Der aktuelle Ebola-Ausbruch in Westafrika ist die größte Epidemie seit der Entdeckung des Virus im Jahr 1976. ak - analyse & kritik | Zeitung für linke Debatte und Praxis sprach mit Anne Jung und Andreas Wulf von medico international über die strukturellen Ursachen der Epidemie, Perspektiven der akuten Nothilfe und die Chancen im Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten wie Ebola.
Krankheiten sind nicht einfach »Naturgewalten«, die über die Menschen hereinbrechen: Das Ausmaß, in dem Gesellschaften davon betroffen sind, hängt stark von strukturellen Gegebenheiten wie der Position eines Landes in der Weltwirtschaftsordnung ab. Insofern ist es kein Zufall, dass die Ebola-Epidemie mit Liberia, Guinea und Sierra Leone drei Länder getroffen hat, die auf dem UN-Index für menschliche Entwicklung (HDI) auf den letzten Plätzen stehen. Trotzdem: Warum konnten vorhergehende Epidemien in ebenfalls benachteiligten Ländern wie Uganda oder Kongo eingedämmt werden, dieses Mal aber offensichtlich nicht?
Anne Jung: Es gibt eine Reihe von Faktoren, die hier zusammengewirkt haben: Die westafrikanischen Länder zeichnen sich durch eine hohe ökonomische Mobilität der Bevölkerung aus, die es in diesem Maß in Uganda oder dem Kongo möglicherweise nicht gegeben hat. Damit war die Eindämmung in einem kleinen Ausbruchsgebiet einfacher möglich. Ein zweiter Faktor liegt in der unterschiedlichen Gefährlichkeit der verschiedenen Virusstämme der Ausbrüche. Tötet das Virus seinen Wirt besonders schnell, sind die Ansteckungsmöglichkeiten auf andere Menschen geringer und die Epidemie begrenzt sich selbst. In den westafrikanischen Ländern liegt die Sterblichkeitsrate bei 30 bis 60 Prozent, so dass sich mehr Angehörige und Gesundheitspersonal infizieren können. Schließlich gibt es Berichte, dass die lokalen Behörden die ersten Verdachtsfälle nicht ernst genug genommen haben. Ein weiterer Verzögerungseffekt trat dann auch noch einmal auf der internationalen Ebene ein - die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihre Katastrophenabteilung aufgrund mangelnder Ressourcen in den letzten Jahren massiv abgebaut, was die Reaktionsfähigkeit eingeschränkt hat.
Das Ebolavirus ist aufgrund spezifischer Besonderheiten - zum Beispiel keine Ansteckungsfähigkeit vor Ausbruch der Krankheit, relativ große Empfindlichkeit gegenüber Desinfektionsmitteln - eigentlich kein klassischer Kandidat für eine Epidemie. Dass es nun dennoch eine solche ausgelöst hat, erklärtdas internationale Gesundheitsnetzwerk People's Health Movement mit globalen politischen und ökonomischen Faktoren wie Neokolonialismus, Armut und Ungleichheit. (1) Lässt sich das im Hinblick auf den Seuchenverlauf konkretisieren?
Andreas Wulf: In der sozialen Medizin gibt es eine lange Tradition, unter die Oberfläche der unmittelbar eine solche Epidemie auslösenden Ursachen auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen zu blicken - das bewahrt davor, nur immer reaktiv auf die nächste Katastrophe zu warten. So leben viele Menschen in den betroffenen Gebieten von kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Deren Lebensgrundlagen wurden durch aktuelle Entwicklungen wie Landgrabbing und Ressourcenausbeutung massiv eingeschränkt. Auch wenn sich der Zusammenhang zwischen dem Landraub und dem Ausbruch von Ebola gerade in diesen Regionen nicht lupenrein nachweisen lässt, wissen wir, dass die Menschen aufgrund dieses Verdrängungsprozesses zunehmend in zuvor unbesiedelte Waldgebiete ausweichen mussten. Dort kamen sie stärker mit den potenziellen Überträgern des Virus wie Affen und Fledermäusen in Kontakt, was den Übergang des Virus vom Tier- auf den Menschenwirt beschleunigte.
A.J.:In Sierra Leone, wo medico seit vielen Jahren Partner unterstützt, wurden die vernachlässigten Gesundheitseinrichtungen zu Infektionszentren, da sie materiell nicht dazu in der Lage waren, auch nur die Standardregeln der hygienischen Krankenversorgung einzuhalten: Ein nicht geringer Teil der bislang Erkrankten und Verstorbenen sind Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeiter, die sich bei der Sorge um die Kranken infiziert haben. In Sierra Leone kommt auf 30.000 Patienten nur ein Arzt - das entspricht etwa einem Prozent der Ärztedichte in Deutschland. Die Ausmaße der Epidemie überfordern diese schwache Struktur. Die Regierung setzt leider seit Jahren auf kurzfristige Gewinne aus dem Rohstoffhandel und reinvestiert sie kaum in das Gesundheitssystem. Auch sind typischerweise Arme von Infektionskrankheiten deutlich mehr betroffen, weil sie enger zusammenleben, was eine Übertragung erleichtert. Die wohlhabende Mittel- und Oberschicht in den betroffenen Ländern hat zum Teil bereits das Land verlassen, um sich vor der Epidemie in Sicherheit zu bringen - eine Option, die den Armen natürlich nicht zur Verfügung steht.
Was bedeutet all das für die akute Nothilfe? Im Moment führt ja zunächst kein Weg daran vorbei, kurzfristig zu helfen, aber eigentlich müsste man viel grundsätzlicher vorgehen ...
A.W.: Es gilt wie so oft, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Die Verantwortung für die konkret Betroffenen erfordert natürlich ein möglichst rasches, umfangreiches Eingreifen, um die Kranken zu versorgen und die Übertragung der Viren zu vermeiden. Zentral ist außerdem, die Menschen aufzuklären und die Lebensgrundlage von Teilen der Bevölkerung zu sichern, die besonders unter Quarantänemaßnahmen leiden - etwa jene, deren wirtschaftliche Grundlage von Mobilität und täglichen Kleinsteinkommen abhängt. Wichtig ist dabei, die erfolgreichen Geschichten und vielen internationalen Hilfsleistungen zu würdigen, die sich nicht in US-Militärs und auch nicht in kubanischen Gesundheitsbrigaden erschöpfen, sondern besonders auch aus den afrikanischen Ländern mit eigenen Ebola-Erfahrungen kommen.
A.J.: In Sierra Leone gibt es aus gutem Grund kaum Vertrauen in die Regierung und deren Institutionen. Der Staat wird als Produzent von Unsicherheit und nicht als Akteur für die Menschen wahrgenommen. Paul Bangura, einer unserer Partner, berichtet, dass viele Menschen nicht einmal die Nahrungsmittel der Regierung annehmen, weil sie vermuten, dass damit was nicht stimmen könne. Gerade deshalb ist es so wichtig, lokale Partner zu unterstützen, die Vertrauen genießen und sich seit Jahrzehnten für die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums einsetzen. Gerade für die Präventionsarbeit ist dies das wichtigste soziale Kapital. Viele unserer Partner befürchten, dass ihre Kompetenz ignoriert wird und es kein partizipatives Vorgehen gibt.
Welche langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen dürfte die Ebola-Epidemie für die betroffenen Länder haben?
A.W.: Die Wirtschaftszahlen für alle drei hauptbetroffenen Länder sind bereits jetzt massiv eingebrochen. Durch Quarantänemaßnahmen sind die Landwirtschaft und der lokale Handel mit landwirtschaftlichen Produkten bereits massiv eingeschränkt, so dass möglicherweise sogar Hungersnöte drohen. Wie weit sich die Investoren längerfristig zurückziehen, ist noch schwer abzusehen. Sozial ist ebenfalls unklar, wie sich Gesellschaften, in der Menschen bisher physisch nah miteinander umgehen - bis hin zu den Beerdigungsritualen - dadurch verändern, dass dieser Körperkontakt jetzt potenziell hochgefährlich geworden ist. Auch in den europäischen Gesellschaften haben große Epidemien zu Veränderungen sozialer Umgangsweisen geführt - die Syphilisepidemien im 15./16. Jahrhundert etwa haben strengere Sexualmoralpraxen hervorgebracht. Etwas vergleichbares könnte in Westafrika vielleicht auch geschehen.
Ähnlich wie Malaria, Tuberkulose und Lepra gehört Ebola zu den sogenannten vernachlässigten Krankheiten, um die sich die Pharmaindustrie mangels zahlkräftiger Kundschaft kaum kümmert. Die Chancen für den Kampf gegen die »neglected diseases« werden schlecht bleiben, solange das Wirtschafts- und Gesundheitssystem kapitalistisch organisiert ist. Seht ihr dennoch sinnvolle Ansätze für grundlegende Veränderungen, etwa internationale Rahmenkonventionen über ein Recht auf Gesundheit?
A.J.: Die Forschungsfinanzierung durch Profitmargen der entwickelten Produkte, also das Patentsystem, ist in der Tat für die Armen faktisch tödlich. Darüber, wie dieses System durchbrochen werden könnte, wird bei der WHO und anderswo seit vielen Jahren gestritten. Echte Reformvorschläge werden bei der WHO von interessierter Seite ausgebremst - zum Beispiel der Versuch, ein Abkommen zu verabschieden, das die Staaten verpflichten würde, feste Beiträge zu einer öffentlichen Forschung bereitzustellen und damit gezielt die Entwicklung von Lösungen für die vernachlässigten Krankheiten anzugehen. Hier agieren viele »Erste-Welt«-Staaten skandalöserweise als fürsorgliche Beschützer »ihrer« privaten Pharmaunternehmen. Ein solcher Forschungsvertrag könnte ein erster Baustein für ein internationales Rahmenabkommen für das Recht auf Gesundheit sein, das dem abstrakten Recht konkrete Ressourcen an die Seite stellt, um die benötigten Infrastrukturen langfristig zu sichern, die für die Realisierung eines solchen Rechts notwendig sind.
medico fordert unter anderem die finanzielle und politische Stärkung der WHO. Wie gut stehen die Chancen hierfür? Und wie einflussreich sind hier Pharma- und Lobbyinteressen?
A.W.: Wie alle internationalen Organisationen ist auch die WHO nur so gut und so schlecht, wie die Mitgliedsländer sie werden lassen. Sie steht vor dem Dilemma, kaum mehr selbst über die Mittelverwendung entscheiden zu können, weil 70 bis 80 Prozent der Einnahmen zweckgebunden sind und sich deshalb die verschiedenen Abteilungen bei den »Geberländern« gegenseitig Konkurrenz machen. Leider haben scheinbar auch die aufstrebenden Globalisierungsgewinner - etwa die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) - wenig Bereitschaft, ihre oft verbalisierte Unterstützung für eine Stärkung dieser Organisation auch mit entsprechender zusätzlicher Finanzierung zu decken. Das könnte durchaus ein Weg sein, der starken Dominanz der etablierten OECD-Staaten etwas entgegenzusetzen. Auch die innere Verfasstheit der WHO hat ihre klaren Schwächen. Formal haben zwar alle Länder die gleichen Stimmanteile. Faktisch entstehen aber massive Ungleichgewichte in der Durchsetzungsfähigkeit von Positionen, da die wohlhabenden und großen Länder über mehr Kapazitäten verfügen, ihre Interessen auch finanziell abzusichern, sowie durch das Prinzip des konsensualen Entscheidens.
Interview: Sarah Lempp, Zuerst erschienen in ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 598 / 14.10.2014
Anmerkung:
1) »Ebola epidemic exposes the pathology of the global economic and political system«, www.phmovement.org