Von Christian Sälzer
Eine mit Unterbrechungen fast 40 Jahre andauernde kriegerische Gewalt, ausgelöst von Interventionen von außen, hat Afghanistan in ein geschundenes Land verwandelt. Nicht zuletzt der US-geführte Krieg nach dem 11. September 2001 und die folgende ISAF-Mission hat die Gräben, die die Gesellschaft durchziehen – wirtschaftliche, soziale, kulturelle, ethnische und konfessionelle – vertieft. Hieran haben auch all die Milliarden Dollar aus dem Westen nichts geändert, im Gegenteil: Sie haben den Eliten genutzt und tradierte Machtstrukturen gestützt.
Die große Mehrheit aber wird in ihrer Armut ebenso alleine gelassen wie in ihren seelischen Verletzungen. So wurde der 2006 unter Mitwirkung der UN entwickelte Aktionsplan für Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit nie umgesetzt, eine Amnestie für alle vergangenen Kriegsverbrechen führte ihn ad absurdum.
Die Beratungen der aktuellen Regierung mit den Taliban und die Besetzung des High Peace Council mit Personen, denen Menschenrechtsverletzungen zugeschrieben werden, machen abermals deutlich: „Von oben“ gibt es keine ernsthaften Bemühungen um Wahrheitsfindung, Ahndung von Unrecht sowie Wiedergutmachung.
Frieden basiert auf Gerechtigkeit
Umso wichtiger sind daher Kräfte wie der medico-Partner Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO), der darauf beharrt, dass Frieden auf Gerechtigkeit basiert und den Kriegsopfern Mitspracherechte eingeräumt werden müssen.
Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2009 von sieben Afghaninnen und Afghanen, die aufgrund ihrer Erfahrungen bei internationalen NGOs und staatlichen Organisationen beschlossen, einen eigenen, selbstbestimmten Weg zu gehen. Für eine juristische, vor allem aber gesellschaftliche und psychosoziale Aufarbeitung vergangenen Unrechts fördert AHRDO demokratische Ansätze, die von den Menschen an der gesellschaftlichen Basis getragen werden.
Marginalisierte & Traumatisierte im Mittelpunkt
Im Mittelpunkt stehen die besonders marginalisierten und traumatisierten Bevölkerungsgruppen, Kriegsopfer und ihre Angehörigen. Menschen, die ihr Leben lang nur Zurückweisung und Unterdrückung erfahren haben, denen das Recht auf Bildung versagt wurde, sollen in dem Bewusstsein gestärkt werden, dass ihre Stimme Gewicht hat. Konkret setzen sich die Aktivisten für die Gründung von Basisgruppen und Netzwerken auf lokaler Ebene ein. Die afghanische Tradition der Räte aufgreifend, wurden schon vor einigen Jahren in den Provinzen Kabul und Balkh lokale Kriegsopferräte etabliert. Über diese Strukturen bietet AHRDO Alphabetisierungskurse und Diskussionsforen an, aber auch Trainings zu Themen wie Menschenrechten oder Interessenvertretung.
Mitsprache, Mitbestimmung, das Wählen von Vertretern – schon in ihrer demokratischen Form brechen die Räte mit den örtlichen Verhältnissen. Darüber hinaus stellen sie einen Raum dar, in dem die Menschen selbst Wege suchen können, um das Vergangene zu überwinden. Hierbei setzt AHRDO auf Methoden aus der Theater- und Kunstpädagogik, insbesondere auf den partizipativen Ansatz des „Theaters der Unterdrückten“.
Individuelle Schicksale werden Teil einer kollektiven Erfahrung
Aus den Geschichten der Menschen werden Stücke erarbeitet und diese gemeinsam auf die Bühne gebracht. Mehrere Hundert Aufführungen haben inzwischen stattgefunden, in denen individuelle Schicksale als Teil einer kollektiven Erfahrung erlebbar werden.
AHRDO stellt drei Forderungen: Die Warlords sollen in Gerichtsverfahren zur Verantwortung gezogen werden. Die Regierung soll das Recht der Kriegsversehrten und -witwen auf eine Wohnung, auf Schule und Ausbildung und eine gerechte Entschädigung anerkennen. Zusätzlich sollen sie eine Pension erhalten.
Vor den Gefahren nicht zurückweichen
2014 hat AHRDO seine Versöhnungs- und Ermächtigungsarbeit in die Provinzen Nangarhar und Bamyan ausgeweitet. Ein mutiger, aber auch symbolischer Schritt: Die nahe an der pakistanischen Grenze gelegene Provinz Nangarhar ist umkämpft und steht im Bann der Taliban. Bamyan hingegen gilt als weitgehend befriedete, gleichwohl besonders benachteiligte Region. Hier lebt mehrheitlich die Volksgruppe der Hazara, deren Widerstand gegen die Zentralregierung und die Taliban mit Repressalien und Vertreibungen beantwortet wurde.
Vor den Gefahren nicht zurückzuweichen und an der Seite der Schwächsten der Gesellschaft aktiv zu werden, sagt viel über das Verständnis von Solidarität von AHRDO. In dem Versuch, die politischen, sozialen und kulturellen Fronten zu überwinden, treiben sie nun die Gründung eines überregionalen Kriegsopferrates voran. Ziel ist es, Forderungen verschiedener Gruppen zusammenzubringen und hörbar zu machen – so deutlich, dass sie auch in Kabul wahrgenommen werden.