Von Hendrik Slusarenka
Der Raum ist voll. Über 150 Familien versammeln sich Anfang Februar 2015 in einem Konferenzsaal in Karatschi. Sie sind organisiert in der Baldia Factory Fire Affectees Association, der Selbstorganisation der Hinterbliebenen und Überlebenden des Feuers in der Textilfabrik von Ali Enterprises. In der Fabrik brach 2012 ein Feuer aus und 260 Arbeiterinnen und Arbeiter verbrannten. Der Fall sorgte für viel Aufmerksamkeit und öffentliche Empörung über die tödlichen Arbeitsbedingungen an den Werkbänken der globalen Textilindustrie. Das deutsche Unternehmen KiK, das in der Fabrik produzieren ließ, sah sich gezwungen über Entschädigungen zu verhandeln.
Zwei Jahre lang versuchten die Hinterbliebenen und Verletzten angemessene Entschädigungszahlungen von KiK zu erhalten. Die Verhandlungen verliefen zäh, doch schienen zwischenzeitlich erreichte Absprachen zunächst vielversprechend: Die Entschädigungen sollten nach Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berechnet werden und eine Einmalzahlung von KiK an die Betroffenen deren Lebensunterhalt sichern, bis der langwierige Prozess abgeschlossen wäre.
Doch dann vermied das Unternehmen jede Aussage, mit welchem Anteil es sich an der zu bestimmenden Summe konkret beteiligen würde. Die Familien sollten sich also auf einen unsicheren Prozess einlassen, ohne zu wissen, wer denn schlussendlich – eigentlich: ob überhaupt jemand – die Entschädigung zahlen werde. Die Sorge war berechtigt, dass sich nach einem aufwändigen ILO-Prozess niemand fände, der tatsächlich zahlt. Denn KiK hätte keinerlei juristische Verpflichtung zur Entschädigung. Es handelte sich – und dies wiederholen die Anwälte des Unternehmens während der Gespräche immer wieder – um freiwillige Zahlungen. Den Hinterbliebenen wurde klar: Verpflichtende Zusagen werden sie nicht erhalten. Selbst wenn sie lange genug durchhalten, würden sie am Ende womöglich mit einer geringen Summe abgespeist. Ein Almosen.
Täter gerieren sich als Gönner
In dieser Logik werden Opfer zu Bittstellern und verantwortliche Unternehmen zu Gönnern, die freiwillig genau so viel geben, wie sie für richtig halten. Diese Logik gilt es zu brechen. Die Hinterbliebenen und Verletzten sowie die Organisationen an ihrer Seite finden sich in einem ungleichen Spiel wieder. Die Unternehmen können die materielle Not der Familien nutzen und kaufen sich schlussendlich auch von moralischen Verpflichtungen frei. Dabei sind sie es, die an den menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen verdienen und diese aufrechterhalten. Sie tragen die Verantwortung. Deshalb – und wegen der zu befürchtenden Unverbindlichkeit – haben die Betroffenen entschieden, gegen den deutschen Textildiscounter zu klagen – vor einem deutschen Gericht.
Auf der Versammlung in Karatschi zeigt sich: Aus den durch das Feuer und den Verlust ihrer Angehörigen zusammengeworfenen Familien ist eine selbstbewusste Gruppe geworden. Muhammad Jabbir, Vorsitzender der Opfervereinigung, erklärt: „Gemeinsam können wir besser für unsere Rechte kämpfen und unsere Forderungen hoffentlich durchsetzen. Wir protestieren gemeinsam und wir demonstrieren gemeinsam.“ Auch daher war es einfach, sich auf vier potenzielle Klägerinnen und Kläger zu einigen: Niemand streitet für sich alleine, allen geht es um mehr als um die eigene Familie oder den eigenen Verlust.
Klage in Deutschland
Die vier Kläger stehen stellvertretend für alle Hinterbliebenen und Verletzten. Mit der Unterstützung durch die medico-Partner der National Trade Unions Federation NTUF und Anwältinnen und Anwälten vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) wurde die Klage Anfang März 2015 in Dortmund eingereicht. Saeeda Khatoon, die ihren Sohn in den Flammen verlor, bringt auf den Punkt, was sie und alle Kläger antreibt: „Ich möchte, dass keine Familie mehr solch einen Verlust durchstehen muss.“ Und sie formuliert ganz klar: „Ich möchte sichergehen, dass das deutsche Unternehmen zur Verantwortung gezogen wird. Es sollte in Zukunft Regelungen für die Haftung von Unternehmen geben. So eine Katastrophe darf es nie wieder geben.“
Bisher jedoch hat sich in Pakistans Textilindustrie nichts verändert. Die Katastrophe kann sich täglich wiederholen. Und es wird deutlich: Ohne Druck und rechtlich bindende Verpflichtungen wird sich auch nichts ändern. Ein Grund mehr für die Klage. medico-Partner Nasir Mansoor von der NTUF zieht eine ernüchternde Bilanz: „Es gibt keine verbesserten Arbeitsbedingungen, keine neue Gesetzgebung.“ Und mit Hinblick auf Gerichtsverfahren in Pakistan fügt er hinzu: „Es gibt noch immer keine Verurteilungen. Die Besitzer der Fabrik wurden anfangs festgenommen, sind aber mittlerweile auf Kaution freigekommen. Der Fall liegt beim Gericht.”
In Pakistan, das wissen die Familien, ist der Kampf vor Gericht langwierig und das Ergebnis unsicher. Auch der Ausgang der jetzt angestrengten Klage in Deutschland ungewiss. Einen solchen Fall gab es in Deutschland noch nicht. Der Prozess kann sich mehrere Jahre hinziehen. All dies besprechen die Hinterbliebenen, niemand aber lässt sich von den Unwägbarkeiten abschrecken. Denn eines steht fest: Sie fordern Gerechtigkeit und der Fall wird Konsequenzen haben. Laut Medien-berichten bereitet KiK sich bereits auf Kommendes vor. Eine große und teure PR-Agentur soll das Image der Firma aufbessern und ihr während des Prozesses zur Seite stehen. Der Opferverband und die Klägerinnen und Kläger werden auch deshalb einen langen Atem brauchen. Und unsere Solidarität.
Den Preis der Textilproduktion für den westlichen Markt bezahlen viele Arbeiterinnen und Arbeiter in Südasien mit ihrer Gesundheit und sogar mit ihrem Leben. Das wird nicht zuletzt an den 260 Toten und 32 Verletzten der Brandkatastrophe bei Ali Enterprises im September 2012 in Karatschi (Pakistan) klar. An den Folgen leiden die Überlebenden und Hinterbliebenen bis heute.
Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und medico international haben die Betroffenen mehrfach in Pakistan getroffen und bei der Vorbereitung einer Klage gegen den deutschen Textildiscounter KiK – Hauptkunde der Fabrik – in Deutschland unterstützt. Dabei entstand auch ein Film, in dem Überlebende und Hinterbliebene berichten, wie sie den Brand erlebten und wie die Katastrophe ihr Leben veränderte.
Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 1/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt bestellen!