Den Preis der Textilproduktion für den westlichen Markt bezahlen viele Arbeiterinnen und Arbeiter in Südasien mit ihrer Gesundheit und sogar mit ihrem Leben. Im September 2012 starben 260 Menschen in Karatschi (Pakistan) beim Brand einer Textil-Fabrik. An den Folgen leiden die Überlebenden und Hinterbliebenen bis heute. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und medico international haben die Betroffenen bei der Vorbereitung einer Klage gegen den deutschen Textildiscounter KiK – Hauptkunde der Fabrik – in Deutschland unterstützt. Dabei entstand auch ein Film, in dem Überlebende und Hinterbliebene berichten, wie sie den Brand erlebten und wie die Katastrophe ihr Leben veränderte.
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Der Raum ist voll. Über 150 Familien versammeln sich Anfang Februar in einem Konferenzsaal in Karatschi. Sie sind organisiert in der Baldia Factory Fire Affectees Association, der Selbstorganisation der Hinterbliebenen und Überlebenden des Feuers in der Textilfabrik von Ali Enterprises. In der Fabrik brach 2012 ein Feuer aus und 260 Arbeiterinnen und Arbeiter verbrannten. Der Fall sorgte für viel Aufmerksamkeit und öffentliche Empörung über die tödlichen Arbeitsbedingungen in der Werkbänken der globalen Textilindustrie. Das deutsche Unternehmen KiK, das in der Fabrik produzieren ließ, sah sich gezwungen über Entschädigungen zu verhandeln.
Ergebnislose Verhandlungen mit KiK
Zwei Jahre lang versuchten die Hinterbliebenen und Verletzten angemessene Entschädigungszahlungen von KiK zu erhalten. Die Verhandlungen verliefen zäh, doch die Verhandlungspartner trafen vielversprechende Absprachen: Die Entschädigungen sollten nach Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berechnet werden und eine Einmalzahlung von KiK an die Betroffenen sollte den Lebensunterhalt sichern, bis der Prozess abgeschlossen sei. Doch das Unternehmen wollte keine Zusage darüber geben, mit welchem Anteil es sich an der in diesem langwierigen Prozess errechneten Summe beteiligen werde. Die Familien sollten sich also auf einen langen Berechnungsprozess einlassen, ohne zu wissen, wer denn schlussendlich – und ob überhaupt jemand – die Entschädigung zahlt.
Die Sorge war berechtig, dass sich nach einem aufwändigen ILO-Prozess niemand findet, der tatsächlich zahlt. Denn KiK hat keinerlei juristische Verpflichtung zur Entschädigung. Es handelt sich – und dies wiederholen die Anwälte des Unternehmens während der Gespräche immer wieder – um freiwillige Zahlungen. Den Hinterbliebenen wurde klar: Verpflichtende Zusagen werden sie nicht erhalten. Selbst wenn sie lange genug durchhalten, würden sie am Ende womöglich mit einer geringen Summe abgespeist. Ein Almosen.
Eine Präzedenzklage
In dieser Logik werden die Opfer zu Bittstellern und die verantwortlichen Unternehmen zu Gönnern, die freiwillig genau so viel geben, wie sie für richtig halten. Die Hinterbliebenen und Verletzten sowie die Organisationen an ihrer Seite finden sich in einem ungleichen Spiel wieder. Die Unternehmen können die materielle Not der Familien nutzen und kaufen sich schlussendlich auch von moralischen Verpflichtungen frei. Dabei sind sie es, die an den menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen verdienen und diese aufrechterhalten. Sie tragen die Verantwortung. Doch diese Logik durchbrechen die Familien jetzt. Nachdem die Verhandlungen an ein Ende gekommen sind, haben sie sich entschieden, gegen den deutschen Textildiscounter zu klagen – vor einem deutschen Gericht.
Auf der Versammlung in Karatschi zeigt sich: Aus den durch das Feuer und den Verlust ihrer Angehörigen zusammengeworfenen Familien ist eine selbstbewusste Gruppe geworden. Muhammad Jabbir, Vorsitzender der Opfervereinigung, erklärt: „Gemeinsam können wir besser für unsere Rechte kämpfen und unsere Forderungen hoffentlich durchsetzen. Wir protestieren gemeinsam und wir demonstrieren gemeinsam.“ Auch daher war es einfach, sich auf vier potenzielle Klägerinnen und Kläger zu einigen: Niemand streitet für sich alleine, allen geht es um mehr als um die eigene Familie oder den eigenen Verlust.
Die vier Kläger stehen stellvertretend für alle Hinterbliebenen und Verletzten. Mit der Unterstützung durch die medico-Partner der National Trade Unions Federation NTUF und Anwältinnen und Anwälten vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) wurde die Klage Anfang März in Dortmund eingereicht. Saeeda Khatoon, die ihren Sohn in den Flammen verlor, bringt auf dem Treffen auf den Punkt, was sie und alle Kläger antreibt: „Ich möchte, dass keine Familie mehr solch einen Verlust durchstehen muss.“ Und sie formuliert ganz klar: „Ich möchte sichergehen, dass das deutsche Unternehmen zur Verantwortung gezogen wird. Es sollte in Zukunft Regelungen für die Haftung von Unternehmen geben. So eine Katastrophe darf es nie wieder geben.“
In Pakistan hat sich noch nichts geändert
Bisher jedoch hat sich in Pakistans Textilindustrie nichts verändert. Die Katastrophe kann sich täglich wiederholen. Und es wird deutlich: Ohne Druck und rechtlich bindende Verpflichtungen wird sich auch nichts ändern. Ein Grund mehr für die Klage. medico-Partner Nasir Mansoor von der NTUF zieht eine ernüchternde Bilanz: „Es gibt keine verbesserten Arbeitsbedingungen, keine neue Gesetzgebung.“ Und mit Hinblick auf Gerichtsverfahren in Pakistan fügt er hinzu: „Es gibt noch immer keine Verurteilungen. Die Besitzer der Fabrik wurden anfangs festgenommen, sind aber mittlerweile auf Kaution freigekommen. Der Fall liegt beim Gericht.” In Pakistan, das wissen die Familien, ist der Kampf vor Gericht langwierig und das Ergebnis unsicher.
Auch der Ausgang der jetzt angestrengten Klage in Deutschland ungewiss. Einen solchen Fall gab es in Deutschland noch nicht. Der Prozess kann sich mehrere Jahre hinziehen. All dies besprechen die Hinterbliebenen, niemand aber lässt sich von den Unwägbarkeiten abschrecken. Denn eines steht fest: Sie fordern Gerechtigkeit und der Fall wird Konsequenzen haben. Laut Medienberichten bereitet KiK sich bereits auf Kommendes vor. Eine große und teure PR-Agentur soll das Firmenimage aufbessern und ihr während des Prozesses zur Seite stehen. Der Opferverband und die Klägerinnen und Kläger werden auch deshalb einen langen Atem brauchen. Und unsere Solidarität.