Beitrag von Thomas Seibert auf der Konferenz Beyond Aid 2014.
An welcher Stelle auch immer: wir alle hier beziehen uns immer wieder auf die Menschenrechte, sie sind unser gemeinsamer normativer Horizont. Umso unausweichlicher und – umso gefährlicher ist es, dass die Menschenrechte eine vielfach umkämpfte, zutiefst strittige Sache sind.
Fangen wir mit dem gefährlichsten Streit an: die Menschenrechte müssen seit über 20 Jahren immer häufiger zur Begründung von Kriegen herhalten. Ob wir das befürworten oder ablehnen: rechtens kann das insofern sein, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie die beiden ihr folgenden Menschenrechtspakte der UN (1966) die Staaten, die sie ratifiziert haben, zu ihrer Einhaltung verpflichten – was heißen kann, widrigenfalls dazu gezwungen werden zu können. Fraglich ist allerdings, ob dies dem entspricht, was man den Geist oder, etwas unverfänglicher, den Sinn der Menschenrechte nennen kann. Die nächst gefährliche Streitsache ist dann, dass die Menschenrechte oft und immer häufiger nur noch als Rechte zum Schutz besonders bedrohter Lebewesen verstanden werden, als Recht auf blankes Überleben, Recht, nicht zu verhungern oder Recht, nicht abgeschlachtet zu werden. So verstandene Menschenrechte sind dann zum Recht auf militärischen Beistand und humanitäre Hilfe reduziert. Wie problematisch das ist, zeigt sich daran, dass Beistand und Hilfe faktisch stets von westlichen Mächten oder unter ihrer Führung gewährt werden.
Dies, dass die Menschenrechte tendenziell zu Schutzrechten besonders bedrohter Lebewesen reduziert werden, hängt auch damit zusammen, dass sie zwar unbedingt verpflichtend sein sollen, in ihrem bindenden Status aber letztlich ungeklärt sind: Sie scheinen eine Art von zwar sehr hochstehenden, doch zugleich nur idealen Rechten zu sein.
Das Abdrängen ins Ideal beginnt schon mit den politischen Menschenrechten: sie sollen zwar rundherum gelten, doch trifft ihre faktische Einschränkung oft und leichthin auf Verständnis: man scheint nicht wirklich jedem oder jeder jederzeit das Recht auf freie Meinungsäußerung oder gar auf Teilhabe am demokratischen Prozess gewähren zu müssen.
Deutlicher noch ist der faktisch bloß ideale Status der Menschenrechte bei den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten. Wäre dies anders, müssten die globalen Verwertungsketten sofort gekappt werden, in denen südasiatische Textilarbeiterinnen zu Hunderten sterben, damit deutsche Textilunternehmen und deutsche Kundinnen ihre sog. „Wettbewerbsvorteile“ nutzen können. Wirklich bloßes Ideal sind die Menschenrechte, die allen Menschen in gleicher Weise das Vermögen zum freien Gebrauch der Güter der Menschheit und dieses Planeten zusprechen. Im Hinblick auf sie leben wir in einer Weltordnung, die ein einziges Menschenrechtsverbrechen ist. Wir tun dies, obwohl es im Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausdrücklich heißt: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“
Zu tun hat all’ dies immer auch mit dem Streit, der gleichsam im Menschenrecht selbst geführt wird: dem Streit, ob die Menschenrechte Freiheits- oder Gleichheitsrechte sind.
Die Lösung dieses genau besehen brandgefährlichen Rechtsstreits ist zuletzt eine politische und derart eine Machtfrage. Sie ist zuerst aber und immer auch eine Frage ihrer Deutung. Dieser Deutung werde ich mich jetzt widmen, indem ich die drei wichtigsten Deutungsansätze kritisch ins Verhältnis setze. Ich tue dies erst in grundsätzlicher Weise und dann im Blick auf zwei konkrete Streitfälle, in denen das Menschenrecht heute unser aller Problem ist.
Der Streit um die Menschenrechte beginnt mit ihrer Erklärung in der Amerikanischen und der Französischen Revolution (1776 bzw. 1789). Er bezieht sich nicht nur auf die Menschenrechte, sondern auch auf den Umstand, dass die Erklärung der Menschenrechte mit der Emanzipation der Bürger_innen der USA und Frankreichs von der königlichen Souveränität zusammenfiel, der sie bis dahin unterworfen waren. Die drei Deutungsansätze streiten sich deshalb immer auch um das Verhältnis von Menschenrecht und Volkssouveränität, d.h. um das Verhältnis von Menschenrecht und Demokratie.
Für die erste, die naturrechtlich-liberale Deutung, sind die Menschenrechte auch und gerade der Demokratie vorgeordnet: sie setzen der Volkssouveränität und damit dem Staat eine unbedingte Grenze. Diese Deutung hat den Wortlaut der Menschenrechtserklärungen auf ihrer Seite, in denen die Menschenrechte Ausdruck einer dem Menschen zugeschriebenen Natur sind, die als Natur der Geschichte und also auch der Politik vorgeordnet ist. Die Grenze der naturrechtlich-liberalen Deutung liegt darin, dass die Unterordnung der Politik unter die Menschenrechte logisch und faktisch darauf hinausläuft, die Politik zwar auf den Schutz der Menschenrechte festzulegen, ihre Verwirklichung aber zur Privatsache zu machen. Damit werden Menschenrechte denen überlassen, die privat das Vermögen dazu haben: den Ausdruck „Vermögen“ im Sinn eines ökonomischen, aber auch eines kulturellen Privilegs verstanden. Dem entspricht, dass die Menschenrechte in ihrer naturrechtlich-liberalen Deutung primär Freiheitsrechte sind.
Die zweite, die republikanische Deutung der Menschenrechte, verfährt umgekehrt. Für sie liegt der Witz der Erklärung der Menschenrechte nicht in der nachträglichen Verkündigung der natürlichen Rechte der Menschen, sondern darin, dass diese Rechte von einer Bürgerinnenschaft erklärt werden, die sich im selben Augenblick von jeder ihr vorgegebenen Macht emanzipiert. Deshalb sind die republikanisch verstandenen Menschenrechte der Volkssouveränität nach- oder sogar untergeordnet, und deshalb sind die republikanisch verstandenen Menschenrechte Rechte der Menschen als Bürgerinnen einer gegebenen politischen Einheit oder Gemeinschaft und damit primär Gleichheitsrechte. Die republikanische Menschenrechtsdeutung kennt deshalb im Grund nur ein Menschenrecht: das Recht, freie Bürgerin zu sein, das Hannah Arendt als das „Recht auf Rechte“ bezeichnet hat. Damit ist dann allerdings das Problem verbunden, dass die republikanische Deutung die Souveränität des Königs durch die Souveränität der politischen Einheit oder Gemeinschaft der Bürgerinnen ersetzt. Den Preis dafür zahlen zum einen diejenigen, die keiner politischen Gemeinschaft angehören, deshalb kein Bürgerinnenrecht und damit kein Menschenrecht haben. Den Preis dafür zahlen zum anderen diejenigen, denen das Bürgerinnenrecht, damit aber auch ihr Menschenrecht entzogen wird. Was das bedeuten kann, haben wir im 20. Jahrhundert, in den Exzessen der Volkssouveränität, zur Genüge erfahren müssen.
Wenn die dritte Deutung der Menschenrechte als revolutionäre Deutung bezeichnet wird, dann liegt das darin, dass sie auszudeuten versucht, was mit der Erklärung der Menschenrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution eigentlich geschehen ist und weiter geschieht, wer hier eigentlich was erklärt hat und weiter erklärt und was das praktisch heißt. Sind die Menschenrechte in ihrer naturrechtlich-liberalen Deutung der Politik vorgeordnet und deshalb ebenso Ideologie wie tendenziell bloßes Ideal, und sind die Menschenrechte in der republikanischen Deutung der Politik unter- und nachgeordnet und deshalb Verfügungsmasse einer zwar demokratisch verfassten, doch nach wie vor souveränen Macht, so sind die Menschenrechte in ihrer revolutionären Deutung der Politik weder vor- noch nachgeordnet, sondern Programm einer Politik, die tendenziell jede Souveränität kritisiert: auch die nationalstaatlich verfasste Volkssouveränität. Die revolutionäre Menschenrechtsdeutung hat deshalb auch einen anderen Blick auf ihre Erklärung in der Amerikanischen und Französischen Revolution. Sie hält ausdrücklich fest, dass die vorgeblich natürlichen Menschenrechte praktisch als Rechte weißer Männer bürgerlicher Klassenzugehörigkeit erklärt worden sind. Zugleich aber verweist sie darauf, dass mit der Amerikanischen und Französischen Revolution erst begonnen hat, was sie als „Revolution der Menschenrechte“ bezeichnet. So folgt auf die französische Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger von 1789 bereits 1791 die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, in der Olymp de Gouges den Männerbürgern entgegenhält: „Wenn die Frau das Recht hat, das Schafott zu besteigen, dann hat sie ebenfalls das Recht, die Rednertribüne zu besteigen.“ (Menke/Raimondi: 56) Im selben Jahr, 1791, folgt der Französischen Revolution die Revolution auf Haiti, in der sich die schwarzen Sklavinnen gegen die Französische Republik erheben und ihre eigene Unabhängigkeit, ihre eigenen Menschen- und Bürgerinnenrechte erklären. Fünf Jahre später, 1796, wird im republikanischen Frankreich die sog. „Verschwörung der Gleichen“ gegründet, die den Menschen- und Bürgerrechten der französischen Bourgeoisie die Menschen- und Bürgerrechte des französischen und internationalen Proletariats entgegensetzt: „Wir wollen nicht nur diese Gleichheit, die in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte geschrieben steht, wir verlangen die Gleichheit in unserer Mitte, unter dem Dach unserer Häuser“ (Menke/Raimondi: 90)
Für die revolutionäre Menschenrechtsdeutung ist erst die „Gleichheit in unserer Mitte, unter dem Dach unserer Häuser“ die wirkliche Gleichheit der wirklichen Freiheit. Deshalb sind die revolutionär gedeuteten Menschenrechte gleichursprünglich und gleichen Ranges Gleichheits- und Freiheitsrechte. Indem ich die revolutionäre Menschenrechtsdeutung hier zum dialektischen Dritten im Widerspruch der naturrechtlich-liberalen und der republikanischen Menschenrechtsdeutung mache, ergreife ich ganz offensichtlich ihre Partei. Rechtfertigen will ich das jetzt einerseits durch eine gleichsam definitorische Begründung meiner Wahl, und andererseits durch die ebenso kurze Benennung der ihr aktuell gestellten Herausforderungen, von denen ich glaube, dass sie unsere gemeinsamen Herausforderungen sind.
1.) Ich halte die revolutionäre Menschenrechtsdeutung für die richtige Deutung der Menschenrechte, weil sie die Menschenrechte der Demokratie weder vor- noch unterordnet, sondern die Demokratie als den offenen Prozess einer permanenten Revolution der Menschenrechte bestimmt. Dieser Prozess besteht darin, die Rechte der Menschen- und Bürgerinnen fortlaufend neu zu deuten, fortlaufend zu erweitern, Zug um Zug zu verwirklichen und darin das „Recht auf Rechte“ auszuüben, in dem die Menschen gleichursprünglich und gleichrangig ihre Gleichheit und Freiheit ausdrücken. Das so verstandene Menschen- und Bürgerinnenrecht kann niemandem „von oben“ gewährt und für niemanden herbeigebombt werden, sondern immer nur das Resultat eines offenen Prozesses der Selbstermächtigung sein: als gleiches Recht aller auf Selbstermächtigung zur Freiheit. Damit ist – und daran hängt hier alles – unmissverständlich gesagt, dass die Menschenrechte zwar immer auch Schutzrechte sind, doch nie nur Schutzrechte eines besonders bedrohten Lebewesens, sondern eines Wesens, das zur Freiheit befähigt ist. Obwohl ich das hier nicht weiter ausführen kann, möchte ich doch ausdrücklich festhalten, dass das „Recht auf Rechte“ nach einer Formulierung des Philosophen Christoph Menke ein „Recht auf Menschheit oder Subjektivität“ (Menke: 18) ist. Mit diesem Recht ist logisch und faktisch die Verwirklichung der gesellschaftlichen Bedingungen eingefordert, die gegeben sein müssen, damit jeder Mensch die Möglichkeit hat, zum freien Subjekt des eigenen Lebens zu werden und als solches anerkannt zu werden. Damit ist zugleich erklärt, warum sich das eine Menschenrecht als „Recht auf Menschheit oder Subjektivität“ gleichsam von selbst in die Vielzahl der vielen Menschenrechte ausdifferenziert, die wir heute als politische, soziale und kulturelle Menschenrechte auf „eine soziale und internationale Ordnung“ der Gleichheit und Freiheit kennen. Was die gesellschaftlichen Bedingungen des Rechts auf Subjektivität sind, kann nur im Vollzug dieser Subjektivität bestimmt werden: Subjektivität ist zugleich die Form und der Inhalt dieses Rechts und der Politik, die es schützt, indem sie es verwirklicht.
2.) Mit dem letzten Satz meiner Definition der revolutionären Menschenrechtsdeutung habe ich zugleich die erste Herausforderung genannt, die sich der „Revolution der Menschenrechte“ und damit uns allen heute stellt. Die republikanische und die revolutionäre Menschenrechtsdeutung stimmen darin überein, die Vielzahl von Menschenrechten auf ein einziges Menschenrecht zu beziehen, das sich als Recht bewährt, Subjekt werden zu können und darin anerkannt zu sein. Für beide Deutungen heißt das, die Menschenrechte zugleich als Bürgerinnenrechte zu verstehen. Die republikanische Deutung bindet die Bürgerinnenrechte aber an die Zugehörigkeit zu einer – meist national definierten – Einheit oder Gemeinschaft. Die revolutionäre Deutung geht hier den entscheidenden Schritt weiter und beruft sich auch dazu auf die Französische Revolution. Die brachte mehrere, einander ablösende Verfassungen hervor, eine davon war die 1793 formulierte Jakobinerverfassung. Auch sie gewährte das Bürger- und damit alle Menschenrechte nur den Männern, sprach dieses Männer- und Bürgerrecht aber umstandslos allen Franzosen – und allen Ausländern zu, die mindestens ein Jahr in Frankreich lebten, dort arbeiteten oder Eigentum besaßen oder eine Französin geheiratet oder sich Verdienste um die Menschheit erworben hatten. Nicht, dass ich das für ausreichend halte – mir geht es um den Witz des Artikels 4 der Jakobinerverfassung: die Entnationalisierung der Bürger- und damit der Menschenrechte. Wenn wir die Menschenrechte verwirklichen, indem wir sie zu Bürgerinnenrechten machen, entspricht das nur dann dem Geist oder Sinn der Menschenrechte, wenn ihre Einheit in beide Richtungen ausbuchstabiert wird: Menschenrechte sind Bürgerinnenrechte, und Bürgerinnenrechte sind Menschenrechte. Die aktuellen Kämpfe der Migrantinnen artikulieren diese Herausforderung und damit den heutigen, uns alle verpflichtenden Stand der „Revolution der Menschenrechte“.
3.) Die Entnationalisierung der Einheit von Menschen- und Bürgerinnenrechten bezieht sich aber nicht nur auf die subjektive Seite – wer ist Bürgerin der menschenrechtlichen politischen Einheit? -, sondern auch auf die objektive Seite: auf diese politische Einheit selbst. Spätestens seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und den Menschenrechtspakten von 1966 stellt die offene Liste der Menschenrechte einen Vorgriff auf eine politische Weltverfassung dar: auf einen globalen Gesellschaftsvertrag. Die „Revolution der Menschenrechte“ wird heute überall dort ausgefochten, wo um diesen globalen Gesellschaftsvertrag oder wenigstens um Abschnitte dieses Vertrags gerungen wird. Dabei wiederholen sich Auseinandersetzungen, die bereits im nationalen Rahmen geführt wurden. Wenn die Menschenrechte die gesellschaftlichen Minimalbedingungen formulieren, die gegeben sein müssen, damit weltweit jede und jeder zum Subjekt des eigenen Lebens werden kann: was müssen diese Bedingungen dann festlegen? Geht es um Minimalbedingungen des Überlebens im Rahmen des Möglichen oder geht es um die Minimalbedingungen, die gegeben sein müssen, damit alle in freier und gleicher Weise Zugang zur sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Selbstbestimmung haben, freien und gleichen Zugang zu Bildung, Gesundheit, zum Wohnen, zum freien Verkehr und zum Wissen?
Es sind dies politische Auseinandersetzungen, bei denen es nicht nur um Ungerechtigkeiten, sondern um Unrecht und folglich um das eine Menschenrecht geht, das „Recht auf Menschheit und Subjektivität“. In letzter Instanz gibt es dieses Recht nur im Sichbefreien der Menschen zu ihrem Recht und allen ihren Rechten.