Vermintes Gelände

07.03.2007   Lesezeit: 14 min

Mit der NATO unterwegs in Afghanistan. Von Navid Kermani.

Der Besucher, der Ende 2006 in Afghanistan eintrifft, zieht am Flughafen Kabul eine militärische Schutzweste und einen Helm an. Britische Soldaten fahren ihn in einem Konvoi aus gepanzerten Landrovern in das Hauptquartier der ISAF, der internationalen Truppen, die den Wiederaufbau des Landes militärisch absichern sollen. Die Stadt sieht er nur durch einen Schlitz, kleiner als die Fenster der Burkas, die in Kabul nur noch wenige Frauen tragen. Am nächsten Tag, als ihn die Soldaten zu einem Ausbildungszentrum der afghanischen Armee bringen, kann er immerhin wie eine Wache aus dem Dach schauen. "Alamo" heisst das Lager aus Containern, Fertighäusern, Zelten, in dem die amerikanischen Ausbilder leben. Es geht beschaulich zu dort, bescheidener als im Hauptquartier der Vereinigten Staaten in Bagram, wo 3.000 Soldaten, 5.000 Zivilisten und 2.000 afghanische Tagelöhner wie in einer Kleinstadt leben, die auch im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten liegen könnte, aber genauso gut auf dem Balkan, in Afrika oder im Irak: eine Shopping Mall mit allen Segnungen des amerikanischen Marktes, Sportstudio, Post, Bank, Spa und Beauty Shop, Volkshochschulkurse, Friseure, ein kirgisisches "Yurta-Tent" als Verkaufsstelle für zentralasiatische Souvenirs, Teppichladen, Burger King, die Pizzeria Ciano, der Green Beans Coffee Shop, sogar Bushaltestellen. Im kleinen Camp "Alamo" dagegen ist nur die Küche "local", also amerikanisch.

Finden Sie es nicht schade, dass Sie überhaupt nichts von der Stadt sehen? fragt der Besucher den freundlichen Offizier, der ihn herumführt. Ach, das ist kein Problem, antwortet First Seargant Weber. Wenn ich mal raus will, frage ich drei Kollegen, und wir fahren zur ISAF oder nach Bagram zu unseren Jungs.

Es müssen drei Kollegen sein, weil die Truppen grundsätzlich nur in Konvois von mindestens zwei gepanzerten Wagen à zwei Soldaten durch die Stadt fahren dürfen. Manche Soldaten finden es selber merkwürdig, dass man dem Volk, dem man doch helfen will, nur mit Schutzweste, Helm und geladenem Maschinengewehr begegnet. Aber das sei nun einmal notwendig aus Gründen der Sicherheit. Natürlich versteht der Besucher. An jedem dritten Tag seiner Reise sprengt sich irgendwo im Land ein Selbstmordattentäter in die Luft. Er versteht, dass die Kantinen grundsätzlich keine Nahrungsmittel aus Afghanistan verwenden und also buchstäblich jedes Reiskorn, jeder Tropfen Wasser eingeflogen wird. Das ist notwendig, nicht aus Gründen der Sicherheit, wie er vermutet hatte, sondern weil sonst die Preise auf den lokalen Märkten in die Höhe schießen würden, wie der Vertreter der deutsch-schweizerischen Firma erklärt, die beim Catering in Krisengebieten weltweit an der Spitze steht. Dass Afghanen niemals mit den Nahrungsmitteln in Berührung kommen und in der Küche also nur den Abwasch erledigen dürfen, während der Grossteil der Angestellten bei der ISAF (bis hin zum Wachpersonal) aus Ländern wie Nepal oder Indien stammt, erfolgt wiederum nicht aus Gründen der Hygiene, sondern der Sicherheit. Natürlich würde er lieber Afghanen einstellen, sagt der Küchenchef. Die seien billiger und dabei wirklich sympathisch. Aber das dürfe er nun einmal nicht, das sei im Vertrag ausdrücklich untersagt, und das müsse man verstehen. Ja, natürlich, sagt der Besucher. Aber auch in diesem Gespräch wie in so vielen gelangt er rasch an den Punkt, an dem auch sein Gegenüber nicht mehr versteht.

Also, wenn ich manchmal über alles nachdenke, dann wundere ich mich schon, sagt der Küchenchef, als sich der Besucher nach dem Frühstück zu ihm und seinen nepalesischen oder indischen Angestellten setzt. – Worüber? – Über alles halt, wie das so läuft. Wir sind hier in Afghanistan, aber mit Afghanistan hat das nichts zu tun, das Obst aus Südamerika, das Wasser vom Persischen Golf, das Schnitzel aus Deutschland, die Köche aus Nepal. Aber richtig verrückt wird es erst bei den Amerikanern in Bagram. – Warum? – Die lassen Lobster aus Kuba einfliegen. Aus Kuba! Stellen Sie sich das mal vor. Dann zuckt der Küchenchef, der gern mehr Afghanen einstellen würde und an dem es nun wirklich nicht liegt, dass das Land nicht vorankommt, melancholisch die Schultern. Aber woran liegt es?

Die britischen Befehlshaber, Brigadegeneral Nugee und Colonel Moss, haben eine imponierende Art: humorvoll, höflich, direkt, entwaffnend offen, entwaffnend in dem Sinne, dass sie einem die Argumente aus der Hand nehmen, indem sie sie bestätigen. Die afghanische Polizei, die von den Amerikanern und Deutschen ausgebildet wird? Wenig effektiv, schlecht geführt, korrupt, dazu eine Pyramide, die auf dem Kopf steht: mehr Offiziere als Wachleute. Die hohe Absprungquote? Kein Wunder, wenn ein Polizist, der von der ISAF ausgebildet wurde, mehr verdient, wenn er anschließend für die ISAF putzt. Die Warlords, die Ministerpräsident Karzai als Sicherheitschefs in der Provinz einsetzt? Gangster. Die Amerikaner? Well, ihre Polizeiausbildung ist im Gegensatz zur deutschen wirklich gut. Die Deutschen, wissen Sie, und Colonel Moss fängt an zu kichern, wissen Sie, die Deutschen sind sehr, sehr gründlich, und das ist auch gut, das respektiere ich, aber man bildet in Afghanistan eben keine Kommissare für den mittleren Dienst in einer europäischen Großstadt aus. Die Polizeiausbildung der Amerikaner hingegen sei vielleicht ein bisschen oberflächlich, also versuche man jetzt einen Mittelweg zu gehen.

Wo wäre Afghanistan ohne den Krieg im Irak? Tja, seufzt diesmal Colonel Moss, was soll ich sagen, das ist eine eigene Diskussion, ob der Irakkrieg richtig war, aber für Afghanistan kann ich soviel sagen, dass wir natürlich weiter wären. Ich kann es nicht bemessen, aber wir wären weiter. Gleichviel, hier ist nicht der Irak – "this war is winnable". Die größte Sorge, fährt er fort, die größte Sorge, die wir haben, ist, dass irgendetwas passiert, was die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf sich zieht, und dass Afghanistan ein weiteres Mal vergessen wird.

Der Besucher auf dieser Reise ist Gast der NATO. Aus ihrer Perspektive blickt er auf das Land. Das ist neu für den Besucher, aber üblich geworden für den Journalismus, auch wenn es nicht üblich ist, das zu erwähnen. Afghanistan ist nicht der Irak. Man kann sich als Ausländer im größten Teil des Landes frei bewegen. Die Sicherheitslage ist zum Glück bei weitem nicht so prekär, dass man als Zivilist Schutzweste und Helm tragen müsste. Von Afghanen freundlich empfangen zu werden, ist noch immer (oder wieder) die Regel. ISAF steht auf den Uniformen der Soldaten, darunter in arabischen Lettern der Schriftzug in der Landessprache Dari: komak o hamkâri – "Hilfe und Zusammenarbeit".

Der Besucher nimmt sich in der Straße vor dem Hauptquartier der ISAF ein Taxi. Der erste Eindruck ist von trostloser Normalität: Verkehrsstau, Trümmer, einfachste Betonverschläge statt Häuser, Armut. Keine Bäume, keine Cafés, kein Lachen. Die einzigen, die am Straßenrand verweilen, sind Krüppel oder Kinder, die sich Klebstoff vor die Nase halten. Aber auch viele Frauen sind auf den Straßen zu sehen, ohne Burkas, Schulkinder, Mädchen und Buben. Doch, die Schulkinder lachen! Man muss die Schulkinder anschauen, um nicht in Depressionen zu verfallen. Wer hingegen in alten Reiseberichten gelesen hat, wie Kabul vor fünfhundert, vor fünfzig und noch vor fünfundzwanzig Jahren aussah, wird seines Tages nicht mehr froh. Kabul war einmal ein Garten. Hier gediehen Trauben, Granatäpfel, Aprikosen, Äpfel, Quitten, Birnen, Pfirsiche, Pflaumen und Mandeln, wie Kaiser Babur 1501 in seinen Memoiren vermerkte. Die ganze Pracht Indiens, das er eroberte, wog die dreiunddreißig Sorten wilder Tulpen nicht auf, die in Kabul blühten. Nüsse gab es im Überfluss, und der Wein war berauschend.

Der Besucher begleitet den jungen Schriftsteller Masoud Hassanzadeh ins Parlament. Hassanzadeh interviewt einen Abgeordneten aus seiner Heimatstadt Herat, den schiitischen Geistlichen Ahmad Ali Dschebra'ili, der sich zur neuen, so genannten "Reformfraktion" zählt. Der Abgeordnete verlangt Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Minderheiten. Die Verfassung müsste dafür nicht geändert, sondern nur angewandt werden. "In diesem Augenblick, da ich zu Ihnen spreche", sagt der Geistliche dem jungen Schriftsteller und blickt ihm betroffen in die Augen, "werden achtzig Prozent aller Angelegenheiten in diesem Staat nach Maßgabe von Beziehungen, nicht von Gesetzen geregelt." Afghanistan sei ein islamischer Staat, aber die Theokratie in Iran nicht dessen Modell. Auf die Frage, ob das Parlament das afghanische Volk repräsentiere, antwortet Dschebra'ili, dass zwar nicht alles korrekt gelaufen sei bei der Wahl, das Ergebnis aber grundsätzlich dem Votum des Volkes entspreche. "Wir wehren uns gegen die pauschale Kritik am Parlament", wendet sich Dschebra'ili gegen die Vorwürfe der Taliban. "Von der Zerstörung des Parlaments profitieren nur die Feinde Afghanistans, innerhalb und außerhalb des Landes." Was der Geistliche sagt, klingt vernünftig. Nur hat der Besucher keinen Hinweis herausgehört, wo die "Reformfraktion" politisch steht, ob im nationalen oder religiösen Lager, ob in der Opposition oder auf Seiten der Regierung. Kein Wunder, sagt der Schriftsteller Masoud Hassanzadeh nach dem Interview: Gestern habe er einen Altkommunisten interviewt, dessen Aussagen identisch waren mit denen des Islamisten: für Rechtsstaatlichkeit, gegen Korruption, für Demokratie, gegen Vetternwirtschaft. Aber mit einem Altislamisten wie Dschebra'ili würde der Altkommunist sich niemals zusammentun – nicht weil er andere Ansichten hat, sondern weil er einem anderen Lager angehört. Um Inhalte gehe es niemandem. Aber ist es nicht ein Fortschritt, wenn sie sich nun Demokratie wenigstens auf die Fahnen geschrieben haben? fragt der Besucher nochmals. Vielleicht verändern die Parolen langfristig auch die Politik. – Das mag sein, aber sehr langfristig, meint Hassanzadeh. – Gibt es eine Alternative? – Nein. Entweder diese korrupte Regierung überlebt dank der Unterstützung des Westens, oder wir haben Taliban und Krieg.

Wer wissen will, warum Afghanistan nicht oder nur so quälend langsam vorankommt, sollte dort hinfahren, wo es am schnellsten gehen müsste, zum Beispiel auf der nagelneuen Autobahn von Sar-e Paul nach Schibergan im Norden des Landes. Im Wahlkampf hatte Hamid Karzai der Bevölkerung eine zehn Meter breite Autobahn versprochen. Karzai gewann die Wahl, und die staatliche Hilfsorganisation US-AID bewilligte 15 Millionen Dollar. Das Geld wurde an ein Büro der Vereinten Nationen überwiesen, die den amerikanischen Berger-Konzern als Berater engagierten. Allein vier Millionen Dollar kosteten die Unterkunft der ausländischen Angestellten und die Einfuhr der technischen Geräte. Für die Autobahn selbst blieb dann nicht mehr viel Geld übrig. Dabei fielen die Löhne für die afghanischen Bauarbeiter kaum ins Gewicht, bei 90 Dollar monatlich für zehn reguläre Arbeitsstunden am Tag, siebenmal die Woche und ohne Urlaub. Auch für Krankenversicherung und sonstige Versorgungsleistungen entstanden keine Kosten, und als der Arbeiter Mohammad Nasim sich bei einem Unfall auf der Baustelle tödlich verletzte, blieb es seinen Kollegen überlassen, für die Familie etwas Geld und Nahrungsmittel zu sammeln. Aber das hätte in Afghanistan kaum jemanden erregt. Verblüfft waren die Bewohner, als sie erstmals die neue Autobahn befuhren. Bereits bei ihrer feierlichen Eröffnung hatte der Straßenbelag so viele Löcher und Risse, dass er mehr aus Schotter als aus Asphalt bestand. Überall sah man Autos, die mit einer Reifenpanne oder einer zerbrochenen Windschutzscheibe den Verkehr blockierten. Weil aus Geldmangel zwei Meter eingespart werden mussten, fehlt der Autobahn der Standstreifen. Die vielen Fahrradfahrer, die vorher auf dem Seitenstreifen gefahren sind, müssen nun entweder zu Hause bleiben oder sich zwischen die Autos zwängen.

Aber Achtung, es wird noch absurder: Einige Zeit nach "Fertigstellung" gruben einige Anwohner einen Graben mitten durch die Straße. Rechtzeitig vor der Regenzeit versuchten sie so, einen Abflusskanal zu schaffen. Wegen Beschädigung öffentlichen Eigentums wurden sie verhaftet. Der Dorfälteste verteidigte die Festgenommenen. Die Dorfbewohner würden sich über die neue Straße freuen, aber nicht darüber, dass ihre Häuser im Winter überflutet würden. Er verlangte den Bau eines Abflussrohrs. Die Baufirma verwies auf einen kaum je angewendeten Paragraphen im afghanischen Verkehrsgesetz, wonach kein Gebäude näher als dreißig Meter an einer Autobahn stehen dürfe. Aber die Häuser waren doch vor der Straße schon da, wandten die Dörfler ein. Als sie merkten, dass Logik nicht hilft, gruben sie zwei Monate später einen neuen Graben mitten durch die Straße.

Der Besucher fährt zu Farid, der als Protokollant im afghanischen Parlament arbeitet. Sein Geld verdient er mit einer Wäscherei. Der Laden im sowjetischen Viertel Kabuls, wo die Reste der Mittelschicht in Plattenbausiedlungen leben, ist schwer zu finden, weil es nirgends Beleuchtung gibt: keine Straßenlaternen, keine Leuchtreklamen, nicht einmal in den Häusern brennt Licht, allenfalls hier und dort einzelne flackernde Lampen, sonst nur die Autoscheinwerfer. Aber Autos fahren um diese Zeit, neun Uhr abends, nur wenige – wohin auch, wenn es keinen Strom gibt und damit kein öffentliches Leben.

Fünf Jahre nach dem Sturz der Taliban funktioniert in der Millionenstadt Kabul die Elektrizität noch immer nur drei bis vier Stunden täglich. Die Wasserversorgung ist erbärmlich, die Kanalisation eine Kloake. Immer wieder hat der Besucher von NATO-Generälen gehört, dass Sieg und Niederlage ihrer Mission sich nicht auf dem Gefechtsfeld, sondern im humanitären Bereich entscheiden. Na dann gute Nacht, denkt er, als er mit dem Taxi durch Kabuls menschenleere Straßen fährt, mitten durch teichgroße Pfützen, überholt von rasenden 4-Wheel-Drives mit westlichen Insassen, vorbei an riesigen, stockfinsteren Zeltstädten, in denen Flüchtlinge im fünften Jahr kampieren, vorbei an französischen Restaurants und nagelneuen Villen, in denen Ausländer und neureiche Afghanen Strom und Warmwasser aus privaten Versorgungsanlagen beziehen und per Satelliten-Standleitung 24 Stunden täglich mit der Welt verbunden sind.

An sich wäre Nation-Building eine prima Idee. Praktisch heißt es, dass der Wiederaufbau die Wirtschaft der Geberländer stärkt. Die Vereinigten Staaten etwa vergeben Großaufträge an amerikanische Konzerne wie Halliburton, Berger oder Kellogg, die sich nicht durch die günstigsten Angebote, sondern die besten Lobbyisten, engsten Kontakte und höchsten Wahlkampfspenden hervortun. Allein die Firma DynCorp, die mit der Ausbildung von Polizisten beauftragt ist, verfügt in Afghanistan über eine Flotte von dreihundert gepanzerten Landcruisern, jeder im Wert von 150.000 Dollar. Ein ausländischer Berater kostet den Steuerzahler seines Heimatlandes nach Berechnungen der "New York Times" durchschnittlich 500.000 Dollar: 150.000 Dollar Gehalt, der Rest für seine Sicherheit, die Lebenshaltungskosten und den Überschuss, den sein Unternehmen erwirtschaftet. Das importierte Wasser, das er trinkt, kostet mit täglich etwa drei Dollar mehr, als ein afghanischer Arzt verdient.

Schließlich findet der Besucher die richtige Hausnummer, klopft an die Fensterscheibe – und tatsächlich, Farid öffnet die Tür seines Ladens, eine Petroleumlampe in der Hand. Aus dem Nachbarladen, der seinem Vater gehört, holt er Coca-Cola. Ein Tee wäre dem Besucher lieber und viel billiger, aber ach ja, um einen Tee zu kochen, braucht man Strom. Der Besucher fragt Farid nach seiner Arbeit im Parlament. Sie macht ihm Spaß. Politik hat er studiert, an der Universität Kabul, wo heute auch amerikanische Berater tätig sind. Das Studium war gut, sagt Farid, sie hätten viel von den Beratern profitiert. – Und das Parlament? fragt der Besucher. Wird dort ernsthaft debattiert, oder erweckt es nur den Anschein von Demokratie? Farid denkt nach. Nein, sagt er dann, es werde schon ernsthaft debattiert, das sei nicht nur Show. Und es gebe neben den korrupten auch viele Abgeordnete, die es ehrlich meinen und sich für Afghanistan aufreiben.

Das heißt, du bist insgesamt schon glücklich, dass die Taliban weg sind. – Farid schaut den Besucher an und hält die flache Hand unter die Brust. Der Besucher versteht nicht. – So lang war mein Bart, lacht Farid, so lang. Kannst du dir das vorstellen? Der Besucher schaut in die Runde, wo inzwischen Farids männliche Verwandte versammelt sind, der Vater, der ältere Bruder, zwei Cousins. Wie auf ein Zeichen halten sich alle die Hand unter die Brust und kichern mit Farid. Gewiss hatte der Besucher von den Bärten gehört, die unter den Taliban jeder Mann brustlang tragen musste, aber wenn man in eine Runde freundlicher, glatt rasierter Herren blickt, wird einem erst klar, was das bedeutet. Im Schummerlicht der Petroleumlampe sehen sie mit ihren Schals, Mänteln und Mützen, die man im Kabuler Winter auch zu Hause trägt, beinah aus wie eine Gruppe von Bergsteigern, die sich nach anstrengendem Aufstieg nachts in der Almhütte versammeln. Dann zählt Farid die Strafen auf, die die Taliban verhängt hatten: die Anzahl der Gefängnistage fürs Musikhören, die Anzahl der Peitschenhiebe für den fehlenden Bart, die Anzahl der Hinrichtungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr.

Später fragt der Besucher nach dem Loch im Schaufenster, das notdürftig mit Plastik überklebt ist. Vor ein paar Tagen ist jemand eingebrochen, sagt Farid. Unter den Taliban konnte er nachts den Laden offenstehen lassen, da wäre nie etwas gestohlen worden. Jetzt gibt es nicht einmal jemanden, bei dem er Anzeige erstatten könnte. – Und die Polizei? Da fängt die Runde wieder an zu kichern.


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