Um ihren Willen zu brechen, setzt das syrische Regime auf strukturelle Gewalt gegen die Körper der Aufständigen.
Es ist kalt, Essen gibt es nicht mehr. Besonders jetzt nicht mehr, wo es angefangen hat, zu schneien. Vorher konnten die Bewohner in den belagerten Gebieten Radieschen oder Petersilie pflanzen. Nun sind die Böden zugefroren. Und es ist dunkel. Wie auf dem furchterregenden nächtlichen Bild aus dem eingeschneiten Homs, das unlängst von lokalen AktivistInnen über soziale Medien verbreitet wurde. Das Regime produziert eine städtische Geographie der Gewalt: Welche Gebiete das Regime faktisch kontrolliert und in welchen Gebieten es die Kontrolle verloren hat und die BewohnerInnen zum Aufgeben zwingen will, lässt sich nicht nur an intakten oder eben zerstörten Regimesymbolen ablesen. Es ist perfider: Es ist eine Frage des Lichts. Da wo sich die Menschen nicht erheben oder konform verhalten, gibt es Strom, da gibt es Licht und sogar Warmwasser. Die nonkonformistischen Viertel, die sich erhoben haben, bleiben in der Dunkelheit, hier herrscht Hunger und Kälte.
Das syrische Regime setzt auf strukturelle Gewalt gegen die Körper derer, die nicht mehr länger durch das Regime fremdbestimmt werden wollten. So will es das Verhalten der BewohnerInnen in den belagerten Gebieten kontrollieren. Das Regime bietet diesen Menschen einen klaren Tausch an: ihr könnt leben als Tiere und werdet versorgt - oder ihr sterbt als Freie im Elend. „Hungern oder Niederknien“ lautet die Formel, die als Losung an die Checkpoints und Außenmauern belagerter Stadtteile gesprüht wird. Die aggressive Einhegung ganzer Stadtviertel dient zugleich als Abschreckung - keiner soll auch nur versuchen, sie zu überwinden - und zur hierarchischen Differenzierung zwischen zwei Räumen und zwei Bevölkerungsgruppen: Denjenigen, die weiterhin als „syrische BürgerInnen“ gelten und jenen, denen unlängst – so sie sich weiterhin zum Aufstand bekennen - vom Staatspräsidenten selbst die Bürgerschaft aberkannt wurde. Auch formell sind sie nunmehr vogelfrei.
Der syrische Autor Omar Kaddour aus Damaskus analysiert die Situation mit den folgenden Worten: „Wir haben es hier mit einem umfassenden System von körperlicher und symbolischer Gewalt zu tun. Zuerst werden die Menschen entehrt, indem sie als Tiere bezeichnet werden, die ganz allgemein als minderwertige Kreaturen gelten. Und dann werden sie gequält wie Tiere, ein Verhalten, das wiederum als völlig normal hingestellt wird: Wer als Tier gilt, kann auch wie ein Tier behandelt werden.“(Süddeutsche Zeitung, 12.12.13)
Strategisches Aushungern in Syrien
Das Regime bezweckt aber mehr als nur symbolische Gewalt auszuüben. Es nutzt das Aushungern als Technik der Macht über Körper, als Biomacht. Biomacht ist die Macht über Körper zur Kontrolle von Verhalten, zur Kontrolle von Menschen als Gruppe. Es sind Techniken, die "nicht auf den Einzelnen, sondern auf die gesamte Bevölkerung zielen" (Michel Foucault).
Regelmäßig bietet das Regime den belagerten Vierteln Waffenstillstände an. Erst letzte Woche scheiterte das Regime in Mouadhamiyya. Die südwestlich von Damaskus liegende Stadt sollte an allen hohen Gebäuden der Stadt die Flagge des Regimes hissen, im Gegenzug dürften kleine Essensportionen in die Stadt gelangen. Aber nicht ohne weitere Erniedrigung: das Essen sollte aus der Küche der 4. Armeedivision stammen, die seit Monaten die Stadt belagert und terrorisiert hatte.
Vorerst hat die Regimepolitik nicht die gewünschte Wirkung, die Waffenstillstände in den meisten belagerten Vierteln sind gescheitert. Doch sie blockieren die AktivistInnen: Statt sich auf politische Arbeit zu konzentrieren und Konzepte für alternative Strukturen zum Regime weiterentwickeln zu können, sind viele Initiativen inzwischen auf das tägliche Überleben ausgerichtet. Und wenn es nicht darum geht, Essen zu besorgen, dann geht es darum, sich vom Hunger abzulenken.
Auch wenn die AktivistInnen immer wieder ihre Standfestigkeit (sumoud) beweisen. Die Belagerung verändert. So schreibt ein Aktivist aus dem seit Monaten eingeschlossenen palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus: „In der Belagerung lernst du, dass du das Verfallsdatum von Produkten nicht liest, damit dein Körper nicht von einem Schaudern durchzogen wird, wenn du feststellst, dass das Verfallsdatum schon lange abgelaufen ist. In der Belagerung lernst du auch, dass du nicht alleine isst, damit dein Gewissen nicht beim ersten Bissen erwacht und dich fragt: Sind jene, die essen und jene, die nicht essen, gleich?“
Ansar Jasim
medico unterstützt die syrisch-palästinensische Hilfsorganisation Jafra Foundation mit Spendengeldern in ihrer Überlebenshilfe für die notleidende Bevölkerung in Yarmouk und in palästinensischen Nachbarschaften in Homs.