Anfang März 2017 besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel Ägypten. Es war einer von mehreren geplanten Aufenthalten in Nordafrika, um bei den dortigen Regierungen um Unterstützung bei der Bekämpfung von Flucht- und Migrationsbewegungen in Richtung Europa zu werben. Etwa zur gleichen Zeit war der ägyptische Außenminister Sameh Shoukry zu einem Treffen der EU- Verteidigungs- und Außenminister eingeladen, um über Sicherheit und Verteidigung sowie über Migrationsfragen zu debattieren.
Ägypten gilt als Schlüsselstaat in der Region. Es ist ein wichtiges Transitland für Menschen aus Sudan, Eritrea oder Somalia. Aber auch SyrerInnen versuchen, über Ägypten nach Europa zu gelangen. Mehr als zehn Prozent der 180.000 Flüchtlinge, die 2016 in Italien ankamen, machten sich in Ägypten auf den Weg übers Meer. Mit dem zerrütteten Libyen, von wo aus die allermeisten Flüchtlinge nach Europa aufbrechen, sind Verhandlungen kaum möglich. Ägypten aber traut man zu, einen ähnlichen Deal wie mit der Türkei umzusetzen. Ähnlich wie in der Türkei ist es aber auch in Ägypten zunehmend die eigene Bevölkerung, die das Land angesichts der Menschenrechtslage verlässt.
Ramona Lenz sprach mit Nader G. Attar vom ägyptischen medico-Partner Center for Refugee Solidarity über die Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen in Ägypten und über die Bemühungen von EU und Deutschland, das Land in die europäische Asyl- und Migrationspolitik einzubinden.
Bundeskanzlerin Angela Merkels Hauptthemen für ihren Besuch in Ägypten waren die Stärkung der Küstenwache, der Kampf gegen Schleuserkriminalität, die Rückführung von MigrantInnen und Flüchtlingen aus Deutschland und die Unterstützung Ägyptens bei der Stabilisierung seiner Nachbarländer Libyen und Sudan. Was denkst du über diese Agenda?
Das momentane Problem besteht darin, dass Deutschland und andere europäische Länder einen präventiven Ansatz verfolgen. Richtig wäre allerdings ein korrigierender Ansatz. Das würde bedeuten, die Gründe verstehen zu wollen, aufgrund derer Menschen Länder wie Ägypten und Libyen verlassen. Wir sprechen hier von Flüchtlingen und MigrantInnen, die keine Rechte haben, keinen Zugang zu medizinischer Versorgung oder Bildung und in vielen Fällen misshandelt und unschuldig inhaftiert werden.
Bei einem korrigierenden Ansatz würde man versuchen, die Situation zu verstehen und die Regierung dazu zu bringen, die Situation der Menschen zu verbessern. Der präventive Ansatz hingegen besteht nur darin, die Grenzen zu schließen und die Küstenwache zu stärken, um Menschen davon abzuhalten, das Land in Richtung Europa zu verlassen. Eins sollten wir aber doch in all den Jahren gelernt haben: So sehr die Grenzen auch gestärkt werden, es wird die Menschen nicht davon abhalten, zu gehen, wenn sie keine Hoffnung haben. Dennoch wird der präventive Ansatz immer stärker, da die europäischen Regierungen von rechts in Bedrängnis geraten und versuchen, mit rechten Politiken zu konkurrieren.
Nicht nur verschiedene europäische Länder, sondern auch die Europäische Union versucht, die Kooperation mit Ägypten und anderen afrikanischen Transit- und Herkunftsländern von Flüchtlingen und MigrantInnen zu forcieren. Dabei werden Entwicklungshilfezahlungen zunehmend als Druckmittel benutzt, um Regierungen zur Kooperation bei der Grenzsicherung zu bringen. Glaubst du, dass Ägypten ein Interesse an einer solchen Kooperation hat und auf Gelder hofft? Oder ist die Regierung nicht froh, wenn MigrantInnen und Flüchtlingen das Land wieder verlassen und weiterziehen nach Europa?
Ich denke, dass im Mittleren Osten und Nordafrika, also zum Beispiel in Libyen, Ägypten, Libanon und Jordanien, Flüchtlinge und MigrantInnen bereits seit Jahren als Druckmittel gegen Europa und andere internationale Regierungen genutzt werden. All diesen Regimen geht es dabei nicht um das Wohlergehen der Flüchtlinge und MigrantInnen. In Ägypten war das unter Mursi so und jetzt unter Sisi ebenfalls. Sisi hat die Flüchtlinge benutzt, um lokal und auch international Ängste vor ihnen zu schüren. Ich bin wirklich verärgert darüber, dass die EU der Theorie und Rhetorik folgt, nach der Ägypten als Tor fungiert, das geschlossen gehalten werden muss, um Terroristen fern von Europa zu halten und dafür Unterstützung und Finanzierung benötigt.
Meiner Meinung nach begeht die EU momentan denselben Fehler, den sie schon seit Jahren begeht, beispielsweise mit Gaddafi und all den anderen vergangenen Regimen. Sie ist blind gegenüber den Verstößen gegen die Menschenrechte und den Misshandlungen von Flüchtlingen und denkt, durch Finanzierung dieser Regime das Problem lösen zu können. Das Problem wird aber nicht gelöst – wie man beispielsweise an der schlechten Gesundheitsversorgung im Camp Zaatari in Jordanien sehen kann oder daran, dass palästinensische Flüchtlinge zwar seit den 1950er und 60er Jahren im Libanon leben, aber keine Arbeitserlaubnis erhalten. Diese Probleme müssen gelöst und nicht nur Geld zur Sicherung der Grenzen verteilt werden.
Wie ist die momentane Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen in Ägypten?
Die Situation in Ägypten ist komplex. Zunächst gibt es in Ägypten keine „Flüchtlingskultur“, etwa im Gegensatz zum Libanon, wo seit Jahrzehnten Flüchtlinge leben. Das Problem ist, dass es einen Wechsel im Umgang mit Flüchtlingen gab. Unter Mursi war es für alle SyrerInnen einfach, nach Ägypten zu kommen. Es ging ihnen relativ gut und nur sehr wenige verließen Ägypten über das Mittelmeer. Inzwischen werden Flüchtlinge zunehmend genutzt, um Hass und Angst in der internationalen als auch lokalen Gesellschaft zu schüren.
Die Situation sieht so aus, dass Flüchtlingen keine Grundrechte zuerkannt werden. Problematisch ist beispielsweise der Zugang zu Schulen. Aufgrund der hohen SchülerInnenzahlen ist es für syrische Kinder sehr viel schwerer, an einer öffentlichen Schule angenommen zu werden, als für ägyptische. Private Schulen können sich die meisten aber nicht leisten. Außerdem gibt es seit dem Militärputsch Probleme mit Ausländerfeindlichkeit: Es kommt vermehrt zu rassistischen und diskriminierenden Übergriffen gegen SyrerInnen. Sie werden beschuldigt, den ÄgypterInnen Jobs und Geld wegzunehmen, ähnlich der Fremdenfeindlichkeit in Europa. Die Regierung findet keinen angemessenen Umgang mit dieser Situation.
Ein weiteres Problem sind die von uns dokumentierten Inhaftierungen. Personen, die das Land verlassen wollen, auch Frauen und Kinder, werden für sehr lange Zeit ohne Anklage inhaftiert, teilweise bis zu einem Jahr. Wir fordern ihre Freilassung, da sie unschuldig sind, aber der Staatsschutz lehnt dies mit der Begründung ab, dass sie die nationale Sicherheit gefährden würden. Aber wie kann ein zwei Monate altes Kind eine Gefahr für die nationale Sicherheit sein? Die Taktik dahinter ist, die Flüchtlinge so lange zu inhaftieren, bis sie selbst ihrer Abschiebung zustimmen.
Welche Rolle spielen Agenturen wie das UNHCR oder die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Ägypten?
Das Problem in Ägypten ist, dass die komplette Zivilgesellschaft stillgelegt wurde, also auch die NGOs, die sich für die Situation der Flüchtlinge eingesetzt haben. So wurde etwa eine Organisation geschlossen, die Tötungen von Flüchtlingen und den Handel mit ihren Organen öffentlich gemacht hat. Human Rights Watch wurde geschlossen, ebenso wie das Nadeem Center für die Rehabilitierung von Opfern staatlicher Gewalt und Folter. Dadurch ist ein Vakuum in der Unterstützung von Flüchtlingen und MigrantInnen und der Dokumentation von Problemen entstanden. Momentan arbeiten nur Organisationen wie die IOM oder das UNHCR mit Flüchtlingen. Daraus entsteht eine Situation, die ich für kritikwürdig halte. Sie wollen es sich nicht mit der Regierung verscherzen. Das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Unterschied zu privaten NGOs. Die sind unbequemer, kritischer und machen keine Politik mit der Regierung.
Woran arbeitet ihr im Moment?
Wir arbeiten daran, unseren Fokus auf afrikanische Flüchtlinge auszudehnen, denn afrikanische Flüchtlinge sind die vergessenen Flüchtlinge. Wir leben in einer Welt, in der Leid unterschiedlich priorisiert wird. Momentan stehen die syrischen Flüchtlinge im Vordergrund, aber wenn wir ehrlich sind, leiden die somalischen oder sudanesischen Flüchtlinge an denselben Verbrechen und Misshandlungen, in manchen Ländern sogar seit längerer Zeit als in Syrien. Trotzdem liegt der Fokus auf syrischen Flüchtlingen. Andere Gruppen werden komplett vernachlässigt. In vielen europäischen Ländern werden Asylanträge von SyrerInnen priorisiert und die Anträge von AfghanInnen und Somalis geraten ins Hintertreffen.
Wie steht es um ÄgypterInnen, die das Land verlassen? Bislang sind die Zahlen gering. Könnte sich das in Zukunft ändern?
In den letzten Jahren gab es eine große Zahl von ÄgypterInnen, die in die Türkei gegangen sind, zum Beispiel Muslimbrüder. Die zweite Gruppe sind AktivistInnen, AutorInnen und JournalistInnen, Leute, die von der Repression gegen die Zivilgesellschaft betroffen sind. Ich kann nicht verstehen, wie die EU eine Kooperation oder einen Deal mit Ägypten diskutieren kann, ohne zunächst die Ausschaltung der Zivilgesellschaft zu diskutieren. Wenn die EU oder Deutschland Ägypten finanziell unterstützen sollten, ist eine starke Zivilgesellschaft unglaublich wichtig, um die Aktivitäten der Regierung und auch den Verbleib des Geldes zu beobachten.
Interview: Ramona Lenz
Übersetzt und redaktionell bearbeitet von Anne Wolter.
Ägyptische MenschenrechtsaktivistInnen haben Anfang 2014 das "Center for Refugee Solidarity" gegründet, das sich der Recherche zur Situation der Flüchtlinge und der Verteidigung ihrer Rechte widmet. Ein Teil der AKtivistInnen ist vor Ort, unter anderem Nader G. Attar hat aber in Schweden Schutz gesucht. medico unterstützt die Arbeit des Center für eine Verbesserung des Zugangs zur gesundheitlichen Versorgung von Flüchtlingen in Ägypten. Spendenstichwort: Ägypten