Die europäische Migrationspolitik ist von einem unerschütterlichen Dogma geprägt: dem „Kampf gegen Schleuser". Dieser wird vor allem als Kampf gegen skrupellose Verbrecher:innen dargestellt, die Migrant:innen einer Gefahr für Leib und Leben aussetzen, und die diese aus Profitgier erst zur Migration verleiten würden. Unter einem humanitären Deckmantel werden Maßnahmen dabei als Schutzmaßnahme für Flüchtende moralisch legitimiert.
Dieses mächtige Narrativ verschleiert nicht nur die strukturellen Bedingungen für Migration, die maßgeblich von europäischer Abschottungspolitik bestimmt sind, und Migrant:innen überhaupt erst in die Hände von Schleuserdiensten schiebt. Der „Kampf gegen Schleuser" richtet sich in Wirklichkeit vor allem gegen Migrant:innen selbst.
Insbesondere in Griechenland zeigt sich seit Jahren eine alarmierende Praxis: Schutzsuchende, die versuchen, nach Europa zu gelangen, werden systematisch dafür verhaftet, dass sie das Boot oder Auto gesteuert haben, mit dem sie ankamen. Sie werden als Schleuser:innen angeklagt, unabhängig davon, welche tatsächliche Rolle sie bei der Überfahrt spielten oder ob sie selbst Teil der geschleusten Gruppe sind. Pro Boot verhaften Polizei oder Küstenwache mindestens eine Person; bei größeren Schiffen wie der Adriana, die im Juni 2023 vor der Insel Pylos sank, auch bis zu neun Personen.
Griechenland ist nicht nur Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention, sondern auch Unterzeichnerstaat des Protokolls der Vereinten Nationen gegen die Schlepperei von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg, das es 2004 auch ratifizierte. Dort heißt es, dass Migrant:innen, die geschmuggelt wurden, dafür nicht strafrechtlich verfolgt werden dürfen, während die Genfer Flüchtlingskonvention jeder Person, die um Asyl ersucht, das Recht gewährt, ohne vorherige Genehmigung in ein Land einzureisen.
So banal es auch klingen mag, Migrant:innen steuern das Boot, weil eine Person nun mal das Boot steuern muss. Einige übernehmen diese Aufgabe freiwillig, beispielsweise weil sie Erfahrung in der Seefahrt haben; manche steuern es, weil sie nicht genügend Geld für die Überfahrt (oder die ihrer Familie) haben und im Gegenzug weniger bezahlen; wieder andere steuern es, weil sie mit gezogener Waffe und Gewalt dazu gezwungen werden.
Um sich strafbar zu machen, ist es in Griechenland, wie auch in den meisten anderen EU-Staaten, jedoch nicht erforderlich, als Organisator:in mit Gewinnabsicht, die Sicherheit von Menschen mittels einer Fahrt über das Mittelmeer zu gefährden. Diese Faktoren werden lediglich als erschwerende Umstände betrachtet. Es reicht, das Boot oder Auto gesteuert oder eine andere „assistierende Rolle" an Bord übernommen zu haben, wie z.B. im Maschinenraum die Motoren im Auge zu behalten, zu navigieren oder Wasser zu verteilen. Dies führt in der Konsequenz dazu, dass es vor allem Migrant:innen selbst sind, die ins Fadenkreuz der Justiz geraten.
Die Menschen werden in der Regel unmittelbar nach der Bootslandung vom Rest der Gruppe getrennt und verhaftet. Angesichts des Fehlens eines festen Wohnsitzes gehen die Behörden grundsätzlich von „Fluchtgefahr" aus und nehmen fast alle Beschuldigten direkt in Untersuchungshaft, was den Zugang zu angemessenen Rechtsbeistand und anderen Formen der Unterstützung erheblich einschränkt. Die Menschen, die gerade erst in Griechenland angekommen sind, sind oft völlig isoliert und hochgradig anfällig für Misshandlung und Missbrauch durch staatliche Behörden. Dies wird weiter dadurch verschärft, dass die Dauer der Untersuchungshaft in Griechenland besonders lang und für ihre menschenunwürdigen Haftbedingungen berüchtigt ist.
Der knapp 60-jährige Homayoun Sabetara beispielsweise, der im September 2021 aus dem Iran flüchtete, wurde als Schleuser verhaftet, weil er das Auto steuerte, mit dem er und sieben weitere Personen von der griechisch-türkischen Grenze ins Landesinnere gelangen wollten. Das erste Verfahren, in dem er zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde, fand ein Jahr später, im September 2022, statt. Gegen seine Verurteilung legte er Berufung ein, welche für April 2023 angesetzt wurde. Bis dahin war er bereits 575 Tage in Haft. Am Prozesstag wurde das Verfahren noch einmal um weitere fünf Monate verschoben.
Im Schnitt dauern die Verhandlungen 37 Minuten, manche enden bereits nach sechs Minuten. Durchschnittlich werden die Angeklagten zu 46 Jahren Haft verurteilt. Das sind die Ergebnisse einer umfassenden Studie von borderline-europe e.V. aus dem Jahr 2023, für die insgesamt 81 Gerichtsverfahren von 95 Personen in acht unterschiedlichen Gerichten in Griechenland ausgewertet wurden. In einer vorangehenden Untersuchung, sahen sich Aegean Migrant Solidarity, bordermonitoring.eu e.V. und borderline-europe e.V.zwischen 2014 und 2019 48 Gerichtsverfahren auf den Inseln Lesbos und Chios an und kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Es ist deutlich, dass dieses Vorgehen seit Jahren eine flächendeckende Realität ist.
Die griechischen Gefängnisse sind entsprechend voll mit Menschen, die als Schleuser:innen verhaftet wurden. Sie stellen die zweitgrößte Gefangenengruppe dar und machen etwa 20% der gesamten Gefängnispopulation aus (2154 im Februar 2023). Knapp 90% von ihnen sind Drittstaatsangehörige.
Die Strafen in Griechenland sind besonders hoch und werden nach Anzahl der transportierten Personen berechnet. Bei „einfacher" Beförderung gibt es bis zu zehn Jahre Haft pro Person, im Falle erschwerender Umstände wie etwa der „Gefährdung von Menschenleben" (wenn es etwa zu einem Schiffsunglück kommt oder auch generell bei einem unsicheren Boot) sind es mindestens zehn Jahre Haft pro Person. So lautet beispielsweise die Anklage für den 16-jährigen M. Elfallah und seinen Vater, mit dem er gemeinsam mit 460 weiteren Menschen im November 2022 die Reise von Libyen wagte, 460 mal zehn Jahre. M., der direkt bei Ankunft von seinem Vater getrennt wurde, wartet derzeit noch auf sein Verfahren. Sein Vater wurde im März 2023 bereits zu 230 Jahren Haft verurteilt.
Unerlaubte Migration, die normalerweise als Ordnungswidrigkeit gilt oder gar nicht strafrechtlich verfolgt wird, wird so durch die Hintertür zu einem Schwerverbrechen gemacht. Menschen, deren einziges „Vergehen“ es ist, keine gültigen Einreisepapiere vorweisen zu können, werden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Hinzu kommt, dass die ganze staatliche Kriminalisierungspraxis durch grobe Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet ist; darunter willkürliche Verhaftungen, Folter, Misshandlung und Nötigung sowie die systematische Verweigerung des Zugangs zu Rechtsbeistand und Übersetzungs- und Verdolmetschungsdiensten.
Die Menschen werden durch diese Prozesse traumatisiert und werden um Jahre ihres Lebens beraubt. Ihr neues Leben in Europa beginnt mit einer Vorstrafe, die in manchen Fällen sogar dazu führen kann, dass in der Konsequenz den Menschen, auf deren Schutz die Maßnahmen angeblich abzielen, internationaler Schutz verwehrt wird. In Deutschland etwa kann die Beteiligung an Schleusungen ab einer Haftstrafe von einem Jahr als „besonders schweres Ausweisungsinteresse“ gewertet werden. „Wer als Schleuser tätig war, könne auch nach Syrien zurück", kommentierte Bundeskanzler Scholz im Juli den Fall eines syrischen Staatsbürgers, dem subsidiärer Schutz verweigert wurde, weil er in Österreich wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur unerlaubten Einreise von der Türkei in die EU zu einer Haftstrafe verurteilt worden war.
Die Kriminalisierungspraxis macht deutlich: Bei der vehementen Stigmatisierung von Schleusungen geht es nicht um den Schutz von Migrant:innen. Die Figur des gesichtslosen, bösen Schleusers dient als bequemer Sündenbock, während Maßnahmen dagegen als weiteres Instrument zur Abschreckung verwendet werden.
Julia Winkler ist Politikwissenschaftlerin mit einem MSc der SOAS University of London. Sie ist Co-Autorin der Studie "Ein rechtsfreier Raum" über die Kriminalisierung von Geflüchteten als Schleuser. Sie hat bereits zahlreiche Fälle von Kriminalisierung von Geflüchteten in ganz Europa dokumentiert und begleitet und ist Teil des Captain Support Netzwerks und von borderline-europe. Als Mitglied der Organisation de:criminalize ist sie Kooperationspartnerin von medico international bei der Umsetzung der Kampagne zum Fonds für Bewegungsfreiheit.
Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Flucht kein Verbrechen ist. Helfen Sie uns dabei!