Von Tejan Lamboi
Die Abschiebung des 32-jährigen Ismail Sankoh von England nach Sierra Leone verlief alles andere als reibungslos. Im Sommer 2015 brachte ihn eine Maschine nach Freetown. Dort angekommen, konnte er aber die Behörden davon überzeugen, dass seine Abschiebepapiere ungültig sind. So kam es, dass er nach England „rückrückgeführt“ wurde. Vier Monate vergingen, bis er wieder in eine Chartermaschine gezwungen wurde und erneut in Sierra Leone landete. Am Flughafen wehrte er sich nach Kräften. „Ich schrie und tobte, so dass Polizisten und Soldaten herbeigerufen wurden. Aber sie verstanden auch, warum ich mich so wehrte. Zumindest ließen sie mich gehen”, erzählt er. Er war frei, aber auch am Ende. Wohin sollte er gehen und was sollte er tun? „Ich war total verwirrt, in mich gekehrt und traumatisiert.“ Doch dann bekam er unerwarteten Besuch. Mitglieder der Selbsthilfeorganisation Network of Ex-Asylum Seekers (NEAS) suchten ihn auf. „Sie boten mir an, zu ihnen ins Büro zu kommen. Sie sprachen auch mit meiner Familie und erklärten ihnen, wie dringend ich ihre Unterstützung brauchte.” Nach vielen vergeblichen Anläufen traute sich Ismail Sankoh schließlich, die Einladung anzunehmen – und vieles veränderte sich. „Mich mit Menschen auszutauschen, die dasselbe erlebt haben, war heilsam.“ Er fand Trost – und er beschloss, etwas zu unternehmen. Heute ist er selbst Mitglied von NEAS.
Sieben Jahre ist es her, dass Menschen, deren Versuche in Europa ein besseres Leben zu finden, brutal zerschellt sind, NEAS gegründet haben. „Wir sind illegalisiert und kriminalisiert worden. Wir wurden mit Gewalt abgeschoben – einige kamen in Handschellen, andere schwer misshandelt hier an“, erklärt Mac Adams Karama stellvertretend für alle anderen. „Hier in Sierra Leone haben wir uns zusammengeschlossen, um mit dieser schwierigen Situation umzugehen.“ Sie haben sich gegenseitig zugehört und geholfen, die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Hierzu zählte auch Zurückweisung, die viele in ihren Familien und Freundeskreisen anfangs erlebt haben. Noch heute ist es ein zentraler Teil der Arbeit, vor Ort darüber aufzuklären, dass man nicht deshalb abgeschoben wird, weil man in Europa etwas verbrochen hat. Nach und nach hat NEAS Tabus gebrochen und die Stille um die Abschiebungen erfolgreich gestört. So haben die Aktivisten die Verstrickung der eigenen Behörden aufgezeigt. Und dank ihrer Informationen aus erster Hand haben sie schwere Menschenrechtsverstöße in den Abschiebegefängnissen und Chartermaschinen öffentlich gemacht.
Emotionale Rückkehr
Sechs Jahre nach der Gründung von NEAS kehren die Mitglieder wieder an jenen Ort zurück, an dem sie selbst schwere Stunden erlebt haben. Seither fahren sie regelmäßig von der Hauptstadt aus zu der nahen Küstenstadt Lungi an den Freetown International Airport. Hier suchen sie das Gespräch mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Migrationsbehörden und der Sicherheitsdienste. Und sie gehen auf neu angekommene Abgeschobene zu. Diese Besuche am Flughafen rufen bei allen schmerzliche Erinnerungen an die eigene Geschichte wach. Vor allem die erste Rückkehr war für niemanden leicht. Aber es ist auch eine Möglichkeit. So erzählt Isamil Sankoh: „Damals war ich ein Opfer. Heute fahre ich als Aktivist gegen Abschiebungen dorthin. Ich will hier meinen Teil dazu beitragen, dass andere nicht dasselbe erleben müssen.“ Es gibt auch ermächtigende Momente: „Bei meiner ersten Rückkehr erkannten mich einige Flughafenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Sie erinnerten sich daran, wie ich mich zur Wehr gesetzt hatte. Wir machten zusammen Witze darüber. Einer sagte mir, dass er wüsste, dass ich kein gewalttätiger Mensch bin.“ Auch Adbulai Daramy, einer der Gründer von NEAS, der 2009 nach fast zehn Jahren in Hamburg abgeschoben worden war, räumt ein, dass die Aufenthalte am Flughafen ihn emotional fordern. Doch sie haben einiges verändert. „Als ich vor sieben Jahren hier ankam, dachte ich, dass alle Mitarbeitenden des Flughafens meine Abschiebung unterstützt haben. Im Laufe der Zeit habe ich ihnen erzählt, was mir widerfahren ist. Inzwischen ist so viel Vertrauen aufgebaut, dass wir mit den Zuständigen besprechen können, wie sich dieses und jenes verändern lässt. Das macht mich fast ein bisschen stolz.”
Tatsächlich hat die hartnäckige Arbeit von NEAS einiges bewegt. Kürzlich wurde der Gruppe vom Bezirksvorsteher Habib Kamara eine Fläche in der Nähe des Flughafeneingangs zur Verfügung gestellt. Hier haben sie ein großes Schild angebracht, auf dem sie ihren Widerstand gegen Abschiebungen kundtun und den ankommenden Deportierten ihre Unterstützung anbieten. Eine Ausnahme ist das nicht, die Arbeit von NEAS stößt vielerorts auf Verständnis und Sympathie, sei es beim örtlichen Jugendverband oder beim Flughafenpersonal, sei es bei eben jenem Habib Kamara. Dieser sagt: „Wir sehen das Leid der Deportierten und wir fühlen mit ihnen. Manche treffe ich später in unserem Viertel wieder; Fast alle sind traumatisiert, manche verrückt geworden. Es stranden auch viele Nigerianer, die hier niemanden kennen und nicht wissen, wohin sie sich wenden können.”
Umso wichtiger ist es, dass es NEAS nach langen Verhandlungen mit den Behörden gelungen ist, einen zentralen Kontaktmann am Flughafen zu schaffen. Neben seiner Arbeit als Spediteur koordiniert Mayu Kamara die Aktivitäten der Gruppe am Flughafen und stellt ihr auch sein Büro zur Verfügung. Vor allem aber wird er informiert, wenn Abgeschobene ankommen. „Ich stelle dann den Kontakt zur Gruppe in Freetown her und kann auch ihre Freilassung unterschreiben. Das ist ein großer Fortschritt. Macht das niemand, kann es passieren, dass Abgeschobene mehrere Tage lang am Flughafen eingesperrt bleiben.“
Erfolge und Ambivalenzen
Solche Erfolge werden von NEAS kritisch reflektiert. So gibt es Bedenken, ob die eigene Arbeit zu einem reibungsloseren Ablauf der Abschiebemaschinerie beiträgt. Dieser Widerspruch lasse sich aber nicht auflösen. Abdulai Daramy sagt es so: „Ohne uns würde es keine Abschiebung weniger geben. Wir sehen es als unsere Verantwortung an, uns um unsere Brüder und Schwestern zu kümmern. Tun wir es nicht, würden einige von ihnen vor die Hunde gehen. Wir können ihnen helfen – und gemeinsam werden wir stärker. Am Ende des Tages können wir so das ganze System der Abschiebungen besser bekämpfen.”
Gleichzeitig wissen sie, dass ihre Ressourcen begrenzt sind – vor allem dabei, Neuangekommenen auf Dauer beizustehen. Das zeigt das Beispiel von Philip Conteh. Der 60-jährige ehemalige Soldat hat Sierra Leone bereits 1984 verlassen und nach einer langen Odyssee zuletzt viele Jahre ohne Aufenthaltserlaubnis in den USA gelebt. Am 30. Juni 2016 wurde er von dort abgeschoben – nach 32 Jahren war er wieder zurück in Sierra Leone. Dank der Vermittlung des Kontaktmanns am Flughafen fand er den Weg ins Büro von NEAS. Während er seine Leidensgeschichte erzählte, strömten dem gestandenen Mann die Tränen über das Gesicht. Er fand Verständnis und Trost. Die Schwierigkeit besteht aber darin, dass NEAS ihm kaum bei der Bewältigung des Alltags helfen kann. Wie die meisten anderen Deportierten steht er vor zahlreichen Problemen: Wo kann er unterkommen? Wovon soll er leben? Hinzu kommen gesundheitliche Probleme. Er ist Diabetiker, hat aber kein Geld, um das dringend nötige Insulin zu besorgen.
Trotz oder gerade wegen solcher Härten werden die Aktivistinnen und Aktivisten von NEAS weitermachen und ihre Stimmen so lange gegen die Ungerechtigkeiten erheben, bis sie gehört werden. Um das zu erreichen, suchen sie immer weiter Gespräche, sei es am Flughafen, mit Regierungsstellen oder der nationalen Menschenrechtskommission. So machen sie zwar kleine, aber beständige Schritte in ihrem Kampf gegen ein unmenschliches System, dessen Opfer sie selbst einst gewesen sind.
Tejan Lamboi hat NEAS mitgegründet und lebt in Berlin.
Spendenstichwort: Sierra Leone
medico unterstützt seit vielen Jahren die Arbeit von NEAS in Sierra Leone. Diese Zusammenarbeit ermöglicht auch Einblicke in das Schicksal der Opfer jener Politik, die hierzulande sinkende Flüchtlings- und steigende „Rückführungszahlen” feiert.