Nicht nur die Weißen helfen

Guatemaltekische Dentalpromotoren leisten Nothilfe in Haiti und machen unerwartete Erfahrungen

06.07.2010   Lesezeit: 6 min

Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker – das war einer der blumigen Sprüche aus den 1980er Jahren, die die weltweite Unterstützungsbewegung für die sandinistischen Veränderungsbemühungen begleiteten. Mit dem Scheitern der Sandinisten hatte auch diese Idee an Glanz verloren. Aufgegeben aber wurde sie nicht. Auf der medico-Konferenz „Solidarität heute“ definierten die Beteiligten sie vor zwei Jahren als „Solidarität zwischen Gleichen, zumindest gleichermaßen Bedrohten“. Nach der Erdbebenkatastrophe von Haiti hat sich diese Idee in einem Projekt sinnbildlich verwirklicht. 6 guatemaltekische Bauern, die in ihrer Freizeit als Gesundheits- und Zahnpromotoren in ihren Gemeinden tätig sind, fuhren auf Vermittlung von medico für vier Wochen nach Leogane, der Stadt, die am nächsten zum Epizentrum des Erdbebens liegt. Dort füllten sie eine Lücke: Es gibt keinerlei zahnmedizinische Versorgung in dieser Armutsregion. Und sie füllten viele Lücken. Jugendliche kamen mit zum Teil 18 kariösen Zähnen. Ein Zeichen für den Mangel und die Vernachlässigung, denen die meisten Haitianer ausgesetzt sind. Wir veröffentlichen Auszüge aus den Berichten unserer guatemaltekischen Kollegin Elizabeth Ibarra, die seit vielen Jahren die Arbeit in Guatemala über unseren dortigen Projektpartner ACCSS koordiniert.

Ich schreibe an einem der heißesten Tage, die ich je in meinem Leben erlebt habe. In dieser Hitze haben sich die Wolken aus Mücken vertausendfacht. Sie stechen uns unaufhörlich, als wüssten sie, dass wir nur noch ein paar Tage bleiben werden. Wir sind jetzt fast 4 Wochen in Leogane und haben bereits einiges erreichen können. Wir arbeiten ohne Zeitbegrenzung, um eine größt- und bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Neben der Arbeit im Camp haben wir auch die Besuche der ländlichen Gemeinden von Leogane fortgesetzt. Bislang waren wir in 11 Gemeinden, einige davon liegen in der Bergregion südlich von Leogane. So z.B. Orange, das 1.500 Meter hoch gelegen ist. Die beiden Kollegen, die dort waren, versichern, dass der Fußmarsch kein Spaziergang war. Eine Straße gibt es nicht. Die Einwohner der Dörfer haben sich immer sehr dankbar gezeigt und uns ihr bestes Essen angeboten. Immer wieder kommt der Wunsch, wir mögen doch länger bleiben.

Wir haben bis jetzt 450 Patienten behandelt. Im Durchschnitt 20-25 Patienten täglich. Etwa anderthalb Stunden pro Patient brauchen die Teams. Wie mit medico international abgesprochen, haben wir entschieden, bei jeder Patientin, jedem Patienten nur die dringendsten Probleme zu beheben, denn angesichts der Menge an Karies bei den meisten Patientinnen und Patienten und dem Zeitaufwand für deren Entfernung wären andere Personen sonst nicht zum Zuge gekommen.

Schwarze Schneidezähne

Besonders gerührt waren wir, als eine Gruppe Jugendlicher (Mädchen und Jungen im Alter von 13-20 Jahren) aus den Dörfern zur Behandlung erschienen. Bei allen waren die Schneidezähne schwarz von Karies. Sie lächelten nicht mehr und versuchten beim Sprechen zu vermeiden, dass man ihre Zähne sieht. Juan, Francisco, Nicolás und Sebastián haben großartige Arbeit geleistet. Die Freude bei den Jugendlichen war riesig und wurde mit einer wahren Fotoorgie mit strahlenden Zähnen gefeiert. Wieder einmal ein Beweis dafür, dass unsere Arbeit keineswegs nur darin besteht, Zähne zu reparieren, sondern auch darin, ein Stück Lebensqualität und Freude wiederherzustellen. Das ist von Bedeutung, gerade weil die Menschen hier so viel erlitten und verloren haben.

Auch lokale Persönlichkeiten haben uns aufgesucht und wurden von uns behandelt. So der Bürgermeister von Leogane. Sein Körpergewicht von fast 200 kg war eine wahre Herausforderung, denn wir hatten keinerlei Sitzgelegenheit, die seinem Gewicht standgehalten hätte. So musste er am Samstag wiederkommen und seinen eigenen Stuhl mitbringen. Wegen der Risse in Wänden und Decke wollte er auch nicht im ersten Stock behandelt werden, dort, wo wir unsere Zahnpraxis eingerichtet haben. Selbst der lokale Polizeichef kam in die Sprechstunde, nachdem zwei von uns zur Polizei gegangen waren, um vor Ort die Polizistinnen und Polizisten zu behandeln. Sie waren sehr gerührt, weil noch niemand zu ihnen gekommen sei, um sie zu unterstützen, nur um von ihnen zu verlangen, dass sie etwas für die Gemeinden tun sollten. Wir sind uns aber mit medico einig, dass dies Ausnahmen bleiben sollen, denn wir wollen ja in erster Linie jene Menschen behandeln, die ansonsten keine entsprechenden Möglichkeiten haben. Das ist nicht immer einfach, weil wir immer wieder damit konfrontiert werden, dass Einzelne, die Kontakte zu Leuten im Camp haben, versuchen, uns einen Angehörigen oder Freund an der Schlange der Wartenden vorbei zuzuführen. Wir mussten sehr energisch klar machen, dass wir das nicht tolerieren und wir erst einmal nacheinander jene behandeln, die bereits in der Früh zur Sprechstunde erschienen sind und auf ihren Turnus warten.

Zahnbürsten von der WHO

Die Nachricht unserer Anwesenheit hat sich schnell verbreitet. Am vergangenen Donnerstag erhielten wir dann auch Besuch eines Delegierten der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der sich interessierte, wer wir seien, von wo wir kämen und wer uns unterstütze. Ich habe ihm ausführlich unser Verständnis von Basisgesundheitsversorgung erläutert, von unseren Programmen in Guatemala und der Unterstützung durch medico international berichtet. Da ich aus anderen Erfahrungen weiß, dass unsere Arbeit gerne von Ministerien und anderen Behörden in ihre Berichte aufgenommen wird, ohne dass wir je eine reale Unterstützung erfahren, habe ich mir erlaubt gleich zu ergänzen, ob er uns denn nicht Zahnbürsten, Fluor und Einweghandschuhe zur Verfügung stellen könnte, um in den Schulen und Waisenhäusern präventive Aktionen durchführen zu können. Er versprach zu helfen.

Die hygienischen Verhältnisse hier sind deprimierend. Überall sieht man Menschen, die neben oder auf Müll sitzen und ihre Waren zum Verkauf anbieten. Ein umfassendes, auf das Gemeinwesen ausgerichtetes Gesundheitsprogramm, könnte hier mittels Informations- und Aufklärungsarbeit ansetzen. Nur wenige Familien, vor allem im ländlichen Raum, verfügen über Toiletten oder Latrinen und verrichten ihre Notdurft im Freien, meist ohne diese dann zuzudecken oder anderweitig zu entfernen. Malaria grassiert allenthalben und der Grad an unkontrollierter Einnahme von Medikamenten ist besorgniserregend. Uns wurde berichtet, dass Frauen nach der Menstruation Ampicilin nehmen um ihr Blut zu reinigen, weil sie der Meinung sind, dass sie während der Menstruation eine Infektion haben. Das hatte auch Auswirkungen auf unsere eigene Arbeit, weil aufgrund von Antbiotikaresistenzen die Medikamentierung bei Vereiterungen nicht anschlug. Auch die Zahngesundheit ist äußerst prekär. Die Essgewohnheiten sind dabei nicht hilfreich. Die Lebensmittel werden oft so lange gekocht, dass sie wertvolle Inhaltsstoffe verlieren. Rohes Gemüse, Salat und Früchte werden wenig gegessen. Bei vielen Patienten haben wir Zahnhälse gesehen, die völlig frei lagen und das Ausmaß an Zahnstein ist erschreckend. Entschuldigt, dass ich alles durcheinander berichte und wenig zu den weiteren Perspektiven der Arbeit schreibe. Ein Basisgesundheitsprogramm, mit einer zahnmedizinischen Komponente, wäre sicherlich sehr angebracht. Hier sind wir aber zu sehr eingespannt, um konkretere Überlegungen auszuarbeiten. Dazu werden wir erst nach unserem Aufenthalt kommen.

Elizabeth Ibarra, Juni 2010, Leogane, Haiti

Projektstichwort:

Von Ende Mai bis Ende Juni 2010 arbeiteten guatemaltekische Zahnpromotoren in Haiti und mussten entdecken, dass es um die Zahngesundheit verheerend bestellt ist. Neben vielen anderen Projekten der Not- und Wiederaufbauhilfe, die medico unterstützt, wird diese Arbeit im Rahmen von Basisgesundheitsprogrammen, an denen wir mit unseren haitianischen Kollegen arbeiten, fortgesetzt. Das Spendenstichwort lautet: Haiti.


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