Über alle Grenzen

Syrien ist überall

24.09.2015   Lesezeit: 8 min

Die große Flucht der SyrerInnen nach Europa ist auch ein Kampf um ihre Rechte im eigenen Land. Syrien hat sich globalisiert.

Von Martin Glasenapp

Haben wir alle etwas übersehen? Die zahlreichen Fotos und Filme der vorwiegend syrischen Flüchtlinge am Bahnhof Keleti kamen einem so bekannt vor. Wie sie dort zusammenstanden, in Gruppen sprachen, wie sie begannen Pappschilder zu beschriften, wie Kinder Zeichnungen in die Kameras hielten, ihre Gesichter schminkten, um ihre Forderungen der Welt zu zeigen. Wie sie ihre Demonstrationen durchführten, einer auf der Schulter des anderen, das Megaphon in der Hand, das rhythmische Klatschen im Takt, wie sie Arm in Arm eine rhythmische Welle machen, wie sie ihre Fahne, in diesem Fall die europäische, tragen. All diese Zeichen in Budapest und auf dem Marsch der Syrer nach Wien haben wir zu Beginn des syrischen Aufstands in Damaskus, in Daraa, in Homs oder auch in den kurdischen Regionen Syriens bereits sehen können.

Es war das Jahr 2011, als der arabische Frühling auch in Syrien begann. Die Revolution war noch nicht in einen Bürgerkrieg eskaliert, nichts schien entschieden und alles versprach besser werden zu können. Fast überall im Land kam es zu Versammlungen der Freude, des Aufbegehrens und der Leidenschaft, um die bleierne Last einer scheinbar immerwährenden Herrschaft des Assad-Regimes abzuschütteln. Es wurde geschrieben, publiziert, gedichtet und gesungen. Der syrische Bürgerjournalismus entstand. Der öffentliche Raum, den zuvor alle gemieden hatten, wurde auf einmal politisch. Es waren unerhörte Momente einer pluralen Demokratie, einer Würde aller und des Freiheitswillens einer ganzen Gesellschaft.

„Wir sind ein, ein Syrien“ waren die Rufe: die Einheit aller, die Einheit des Landes und der Gesellschaft gegen die Propaganda der religiösen Trennung und Hetze, mit der das Regime die Proteste spalten und vernichten wollte. Auf einmal entstand in Syrien etwas, was vorher nie ins öffentliche Leben getreten war: Die Armen in den Vorstädten erhoben sich, die Moscheen wurden zu Treffpunkten des Protestes, es entstanden Nachbarschaftsinitiativen, Komitees zum Schutze der Deserteure. Den von der Polizei Verhafteten wurde geholfen. Man fand sich nicht mehr ab mit der düsteren Vorsehung, dass nichts möglich ist und alle nur in den Verließen der Macht enden. Der Bann war gebrochen.

Gesellschaft der Verjagten

Dann aber begann die Militarisierung. Der Kleinkrieg in den Vierteln, ein Regime, das keine Gnade kannte und einen Gegner in Form von Milizen fand, die sich ihrerseits zur Gnadenlosigkeit gezwungen glaubten. Der Widerstand radikalisierte sich, religiöse Kämpfer strömten ins Land, das Regime setzte Chemiewaffen gegen die Bevölkerung ein, Hunderte erstickten bei diesen Gasangriffen, Hungerblockaden wurden verhängt, z.B. im palästinensischen Viertel Jarmouk , tödliche Fassbomben, mit Sprengstoff und Metallschrott gefüllte Container, wurden von Hubschraubern über oppositionellen Wohnvierteln abgeworfen. Dazu der Ausfall der Elektrizität, der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung, des Bildungssystems, der Stillstand des öffentlichen Lebens. Die syrische Revolution wurde ausgeblutet, zerrieben in den täglichen Opferzahlen und Schreckensmeldungen. Eine Gesellschaft, die den Untertanengeist abschütteln wollte, die ihre eigene Bürgerschaft erfand, versank in einer humanitären Katastrophe und wurde zu einer Gesellschaft der Verjagten.

Auch deshalb hatten wir alle bereits fast vergessen, wie alles begann. Aber die Bilder und Zeichen aus Budapest beweisen: Die Erfahrungen des demokratischen Aufstands sind immer noch da, und ihre Artikulation und Möglichkeit, die in Syrien keine Chance mehr hatte, wird jetzt von den Abertausenden mitgebracht, die keine Möglichkeit mehr sehen außer der Flucht nach Europa. Die syrische Flucht exportiert die Zeichen ihrer großen Erhebung: Freiheit und Würde – und auch ihre Fertigkeiten. Etwa wenn im von Flüchtlingen überfüllten Untergeschoss des Bahnhofs Keleti syrische Ärzte aus dem Nichts eine kleine Notfallklinik einrichteten, so wie sie es bereits in den Bombenkellern von Damaskus oder Aleppo getan hatten. Oder wenn sich die Syrer an der serbisch-ungarischen Grenze, in Budapest auf dem Marsch nach Wien oder auf dem Weg nach Skandinavien zusammenschließen, gemeinsam handeln und in diesen Momenten wieder ihren demokratischen Aufbruch verteidigen. Sie fordern ihre Rechte, wie sie es zuvor in Syrien getan haben.

Das aber ist nur die eine Seite. Wenn wir es wirklich verstehen wollen, wenn die Freundlichkeit ihrer momentanen Begrüßung im Land überdauern soll, dann müssen wir im gleichen Atemzug anerkennen, dass die Syrerinnen und Syrer und mit ihnen auch die Flüchtlinge aus dem Irak auch das Scheitern einer westlichen Nahostpolitik mit nach Europa bringen. Sie bringen die Frage ihrer Zukunft mit zu uns und wie sie es tun, kann es keine Lösung ohne Anerkennung ihrer Freiheitsrechte auch in Syrien oder auch dem Irak geben. Sie sagen uns, dass es nicht ausreicht, wie die Welt versucht, die syrische Katastrophe zu verwalten.

Jetzt sind 13 Millionen Syrer innerhalb und außerhalb des Landes auf der Flucht. Jahrelang hat die syrische Bevölkerung um Hilfe gebeten, sie forderte, dass das Sterben beendet und ein tatsächlicher politischer Wechsel möglich wird. Aber der Bürgerkrieg im Land, der auch ein Krieg vieler anderer auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung ist – von der Türkei über den Iran bis zu den Golfstaaten, Russland und letztlich auch den USA – wurde höchstens eingehegt und stillgestellt in dem täglichen Sterben. Sogar die dringende und ständig unterfinanzierte humanitäre Hilfe alimentierte diesen Zustand in gewisser Weise, weil sie aus dem richtigen Gebot des Beistands in der Not zugleich die lokalen Herrschaften der einzelnen Warlords im kriegszerklüfteten Syrien stabilisiert, die alle Interesse an dem Verbleib der Menschen haben, sei es als finanzielle Ressource oder mögliche Wehrpflichtige.

Ziel bleibt ein anderes Syrien

Die Welt handelte, als könnte es ewig so weitergehen. Aber für die Menschen ging es nicht mehr. Syrien war eine Todesziffer geworden. Kaum einer von jenen, die jetzt in Ungarn, Österreich oder Deutschland sind, oder die sich auf den Weg gemacht haben, wollte sein Land verlassen. Nicht das Glücksversprechen Europa war es, sondern das nicht mehr auszuhaltende Leben zu Hause oder in einem der unzähligen Flüchtlingslager ließ sie aufbrechen. Allein im August kamen rund 1.300 Menschen in Syrien ums Leben, davon über 300 Kinder. Um die Städte Aleppo und Idlib wurden im vergangenen halben Jahr 1,5 Millionen Syrer zu Flüchtlingen. Geschätzte 600.000 Menschen sind von der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten weitgehend abgeschnitten. Das Welternährungsprogramm der UN musste aus Geldmangel die Hilfe für syrische Flüchtlinge in den Anrainerstaaten kürzen.

Im April wurden noch 2,1 Millionen Flüchtlinge versorgt, heute sind es nur noch 1,4 Millionen. Unter diesen Bedingungen wird selbst ein nacktes Ausharren immer unmöglicher. Auch das ist ein Grund, warum sich jetzt ganze Familien auf den Weg machen. In Budapest waren Syrer aus fast allen Landesteilen. Aus Aleppo und Idlib im Norden, aus Raqqa, der IS-Hochburg, aus Deir ez-Zor am Euphrat, aus den kurdischen Gebieten, selbst aus Damaskus. Viele von ihnen gehören der Mittelklasse an, haben eine Ausbildung, zumeist ein englischsprechendes Familienmitglied. Und sie hatten noch die finanziellen Ressourcen, die gefährliche Flucht über das Mittelmeer und die Balkanstaaten zu bezahlen. Hört man ihnen zu, so sagen sie, dass sie keinesfalls ihren syrischen Traum aufgegeben haben, aber Syrien erst nach dem Ende des Krieges wieder eine Zukunft haben kann.

Aber nicht das Ende, sondern der Anfang einer erneuten Militarisierung ist absehbar. Es gibt Hinweise für eine verstärkte russische Truppenpräsenz im Land und das Assad-Regime hat sich mehr oder weniger auf seine Kerngebiete um Damaskus, Aleppo und die syrische Küste zurückgezogen. Aus dem palästinensischen Viertel Jarmouk in Damaskus berichtet der medico-Partner Jafra, dass eine erneute Hungersnot droht, weil Rebellenmilizen eine wichtige Verbindungsstraße unterbrochen haben. In Erbin, einer Stadt im Süden von Damaskus, kann ein Schulprojekt aufgrund starker Kämpfe derzeit nicht fortgesetzt werden.

In der Türkei steht die kurdische Demokratiebewegung kurz vor dem Verbot, es kommt zu täglichen Gefechten, die in Momenten fast an syrische Verhältnisse zu Beginn des Bürgerkriegs erinnern, etwa wenn in der Region Cizre Krankenwagen so lange vom Militär auf der Straße angehalten werden, bis die Verletzten verblutet sind. All das und die türkischen Pläne einer syrischen Sicherheitszone haben auch unmittelbare Auswirkungen auf die kurdischen Gebiete in Syrien. In Kobane verübte der „Islamische Staat“ im Juni ein Massaker, dem 240 Menschen zum Opfer fielen. Seitdem liegt die Angst vor einem weiteren Anschlag wie eine Glocke über der Stadt und lässt selbst von dort, wohin pro Woche noch immer 2.000 Menschen zurückkehren, die Menschen fliehen. Auch deshalb arbeitet die lokale Verwaltung mit großer Eile am Wiederaufbau. Damit wenigstens hier ein Bleiben und eine erste Zukunft möglich wird.

Durch die große Flucht hat sich Syrien globalisiert, es ist jetzt gewissermaßen überall. Damit die Syrer wieder zurückgehen können, was sehr viele wollen, braucht es mehr als das Ende der Kämpfe im Land. Es braucht eine realistische Perspektive, die in Aussicht stellt, was im Jahr 2011 begann und was wir in diesen Tagen in ihren Märschen der Hoffnung auf den Autobahnen wiedersahen: Dass das Recht auf Rechte in Syrien möglich ist. Erst dann wird die große Rückkehr beginnen.

medico leistet in Syrien weiter Überlebenshilfe. Nahrungsmittel im oppositionellen Damaskus, die freie Schule in Erbin, das Krankenhaus in der kurdischen Symbolstadt Kobane, und jetzt auch eine Blutbank im südlichen Daraa, wo der syrische Aufstand begann. Mehr denn je braucht es Beistand für all jene, die in Syrien weiter dafür einstehen, dass ein besseres Leben möglich wird.

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Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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