Nach der Flut

Interview mit Dr. Tanveer Ahmed, Geschäftsführer von HANDS

08.09.2010   Lesezeit: 5 min

medico: Hätte die Katastrophe, die der Flut folgte, vermieden werden können?

Dr. Tanveer Ahmed: Ich glaube nicht, dass die Katastrophe komplett hätte vermieden werden können. Aber man hätte das Ausmaß reduzieren können. Es waren die heftigsten Regenfälle seitdem die Wassermengen aufgezeichnet werden. Zugleich befinden sich unsere Bewässerungssysteme und der Hochwasserschutz in sehr schlechtem Zustand. Wir haben zu wenig Dämme und Stauanlagen, die Wasser speichern können. Ein besserer Hochwasserschutz hätte hier womöglich 50% der Zerstörung verhindert.

Was für ein Land wird Pakistan nach dieser Katastrophe sein?

Es ist wirklich ein sehr tragisches Unglück. Betroffen sind Millionen von Menschen. Ein Terrain von ca. 2.000 Kilometer Länge entlang des Indus ist überflutet. Dazu gehören die Provinzen Sindh und Punjab. Das sind die fruchtbarsten Regionen des Landes. Nun aber ist der Boden wegen der Flut vorerst nicht mehr landwirtschaftlich nutzbar. Und auch in Zukunft wird die Ernte – vor allen Dingen Reis – aus diesem Gebiet eher mager ausfallen. Wir gehen davon aus, dass die Armut in Pakistan um ein Drittel zunehmen wird.

Mit den steigenden Nahrungsmittelpreisen wird auch die Unterernährung zunehmen. Sich ausbreitende Krankheiten werden zu höherer Sterblichkeit bei Kindern und Frauen führen. Betroffen sind das Gesundheits- und Bildungssystem, viele Einrichtungen wurden zerstört. Wir erwarten einen Anstieg der Analphabetenrate. Zu befürchten ist, dass Bildungsangebote und die Alphabetisierung der Armen ausgesetzt werden. Die Absicherung des Gesundheitssystems ist nicht mehr gewährleistet, das wiederum lässt die allgemeine Sterblichkeitsrate ansteigen. Hinzu kommen die massiven Verluste im Viehbestand, der eigentlich eine wichtige Lebensgrundlage der Menschen darstellt. Schätzungsweise 50% der Tiere sind verendet oder werden nicht überleben, weil ihre Besitzer unter die Armutsgrenze fallen werden. Die Armut wird tatsächlich sehr stark ansteigen und damit auch Ausbeutung, politische und häusliche Gewalt gegenüber Frauen. Es ist auch zu erwarten, dass die Kriminalität ansteigen wird.

Könnten Islamisten die Katastrophe ausnutzen, um ihren Einfluss zu vergrößern?

Nicht nur Fundamentalisten, sondern auch Kriminelle nutzen die Situation aus. Diese Gruppierungen profitieren immer von fehlender Bildung, Armut und Krankheiten. Da wir hier mit all diesen Missständen konfrontiert sind, können wir davon ausgehen, dass auch Fundamentalisten versuchen werden ihre Chance zu nutzen. Insbesondere bei jungen Menschen. Unsere Jugend hat wenig Perspektiven, kaum Möglichkeiten ihre Produktivität zu entfalten. Daher müssen wir unsere Jugend unterstützen, sie aus der Armut führen, ihr eine Perspektive geben.

Immer wieder kommt es zu Protesten der Flüchtlinge. Hat die Regierung versagt?

Auch die Regierungskapazitäten sind mit diesem Ausmaß überfordert. Aber das Hauptproblem ist die Korruption. Die Regierung erhält sehr wenig finanzielle Unterstützung aus dem Ausland, weil befürchtet wird, das Geld könne in falschen Kanälen landen.

Sind Sie in ihrer Arbeit mit Korruption konfrontiert?

Bisher nicht. Wir erhalten zwar keine finanzielle Unterstützung durch die Regierung, aber die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Wir bekommen alles, was wir zur Versorgung der Flüchtlinge brauchen, nur kein Geld. Die Regierung hat immer noch die beste Infrastruktur, sie ist die wichtigste Institution im Lande. Ihre Aufgabe wäre es eigentlich, die Aktivitäten zu leiten, zu koordinieren. Aber das tut sie nicht.

Wie beurteilen sie die Arbeit der großen internationalen Hilfsorganisationen, der UNO?

Die internationalen Organisationen werden ihren Aufgaben nicht gerecht. Sie entfalten aus meiner Sicht nicht die umfangreichen Aktivitäten, zu denen sie beim Tsunami oder dem Erdbeben in Haiti in der Lage waren. Dafür mag es viele Gründe geben. Einer davon ist sicher, dass es sehr lange dauerte, bis finanzielle Zusagen der internationalen Geber in entsprechender Höhe zustande kamen. Ich halte das für fatal, da wir mit einer Katastrophe von enormen Ausmaßen konfrontiert sind und enorme Anstrengungen erbracht werden müssen. Das bringt die Demokratie in unserem Land in Gefahr, eben weil Fundamentalisten die Situation ausnutzen.

Nun überbieten sich die Hilfsangebote: Indien und die USA wollen Mittel bereitstellen. Damit verbunden sind auch politische Interessen. Wird humanitäre Hilfe zum Instrument von Geopolitik?

Es ist unglücklicherweise so, dass viele Akteure nicht den humanitären Aspekt, sondern ihre geopolitischen Interessen in den Vordergrund stellen. Wenn man Hilfe so plant, läuft alles falsch. Ich appelliere an alle Geber und an alle Länder: Bitte planen Sie ihre Hilfsaktionen auf der Grundlage reiner humanitärer Notwendigkeiten und entscheiden Sie Ihre Strategien nicht nach geopolitischen Gesichtspunkten. Ihre Unterstützung sollte auf dem Mitgefühl mit dem pakistanischen Volk aufgebaut werden und nicht auf politischen Interessen.

Wie sieht Ihre langfristige Vision für Pakistan aus?

Ich sehe ein wohlhabendes, gesundes Pakistan. Pakistanische Kinder und Jugendliche haben das gleiche Recht auf Gesundheit und Bildung wie die Kinder und Jugendlichen in anderen Ländern. Ich bin durchaus optimistisch. In den letzten Jahren hat es viele Verbesserungen gegeben. Unsere Medien haben große Unabhängigkeit erreicht, ein Zeichen, das Optimismus wecken kann. Unsere Demokratie ist nicht perfekt, aber einige Schritte der gegenwärtigen Regierung stärken die Demokratie und werden langsam, Schritt für Schritt, zu mehr Wohlstand und mehr Demokratie führen.

Was sind die größten Hindernisse auf diesem Weg?

Das größte Problem ist die geostrategische Lage Pakistans, weshalb sich viele Mächte in Pakistan einmischen. Pakistan ist internationales Kriegsgebiet. Das ist ein riesiges Problem.

Was ist die Rolle von HANDS in einem Prozess der Veränderung in Pakistan?

Wir setzten uns für ein wohlhabenderes und gesünderes Pakistan ein. Das ist eine langsame Revolution. Es leben fast 150 Millionen Menschen in Pakistan, sie wollen Wohlstand und das Recht auf Gesundheit, sie sind bereit, sich für eine positive Entwicklung einzusetzen, das wird eine Veränderung bringen.

Das Interview führte Bernd Eichner Ende August 2010 in Pakistan.

Projektstichwort:

Nach Beginn der Flut in Pakistan erhielten wir durch unsere Kollegen von HANDS, mit denen wir im People’s Health Movement seit Jahren kooperieren, die Bitte um Unterstützung. Seither unterstützt medico neun große Zeltlager für Flutopfer in zwei Regionen der Provinz Sindh, in denen etwa 6.000 Menschen leben. Zum Projekt gehört die Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln, sanitären Einrichtungen, aber auch Gesundheitsangebote für Menschen und Tiere, Schulunterricht für die Kinder und eine Rückkehrhilfe, wenn die Fluten zurückgegangen sind. Eine weitere Kooperation in der Wiederaufbauphase ist bereits vereinbart. Das Stichwort dafür lautet: Pakistan.


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