.

Zweites Bild:

Das Bild der aktuellen globalen Konflikte und Kriege zwischen Völkern und ethnischen Gruppen, deren Differenzen zum Gegenstand ordnungspolitischer Strategien großer Mächte und militärischer Bündnisse geraten.

In Erwägung solcher Umstände und aller damit verbundenen bitteren Erfahrungen unterdrückter Menschen sollten uns die bisherigen Versuche akademischen Lösungsvorstellungen PRO KURDISTAN eher wie Anachronismen erscheinen. Geboten werden in aller Regel Modelle, die als Blaupausen der früheren europäischen Konfliktgeschichte gewonnen wurden: Die einen favorisieren das Modell Südtirol, die andern das belgische: das auf eigenem Terrain ein politisch morbides Land präsentiert, – weswegen es erstaunt, daß ausgerechnet in Kurdistan die Verwirklichung eines solchen Vorschlages wahre Wunder wirken soll. Daher ist zu fragen, ob nicht generell die Vorstellung von Modellen, deren ganze Vernunft auf der mechanischen Zusammenschaltung von Nationalismen beruht, auf veralteten Prinzipien gegründet ist, die keinen Frieden bringen, keine Stabilität bedeuten, die eher das gleichberechtigte Zusammenleben aller Beteiligten verhindern, dafür aber hervorragend zur Fortsetzung ethnisch motivierter Auseinandersetzungen veranlassen – und die zudem stets regionalen und übergeordneten Mächte die Legitimationen für äußere Einflußnahme und zielbewußte Destabilisierung bieten? Für eine Diskussion, – auf der Höhe der Zeit und angereichert durch negative historische Erfahrung-, möchte ein Blick auf ganz andere Konzepte empfehlenswert sein, die für spezielle Konfliktgebiete eine duale oder multiple Citizenship vorschlagen. Eine Konstellationen im Sinne von Vereinbarung und Verfaßtheit auf Gegenseitigkeit, die in einem Staat oder innerhalb einer definierten Territorialität eine Bi-Nationalität oder eben eine multiple Staatsbürgerschaft vorsieht. Es ist kein Zufall, daß gerade die politischen Vertreter der sogenannten »Minoritäten« diesbezüglich die interessantesten Vorschläge gemacht haben. Aus nichts anderem heraus als aus der Furcht, in den mechanistischen »Lösungsansätzen« wieder vergessen oder am Ende sogar erneuter und erweiterter Diskriminierung ausgesetzt zu sein. Daher mein Hinweis auf ein neues Konstruktionselement, das für tatsächlich dauerhafte und wirklich friedliche Lösungen sorgen soll, ganz gleich, ob das zu schaffende Gebilde »Autonomie«, »Föderation« oder der »neue Staat« heißen soll. Für die Geschichte ist aufschlußreich, daß Visionen einer Bi-Nationalität in der neueren Historie zuerst für Palästina / Israel gedacht wurden, in der Folge der Vertreibung aus Deutschland und in Ansehung des Herzelschen Modells eines zionistischen Staates, das andere im Siedlungsgebiet seßhafte Populationen von gleichberechtigter Partizipation durch Separierung ausschloß. Das alternative Modell des Zusammenlebens wäre den Kritikern dieser Auffassung nach zu begründen gewesen auf der binationalen Zusammengehörigkeit von arabischen Palästinensern, Beduinen und den Menschen jüdischer Abstammung. Die Exilantin Hannah Arendt hatte solche Gedanken thematisiert und wieder verworfen, nachdem ihr klar wurde, daß die zionistische Realität ein solches Modell niemals akzeptieren würde. Die Diskussion darüber ist bis heute nicht beendet. Auch aktuell erwägen Gesellschaftswissenschaftler wie Michael Warschawski oder Uri Davis die Chancen einer zukunftsgestaltenden Multinationalität in einem Lande. Sie stellen angesichts der blamierten Abmachungen von Oslo die Frage, ob nicht längst schon ein gedeihliches soziales & kulturelles Zusammenleben in Israel/Palästina eingerichtet worden wäre, hätte man die Assoziation gleichberechtigter Staatsbürger in ein und derselben Territorialität eingerichtet – unter Aufhebung all der Ausschlußmechanismen, die heute das Bild des Landes prägen. Bei Aufrechterhaltung und ausdrücklicher Bestätigung der Existenz und Anwesenheit unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Abstammungen, was sich von der Formulierung in der Verfassung bis hin zum entsprechenden Zusatzvermerk in Identitätsdokumenten niederschlagen könnte. Unter Verzicht – das ist entscheidend – auf ein dominierendes Staatsvolk: Die Deutschen, die Kurden.

Ein Blick auf die kurdische Realität ergibt, daß infolge von Massenvertreibung, Völkermord und Migration sich auch das Angesicht Kurdistans nachhaltig verändert hat. Die kurdischen Parteien sprechen gern von der »Europäisierung der kurdischen Frage«. Wer das heute von kurdischer Seite fordert, muß gleichzeitig realisieren, daß die »Kurdische Frage« sich längst nicht mehr nur um die bevölkerungsstatistisch korrekte Einzirkelung heimatlicher Gebiete drehen kann. Die Kurden sind – noch weit vor ihren aktuellen Beherrschern in der Türkei, Syrien oder im Irak – längst und nicht ohne Erfolg auf der Weltbühne angekommen, sind kosmopolitisch geworden. Darin liegt ihre große Stärke. Aus dieser Sicht ergeben sich erst recht die Vorzüge des Konzepts der Multinationalität: Die Perspektive für eine gemeinsame Zukunft aller Menschen eines bestimmten Territoriums, ohne neue Abgrenzungen vorzunehmen. Sie ist geeignet, die typischen Konflikte aus den unvermeidlich überlappenden Ansprüchen territorial definierter Nationalismen zu vermeiden. Auf den israelisch-palästinensischen Kontext bezogen, hieße das: Möglichkeit der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge – was im vorliegenden Vertragswerk von Oslo nicht vorgesehen ist. Uri Davis hat aus diesen Gründen für Israel/Palästina die Regel einer doppelten und mehrfachen Staatsbürgerschaft vorgeschlagen: eine Vorstellung, die in den Gesetzen der neuen »Rainbow-Nation« des demokratischen Südafrika erfolgreich verwirklicht wurde.

Identität und Multiple Citizenship

Am irakischen Beispiel wird sehr deutlich, daß unter dem heutigen Regime erstens die Vorstellung absoluter Loyalität & zweitens das Konzept ausschließlicher Identitäten die große Rolle spielt. Vor allem im avancierten Stadium der antikurdischen Politik des irakischen Regimes können wir sehen, wie das Konzept der Identität zur Anwendung kommt: Erstens zur Reduzierung der kurdischen Bevölkerungsgruppe, indem Teile derselben als nicht-kurdisch definiert werden, und zweitens indem denjenigen, die kurdische Identität besaßen, schlimmste Konsequenzen aufgebürdet wurden. Die Antwort auf die Verbrechen der Vergangenheit sollte in Anbetracht alles dessen darin liegen, sich zukünftig für ein Konzept zugelassener, geförderter und als positiv bejahter multipler Identitäten zu entscheiden. Vor allem die rigorose Abschaffung des bürokratischen Apparates diskriminierender Regelungen sollte künftig die wesentliche Basis zur dauerhaften Versöhnung begründen. Von großer Bedeutung wird sein, das Konzept multipler Identitäten in föderative Modelle zu integrieren. Es geht um doppelte oder mehrfache Staatsbürgerschaft, das Recht auf Teilhabe also der riesigen Gemeinde der Exilkurden und Exiliraker – gerade auch der hier lebenden. Es geht darum, daß sie alle ihre Rechte zurückbekommen. Notwendig ist dann die Rückgängigmachung der Vertreibungspolitik auf demokratische Weise. Diesbezüglich haben die letzten Jahre gezeigt, daß die überlappenden Ansprüche einverständig gelöst werden müssen: man denke nur an die ehemals assyrischen Besitztümer im Badinan-Gebiet.

Ausblick

Der norwegische Friedensforscher Johann Galtung hat, auf dem Höhepunkt der Golfkrise, einen 10-Punkte-Plan für eine internationale Lösung des kurdischen Problems im Kontext einer nahöstlichen Friedenslösung formuliert, der zuerst im medico Rundschreiben 1/91 veröffentlicht wurde: Der sah vor, in allen Staaten mit kurdischer Bevölkerung Föderationen zu schaffen, die dann in einem der nächsten Schritte untereinander besondere Beziehungen entwickeln können. Galtung, der sich dabei positiv zur Multinationalität erklärte, ging es vor allem darum, dem Nationalismus seine verheerende Sprengkraft zu nehmen. Heute, nach der mörderischen Zerstörung Kurdistans und des Irak, geht es die Wiederherstellung menschlicher Lebensbedingungen. Von allem Anfang an für alle & unter Anerkennung von allen als gleichberechtigte Teilnehmer der neuen Existenzweise. Diese Absicht der internationalen Gemeinschaft glaubwürdig vor Augen zu führen, darin Kurdistans. Die Kurdinnen und Kurden in aller Welt wissen am besten, daß kein Weg je mehr beschritten werden darf, der einen Rückfall ermöglicht.

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