Notizen aus der Provinz

Wahlkampf in der mexikanisch-guatemaltekischen Grenzregion: Im Mittelpunkt die Forderung nach einer sozial gerechten Politik

15.09.2011   Lesezeit: 6 min

Von Guatemala-Stadt aus ist der Landkreis Ixcán im Nordwesten des mittelamerikanischen Landes nicht einmal Provinz. Die Oligarchie in der Hauptstadt interessiert sich für die Region höchstens wegen der natürlichen Ressourcen und den exorbitanten Profiten aus dem Drogen- und Menschenhandel, der über die Region abgewickelt wird. Die einheimische überwiegend indigene Bevölkerung hingegen gilt als nicht weiter beachtenswert. Außer im Wahlkampf. Der medico-Partner ACCSS (Asociación Coordinadora Comunitaria de Servicios para la Salud), der in der Region seit den Friedensabkommen von 1996 Gesundheits- und Gemeinwesenarbeit organisiert, nutzte die Gunst der Wahlkampf-Stunde und veranstaltete vier öffentliche Diskussions-Foren mit den Bürgermeisterkandidaten des Landkreises. Mit erstaunlichem Erfolg: über 800 Personen nahmen daran teil.

Warum ändert sich nichts?

Humberto de León leitet das von medico aus Spenden und mit Mitteln des Bundesministeriums für Zusammenarbeit und Entwicklung geförderte Kinder- und Jugendprojekt von ACCSS. Er erläutert, dass die Stärkung der Bürgerbeteiligung eine zentrale Komponente des Projekts darstelle. „Wir unterstützen die Jugendorganisationen in 28 Dörfern unter anderem in der Artikulation ihrer Interessen auf lokaler und regionaler Ebene. Die anstehenden Wahlen sind ein guter Anlass zur Reflektion und Positionierung, darüber wie die öffentlichen Haushalte eingesetzt werden, welchen Stellenwert Investitionen in die Sozialpolitik haben. Dabei geht es uns weniger um die Wahlen im engeren Sinne, sondern um eine Frage: Warum ändert sich für die Menschen in dieser Region nichts? Warum ist sie von Armut und extremer Armut geprägt, während die Regierenden eine neoliberale Politik verfolgen, die Privatisierung der öffentlichen Dienste vorantreiben und die natürlichen Ressourcen an ausländische Firmen verhökern.”

In den Foren wurde ein striktes Reglement angewandt, um eine respektvolle Atmosphäre und die Gleichbehandlung aller Kandidaten zu sichern. Die Fragen aus dem Publikum wurden auf Zettel geschrieben und dann thematisch zusammengefasst. Die meisten Fragen drehten sich um die Wahlprogramme der Kandidaten. Immer wieder wiesen Fragesteller auf ihre Erfahrung mit nicht eingehaltenen Wahlversprechen hin. Ein Beispiel: Seit 15 Jahren künden die Bürgermeister den Bau eines dringend erforderlichen Regionalkrankenhauses für die 182 Dörfer des Landkreises mit über 80.000 Einwohnern an. Bis heute wurde aber nicht einmal der Grundstein gelegt. Erst kürzlich haben Einwohner des Stadtviertels Zone 2 von Playa Grande aus eigener Entscheidung ein Grundstück zur Verfügung gestellt, in der Hoffnung, dass sich dann etwas tun würde. Vergeblich.

Kein Krankenhaus seit 15 Jahren

Viele Fragen bezogen sich auf die Themen Gesundheit und Erziehung. Für Humberto de León ein Hinweis auf den Erfolg der Arbeit. „Vor zwei Jahren haben wir gemeinsam mit den lokalen Gesundheitsakteuren den Zustand der Gesundheitsdienste in den Gemeinden untersucht und einen entsprechenden Forderungskatalog an die Kommunen und Regionalverwaltungen erarbeitet.” Dies wurde nicht nur den Verantwortlichen vorgetragen, sondern auch intensiv in den Dörfern vorgestellt. Nun werden die Kandidaten mit Ergebnissen dieser Arbeit konfrontiert.

Auch ist vielen Menschen in den Gemeinden bewusst, dass es nicht nur um die Forderung nach einem Krankenhaus, nach mehr Ärzten und Medikamenten geht. Die sozialen Determinanten der Gesundheit sind in den Gemeinden bekannt. So bereitet die Trinkwasserversorgung und -qualität große Sorgen. Von ACCSS durchgeführte Wasseranalysen haben ein erschreckend hohes Ausmaß an Kontaminierung mit Fäkalien ergeben. Um die negativen sozialen, ökonomischen und umweltbezogenen Auswirkungen der sogenannten Megaprojekte (Staudämme, Tagebaue, Erdölförderung, Palmölplantagen) organisiert sich bereits seit Jahren ein massiver Widerstand. Eine vor drei Jahren autonom organisierte Volksbefragung ergab eine überwältigende Ablehnung der geplanten Staudammprojekte.

Besuch eines Professors

Szenenwechsel: Früher behandelte Hugo Rossetti die Zähne der Kinder von Reichen und Prominenten in Argentinien. Eines Tages fasste er den Entschluss, sich um den Erhalt der Zahngesundheit der einfachen Menschen zu kümmern. Dieses Engagement führte ihn u.a. nach Kuba, Bolivien, in die Flüchtlingslager der Sahrauis und viele Länder mehr. Er arbeitete mit der Weltgesundheitsorganisation und Nichtregierungsorganisationen. Rosetti ist in diesen Wahlkampfwochen zum zweiten Mal bei ACCSS in Guatemala, um die Arbeit der Dentalpromotoren in den Dörfern zu begutachten. Mittlerweile ist es nicht bei den Promotoren geblieben, die ACCSS im Laufe der vergangenen 20 Jahre ausgebildet hat. Im Rahmen des oben erwähnten Jugendprojekts wurden in 28 Dörfern über 40 Jugendliche als Gesundheitsbrigadisten ausgebildet sowie 150 Hygienekomitees in 38 Schulen gegründet. Jede Klasse hat nunmehr zwei Beauftragte, die regelmäßige Hygienekampagnen organisieren: zur Zahnpflege, zur Schädlingsbekämpfung, zur Müllentsorgung und vielen anderen Themen.

Rosetti ist begeistert: „Euer Jugendprojekt ist ein Gesundheits- und ein psychosoziales Projekt par excellence.” Es verbinde Aus- und Fortbildung, Selbstorganisation, kulturelle und sportliche Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen. „Die Kinder und Jugendlichen, denen ich begegnet bin, lachen, scherzen, sind wissbegierig und engagiert. Was sonst ist Gesundheit.” In der Abschlussbesprechung, nachdem er die gesamte Arbeit von ACCSS in Ixcán begutachtet hat, sagt Rosetti: „Ihr seid euch der Tragweite eurer Arbeit nicht bewusst. Selten habe ich Gesundheitsprojekte besucht, die nicht nur an einzelnen Indikatoren, sondern - wie ihr hier - umfassend für Gesundheit arbeiten.”

So optimistisch die Erfolge in Ixcán stimmen können, die Optionen für Guatemala in diesen Wahlen sind mehr als unerfreulich. Im Oktober könnte der Ex-General Otto Perez Molina die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Er wäre ein Präsident, dem schwerste Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg vorgeworfen werden. ACCSS und den anderen medico-Partnern bereitet die Aussicht große Sorgen. Dennoch ist man sich einig, dass die Arbeit weitergehen muss. „Die Menschen hier brauchen reale Optionen, um ihre Lebensumstände zu verbessern, Fortschritte im Gesundheitsbereich, mehr Schulen und besser ausgebildete Lehrer, nicht mehr Polizei, Waffen und Gefängnisse“, so Humberto de León. Mit Ausnahme von Rigoberta Menchú - Präsidentschaftskandidatin für die Allianz ihrer Partei WINAQ mit den Linksparteien, die aus der ehemaligen Guerilla hervorgegangen sind - bieten die Kandidaten keine Antwort auf die weiter vorherrschende Ausgrenzung und Marginalisierung der Bevölkerungsmehrheit, der Indígenas, sondern setzen auf Stärkung des Militärs, auf Ausverkauf der Naturressourcen, auf Privatisierung. „Hier in Ixcán ist sich die Mehrheit der Bevölkerung im Klaren, dass bei den fünf aussichtsreichsten Kandidaten nur das geringere Übel zur Wahl steht und sich die Konflikte weiter zuspitzen werden.” Dann steht die guatemaltekische Provinz im Brennpunkt globaler Konfliktthemen. Denn es geht um die erneute Landkonzentration im Rahmen der Ausdehnung der Palmöl- und Zuckerrohrplantagen für die Produktion von Agrosprit, die drohenden Umsiedlungen für Staudammprojekte, die Erdölförderung und die damit einhergehende Zerstörung der Wälder. Die Rückkehr des Militärs in die Region, das nach dem Friedensabkommen Ixcán verlassen hat, kündigt bereits an, wie diese Globalisierungsprozesse in einer traditionell widerständigen Region durchgesetzt werden sollen: Durch die Kriminalisierung der sozialen Proteste.

Dieter Müller

Projektstichwort

Seit über 30 Jahren gehören die Kollegen von ACCSS in Guatemala zum medico-Netzwerk. Zuletzt waren Zahnpromotoren aus Guatemala als Nothelfer in Haiti. Das beschriebene Jugendprojekt in Ixcán, das Aus- und Fortbildung mit politischer Selbstorganisation und Gesundheitsaufklärung verbindet, ist Teil der politischen Bewegung in Ixcán. Sie setzt sich für soziale Gerechtigkeit und den Stopp der Ressourcenausbeutung ein, die - geht es nach dem Willen der Eliten - in der Grenzregion Guatemalas in neue Wachstumsdimensionen vordringen soll. Spenden können Sie für die Arbeit von ACCSS unter dem Stichwort: Guatemala.


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