Kommentar von Thomas Gebauer
Mitunter sind es die extremen Momente, in denen der prekäre Verlauf der Geschichte deutlich wird. Das gilt für die Bankenkrise, die das zerstörerische Potential des Neoliberalismus unübersehbar machte, und das gilt auch für das Erdbeben von Haiti, bei dem 250.000 Menschen den Tod fanden und 1,5 Millionen obdachlos wurden. Spätestens seitdem verbietet sich, von globaler Verantwortung zu sprechen, ohne zugleich mit den Verantwortlichen ins Gericht zu gehen. Denn Katastrophen, auch die, die von Naturgewalten ausgelöst werden, haben immer auch einen „man-made“-Anteil. Nicht in Überschwemmungen als solchen, nicht allein in Erdbeben oder Taifunen liegt die Gefahr, sondern im Zusammenwirken solcher Ereignisse mit der jeweils besonderen „Vulnerabilität“ von Menschen.
„Vulnerabilität“ (lat: Verletzbarkeit) meint ein komplexes Geschehen. Sie ist dort besonders groß, wo Menschen unter unsicheren Umständen zu leben gezwungen sind, wo Frühwarnsysteme fehlen und es auch keine öffentlichen Institutionen gibt, die im Augenblick besonderer Herausforderungen verlässlich Hilfe leisten könnten. Umgekehrt sind Menschen selbst in größter Not weniger „vulnerabel“, wenn sie auf staatliche Beihilfen, öffentliche Solidarsysteme oder Versicherungsleistungen zurückgreifen können, die für einen – zumindest materiellen – Ausgleich erlittener Schäden sorgen. Das Erdbeben in Haiti traf eine Gesellschaft, die wie kaum eine andere „vulnerabel“ gewesen ist. Das Fehlen einer leistungsfähigen Infrastruktur sorgt dafür, dass schon leichte Tropenstürme zum Desaster werden können – und Erdbeben zur Katastrophe. Haiti gilt als das Armenhaus der westlichen Hemisphäre, als gottverlassener Ort, ohne jede Perspektive, der vergessene Teil einer ansonsten von Touristen hoch geschätzten Karibikinsel. Glaubt man den Ankündigungen der G8-Finanzminister, wird sich das bald ändern. Die Katastrophe eröffne auch die Chance auf Veränderung, hieß es. Man denke darüber nach, Haiti die Auslandsschulden zu erlassen. Ein Akt der Unterstützung in großer Not? Nein, ein Akt, der bei näherer Betrachtung auf einen 200 Jahre währenden Skandal verweist!
Fraglos zählt die Auslandsverschuldung zu den größten Problemen Haitis. Auf empörende Weise reicht sie zurück bis in die Zeit der haitianischen Unabhängigkeit 1804. Wer je die Existenz von sog. „odious debts“ (verabscheuungswürdige Schulden) bezweifelt hat, wird hier eines Besseren belehrt. Unter militärischem Druck setzte die Kolonialmacht Frankreich 1825 durch, dass Haiti für seine Unabhängigkeit 90 Mio. Goldfranken (heute etwa 17 Mrd. Euro), das Zehnfache der damaligen Staatseinnahmen, als Entschädigung bezahlen musste. Damit sollten die Verluste ausgeglichen werden, die den französischen Plantagenbesitzern entstanden waren, weil sie fortan keine Sklaven mehr ausbeuten durften. Um den aufgezwungenen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, musste Haiti schon während des 19. Jahrhunderts umfangreiche Kredite aufnehmen und zugleich alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, exportieren. Damals beschleunigte sich der Raubbau an den natürlichen Ressourcen des Landes, der schließlich zum Zusammenbruch des ökologischen Gleichgewichts führte. Unerbittlich trieb Frankreich noch 1947 – 122 Jahre später – die letzte Rate ein. Als dagegen Haiti um Rückgabe einer vergleichsweise bescheidenen Summe von 4,6 Mio. Dollar nachsuchte, die auf einem Schweizer Konto des 1986 gestürzten haitianischen Diktators Jean-Claude Duvalier, genannt „Baby Doc“, aufgefunden wurde, blieb das Anliegen erfolglos. Anfang Februar 2010 entschied das Oberste Schweizer Bundesgericht, dass die Verbrechen, die dem Diktator zur Last gelegt werden, verjährt seien – und eine Rückgabe deshalb nicht mehr möglich. Folter und Mord, verübt an Armen und Ohnmächtigen, verjähren rasch; wenn sich Menschen aber aus Sklaverei und Unterdrückung befreien, dann wird ihnen das von den Mächtigen dieser Welt nicht eigentlich je verziehen.
Auf über eine Mrd. Dollar belaufen sich die Auslandsschulden von Haiti heute. Der überwiegende Teil davon stammt aus den Jahren der Schreckensherrschaft der Duvaliers, die das Land in enger Kooperation mit internationalen Finanzgebern von 1957 - 1986 regierten. Allein „Baby Doc“ soll mehr als 500 Mio. Dollar ins Ausland geschafft haben. Während seiner Herrschaft flossen immer weniger Mittel in Straßen, Bildung oder die Verbesserung der Energieversorgung, umso mehr auf Schweizer Nummernkonten und in den Schuldendienst. Haiti geriet unter das strangulierende Diktat des IWF, der tatkräftig mithalf, den öffentlichen Sektor bis zur Unkenntlichkeit auszuhöhlen.
Zuletzt stand Haiti unter einer de-facto-Verwaltung der UN, die keineswegs nur für Sicherheit, sondern auch für strategische politische Entscheidung sorgte. So hat sie beispielweise mit EU-Mitteln den Bau einer Straße von der angrenzenden Dominikanischen Republik nach Haiti vorangetrieben, um die Vermarktung von US-Agrarüberschüssen zu erleichtern. Was Haiti von der EU wollte, war die Unterstützung beim Aufbau der ländlichen Infrastruktur; was es bekam, entpuppte sich als Todesstoss für die eigene Landwirtschaft.
Lange bevor Port-au-Prince in den Trümmern des Erdbebens versank, war für die afroamerikanische Bevölkerung der Stadt der Ausnahmezustand zum Normalfall geworden. Seitdem die ehemaligen Sklaven das Joch kolonialer Auspressung abgeworfen hatten und die Ideen von Humanismus und Aufklärung auch für sich beanspruchten, ist ihnen von Europa (und später den USA) nichts als strafende Missachtung und Bevormundung zuteilgeworden. Zuletzt blieb vielen Haitianerinnen und Haitianern nur noch das buchstäbliche Nichts – und darin die Chance, sich zu Meistern des eigenen Überlebens zu entwickeln.
Es sind weder Apathie noch Chaos und auch nicht Gewalt, die heute in Haiti herrschen, sondern ein umso größeres Misstrauen gegenüber allem, was von außen kommt. Das spüren auch die ausländischen Helfer, sofern sie sich auf die Umstände, die vor Ort herrschen, einlassen und Haiti nicht nur als ein weiteres Einsatzgebiet betrachten. Wer dagegen im Beisein von CNN-Kameras aus Hubschraubern Nahrungsmittel abwirft, muss sich nicht wundern, wenn solche „Hilfe“ in einer Schlägerei endet. Dass Menschen, die Hunger haben, zugreifen, ist nur zu verständlich. Zu denken aber sollte es geben, wenn Mundraub – im Nachkriegsdeutschland mit erzbischöflichen Weihen „Fringsen“ genannt – zur „Plünderung“ erklärt wird, wenn Haitianerinnen und Haitianer beteiligt sind!
Es sind solche Bilder, die schließlich die Präsenz von US-Truppen legitimieren. Und es ist das alte Stereotyp des unzivilisierten Wilden, mit dem der „Council on Foreign Relations“, ein Washingtoner Think Tank, bereits im Januar seine Forderung lanciert hat, „Haiti unter eine internationale Zwangsverwaltung zu stellen“. So dringend Haiti auf Hilfe von außen heute angewiesen ist, so sehr ist darauf zu achten, dass Hilfe nicht der weiteren Re-Kolonisierung des Landes den Weg bereitet, die aus dem großen Akt der Befreiung von 1804 endgültig eine historische Episode macht.