Haiti ist in jeder Hinsicht ein Exempel: das erste Land Amerikas, welches sich die Unabhängigkeit erkämpfte, erreicht von versklavten und verschleppten Afrikanern, die sich selbst befreiten. Eine großartige Geschichte der Emanzipation und ein Beispiel für das „verwundete Gedächtnis der Völker“ (Jean Ziegler). Haiti gehört zu den Ländern, die nie eine Chance hatten, die Armut hinter sich zu lassen. Wer sich nicht mit den Klischees von Korruption, Unfähigkeit und Machtmissbrauch abspeisen lassen will, der muss sich mit der haitianischen Tragödie genauer beschäftigen. Auf dem Stiftungssymposium hat der Journalist und Lateinamerika-Kenner Uli Mercker einen Einblick in die haitianische Geschichte und das Scheitern der Befreiungsversuche gegeben, der vieles von der heutigen katastrophalen Situation erklärt. Wir veröffentlichen den Text in Auszügen:
Boukman’s Experience heißt eine der populärsten Bands Haitis, die mit ihrem originellen Sound auf keinem Musikfestival der Insel fehlen darf. Benannt hat sich die Gruppe nach jenem legendären aus Jamaika geflohenen Sklaven und späteren Voudou-Priester Boukman, der in der Nacht des 22. August 1791 in Bois Caiman im Norden der Insel zu einer Zeremonie geladen hatte, die gemeinhin als der Beginn des haitianischen Unabhängigkeitskampfes gilt. Während der Zeremonie soll er folgendes Gebet gesprochen haben:
Gott, der die Sonne schuf, um uns Licht zu geben… du siehst alles, was die Weißen uns an Leid zugefügt haben. Der Gott des weißen Mannes veranlasst ihn, Verbrechen zu begehen. Aber der Gott in uns will, dass wir Gutes tun. Unser Gott, der so gut ist, so gerecht, er befiehlt uns, unsere ungerechte Behandlung zu rächen. Er ist es, der unsere Waffen führen wird und uns den Sieg bringen wird. Wir alle sollten es wegwerfen, des weißen Mannes Gottesbild, das so gnadenlos ist. Lauscht der Stimme der Freiheit, die in all unseren Herzen singt.
Nach dem kollektiven Genuss des Bluts von einem geopferten schwarzen Schwein schworen die versammelten Sklaven dem Priester unbedingten Gehorsam und machten sich auf den Weg, um ihre weißen Peiniger aufzusuchen und sich für erlittenes Unrecht an ihnen zu rächen. Anders als 40 Jahre zuvor, als der Sklavenführer Mackandal bereits einmal den Aufstand geprobt hatte und dafür öffentlich hingerichtet worden war, ließ sich diesmal die Gemeinschaft unter Boukmans Befehl nicht aufhalten. Er selbst wurde zwar schon wenige Wochen nach Beginn der Revolte getötet, die Aufständischen fanden jedoch im ganzen Land massiven Zulauf.
Der Befreiungskampf erhielt wenige Jahre später eine neue Qualität, als der vom französischen Direktorium zum obersten General ernannte ehemalige Sklave Toussaint Louverture sich von Frankreich lossagte und seine Truppen gemeinsam mit den Maroons (den in den Bergen versteckten entlaufenen Sklaven) gegen die Kolonialherren führte. Im Februar 1801 marschierte er mit seinen Truppen in Santo Domingo ein. Die von ihm für die gesamte Insel erlassene Verfassung dekretierte zwar die Abschaffung der Sklaverei, war aber noch nicht gleichzusetzen mit der Proklamation der Unabhängigkeit. Als Gouverneur wollte Toussaint die Insel bis zu seinem Tod regieren und nach den Kriegswirren der vergangenen Jahre wieder zu wirtschaftlicher Blüte führen. Immerhin war das damals noch so genannte Saint Domingue die reichste Kolonie Frankreichs.
Die Rückkehr der Sklaverei
Der inzwischen in Frankreich an die Macht gekommene Napoleon hatte ein vitales Interesse daran, nicht die Kontrolle über diese Quelle des Reichtums zu verlieren. Er entsandte nach vollzogenem Friedensschluss mit Spanien eine über 20.000 Mann starke Invasionsarmee auf die Insel. Toussaint reagierte auf diese Kampfansage mit dem Befehl an seine Offiziere, alle Städte, die nicht zu halten seien, in Asche zu legen und zu zerstören. Nach drei Monaten heftigster Kämpfe mit hohen Verlusten musste Toussaint jedoch kapitulieren. Er wurde nach Frankreich deportiert, wo er im April 1803 im Verlies der Festung Fort Joux jämmerlich verreckte.
Nachdem jedoch bekannt geworden war, dass die Invasoren die Sklaverei wieder einführen wollten, gewann der Widerstand unter dem Nachfolger Toussaints, Jean Jacques Dessalines, erneut an Stärke. Die Aufständischen sammelten sich und fügten den Söldnertruppen Napoleons empfindliche Niederlagen zu. Begünstigt wurden sie dabei vom Ausbruch einer Gelbfieber-Epidemie, die viele der Eindringlinge dahinraffte. Der kommandierende General Leclerc berichtete darüber seinem Schwager Napoleon wie folgt: „Dreihundertsechzig Mann wälzten sich in Krämpfen und verwundeten sich z. T. mit ihren eigenen Waffen. Ich habe keine Soldaten, um die Toten bestatten zu lassen... Es regnet unablässig. Die Neger vermehren sich wie das Ungeziefer, obwohl ich jeden Tag genügend erschießen lasse. Ich selbst bin krank.“ Er starb am 2. November 1802. Nach der vernichtenden Niederlage kehrten gerade einmal 2.000 Soldaten nach Frankreich zurück.
Eine halbe Million Tote
Ungleich größer waren freilich die Verluste auf der siegreichen Seite. 13 Jahre kriegerischer Auseinandersetzungen hatten eine halbe Million Tote gefordert, das Land lag am Boden, die früher ertragreichen Plantagen waren zerstört, die Städte zu Geisterstädten geworden. In einer solchen Lage schließlich rief Dessalines am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit Haitis aus. Das weiße Europa traute seinen Augen nicht. Solche Verwegenheit musste bestraft werden. Die Insel wurde mit einem 21 Jahre dauernden eisernen Boykott belegt, bevor Frankreich 1825 unter Karl X. gegen das Zahlungsversprechen einer astronomischen Entschädigungssumme die Republik anerkannte. Mit diesen Entschädigungsleistungen waren die Wurzeln einer bis heute andauernden Verschuldungskrise gelegt.
Die USA ließen sich noch wesentlich länger Zeit mit der Anerkennung. Erst 1862, fast 60 Jahre später, erkannten sie die Unabhängigkeit der ersten schwarzen Republik an. Kurz vor dem Eintritt in den ersten Weltkrieg besetzten die USA 1915 unter Woodrow Wilson die Hauptstadt Port-au-Prince, um „für Recht und Ordnung zu sorgen und die Interessen der amerikanischen Staatsbürger zu verteidigen“. Die Okkupation dauerte 19 lange Jahre, bis 1934 – genügend Zeit, um eine schlagkräftige Gendarmerie aufzubauen, den gesamten Staatsapparat sowie die Finanzverwaltung nach eigenem Gusto umzukrempeln und den sporadisch aufflackernden Widerstandswillen der Haitianer zu brechen.
29 Jahre dauerte schließlich die Duvalier-Ära von 1957 – 1986. Eingeleitet hatte sie Francois Duvalier (Papa Doc), der seine politischen Lorbeeren als medizinischer Berater der amerikanischen Besatzer verdient hatte und später Gesundheitsminister wurde, bevor er sich an die Spitze einer schwarzen „Erneuerungsbewegung“ stellte und mit Hilfe der Militärs zum Präsidenten wählen ließ. In seine Amtszeit fällt eine weitgehende Entmachtung der kreolischen Oberschicht, die Schaffung einer extrem brutalen paramilitärischen Polizeitruppe, besser bekannt unter dem Namen „Tontons Macoutes“, und die gnadenlose Verfolgung und Repression gegenüber politischen Gegnern. Vor seinem Tod 1971 übergab er die Staatsmacht an seinen 19-jährigen Sohn Jean Claude, der nach anfänglichen Liberalisierungsschritten das Land in den 1980er Jahren endgültig in den Ruin trieb.
184 Jahre für die erste Verfassung
Die Proteste und Unruhen nahmen ein solches Ausmaß an, dass auch die USA den völlig überforderten Duvalier wie eine überreife Pflaume fallen ließen. Dem haitianischen Volk blieb jedoch nach seinem Sieg über die verhasste Diktatur wenig Zeit zum Feiern. Ein Nationaler Regierungsrat (CNG), bestehend aus Militärs und Angehörigen der politischen Klasse, übernahm die Regierungsgeschäfte und ließ eine neue Verfassung ausarbeiten, die im März 1987 per Referendum mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde.
Diese im 184. Jahr der Unabhängigkeit verabschiedete und noch heute gültige Verfassung regelte erstmals die Kompetenzen der verschiedenen Staatsorgane bis hinunter in die Bezirksverwaltungen, legte die Wahlverfahren für die Präsidentschafts-, Abgeordneten- und Senatswahlen fest und bestimmte einen Provisorischen Wahlrat, der die ersten freien Wahlen für den 29. November 1987 vorbereiten sollte. Am Wahltag richteten die im ganzen Land marodierenden verbliebenen Tontons Macoutes ein solches Blutbad an, dass die Wahlen abgebrochen werden mussten. Ein zweiter Versuch im Januar 1988 geriet zur Farce, da nach einem Boykottaufruf der Kirche und wichtiger politischer Strömungen nur weniger als 10% der Bevölkerung an der Stimmabgabe teilnahmen. Dennoch wurde der umtriebige Politik-Professor Leslie Manigat als Wahlsieger proklamiert und offiziell zum Präsidenten ernannt. Bereits 4 Monate später wurde er vom Armeechef Henri Namphy weggeputscht.
Die turbulenten Ereignisse in Haiti seit der Vertreibung Duvaliers erregten zunehmend die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft. Im Zusammenhang mit dem Sturz der Diktatur waren überall im Land, in den Städten, im ländlichen Raum, an Hochschulen und Schulen, eine Vielzahl von Basisorganisationen aus dem kirchlichen Spektrum entstanden, die allesamt Mitsprache bei der Ausgestaltung zukünftiger Politik reklamierten. Eine solchermaßen politisierte Volksbewegung musste auf irgendeine Weise gebändigt werden. Insbesondere die USA, Frankreich und Kanada brachten auf internationalen Foren ihre Besorgnis zum Ausdruck, dass dem Treiben einer führungslosen, unter sich zerstrittenen Soldateska auf der einen, und dem Radikalisierungsprozess einer erwartungsvollen Zivilgesellschaft auf der anderen Seite Grenzen gesetzt werden müssten. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass Haiti im Chaos versinke und auch noch die benachbarte Dominikanische Republik in dieses mit hineinziehe.
1990 die einzigen freien Wahlen
Der in Haiti arbeitende Deutsche Reinhard Helmke erhielt im Herbst 1990 den Auftrag, als UN-Koordinator für die Durchführung sauberer Wahlen Sorge zu tragen. Nach übereinstimmendem Urteil vieler Zeitzeugen erfüllte er diese Aufgabe in vorbildlicher Weise. Es sollten in der Tat die ersten (und bisher einzigen) wirklich sauberen Wahlen in der Geschichte der „Schwarzen Republik“ sein. Am letzten Tag vor dem Ablauf der Einschreibungsfrist, am 18. Oktober 1990, meldete der bis dahin nicht auf der Rechnung stehende Priester Jean Bertrand Aristide seine Kandidatur für die Sammlungsbewegung FNCD an. Nachdem das bekannt wurde, stieg die Zahl der eingetragenen Wähler sprunghaft von 50% auf gut 90% aller Wahlberechtigten. Die hoch politisierte Bevölkerung erkannte sofort die einmalige Chance, sich mit dem populären Befreiungstheologen selbst an die Macht zu wählen.
Das Ergebnis der Wahlen vom 16. Dezember 1990 sprach für sich: 67,5% für Aristide, 14,2% für Bazin, den vom Westen favorisierten Kandidaten. Ein Zauberwort machte daraufhin die Runde: Lavalas – die kreolische Wendung für l’avalanche, die Lawine. Aristide hatte sein politisches Projekt unter diese Losung gestellt, unterstützt von einem breiten Bündnis sozialer Bewegungen aus Bauernorganisationen, Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees, Studenten- und Schülervereinigungen, kirchlichen Basisgruppen, Frauenorganisationen, Künstlern und Intellektuellen.
Die Lawine sollte die überkommenen undemokratischen Strukturen, die stets nur einer kleinen Elite zugutekamen, wegspülen und für einen grundlegenden Neuanfang sorgen. Das Regierungsprogramm beruhte auf den drei Grundpfeilern „Gerechtigkeit, Partizipation und Transparenz“. An der Ausformulierung der Programmteile hatte noch einer seiner schärfsten späteren Widersacher, der Soziologe Gerard Pierre-Charles, entscheidenden Anteil.
Aristide als zweite Befreiung
Ein Jahr nach dem Fall der Mauer wurde die internationale Staatengemeinschaft durch das Ergebnis eines von ihr selbst vorbereiteten Wahlgangs überrascht: Der Kandidat der westlichen „Verwertungsgemeinschaft“ war durchgefallen, stattdessen musste ein glasklarer Antiimperialist zu seinem deutlichen Sieg beglückwünscht werden. Haiti stand vor seiner „zweiten Befreiung“, oder, wie andere es nannten, vor der „zweiten Unabhängigkeit“. Durch das Land ging eine unglaubliche Stimmung des Aufbruchs, der Hoffnung und Zuversicht. Aristide sollte dennoch nur 7 Monate Zeit haben, mit seiner Regierungsmannschaft (darunter René Preval als Premier- und Innenminister) die Weichen für die zweite Unabhängigkeit zu stellen. Weder die haitianische Oligarchie und ihr bewaffneter Arm, das Militär, noch ihre säkularen und sakralen Hohen Priester, die professionellen Politiker und die katholische Amtskirche, konnten mit diesem Wahlergebnis einfach zur Tagesordnung übergehen. Ebenso wenig natürlich die am Billigstlohnland Haiti interessierten nordamerikanischen Wirtschaftskreise, die benachbarten Zuckerbarone der Dominikanischen Republik, ganz zu schweigen von der Kurie in Rom, die einen Befreiungstheologen an der Macht auf gar keinen Fall ertragen konnte.
In der Nacht vom 29. auf den 30. September wurde Aristide gezwungen das Land an Bord einer venezolanischen Maschine in Richtung Caracas zu verlassen. Dem schnell organisierten Widerstand begegneten die Putschisten mit äußerster Härte, ganze Stadtteile wurden dieses Mal hermetisch abgeriegelt, die Führer der Basisorganisationen festgenommen, grausam gefoltert oder sofort erschossen. Mit Unterstützung der nur vorübergehend abgetauchten „Chefs de section“, der ländlichen „Lumpenpolizei“ wurde im ganzen Land Jagd auf echte oder vermeintliche Kader der Volksorganisationen gemacht. Bilanz des Putsches: Mehr als 3.000 Tote und Hunderte von Verletzten, eine halbe Million Binnenflüchtlinge und ca. 40.000 Bootsflüchtlinge, die in Kuba und Miami oder auf benachbarten Inseln vorläufiges Asyl suchten. Bezeichnenderweise erkannten lediglich zwei Staaten das von den Putschisten eingesetzte Marionettenregime an: die Dominikanische Republik und der Vatikan.
Nach zähen Verhandlungen unter Leitung des Ex-Präsidenten Jimmy Carter gelang es nach mehr als drei Jahren, die Putschisten zum Einlenken zu bewegen und die Bedingungen für Aristides Rückkehr auszuhandeln. Viele schwer verdauliche Kröten waren darunter, u. a. eine weitgehende Amnestie gegenüber den Putschisten, Strukturanpassungen im Sinne der damals verbreiteten IWF-Auflagen, die Privatisierung wichtiger Staatsunternehmen sowie eine verkürzte Amtszeit. Mit 20.000 US-Soldaten kehrte der geschasste Präsident im Oktober 1994 unter dem frenetischen Jubel der Massen zurück.
Ein geschundenes Land
Aber Haiti hatte sich verändert. Viele Weggenossen aus der Vergangenheit waren entweder überhaupt nicht mehr da oder untergetaucht oder durch Folterungen traumatisiert, die Wirtschaft lag am Boden bzw. hatte sich eine neue Händlerklasse etabliert, die während des Embargos reich geworden war oder lukrative Kontakte mit dem internationalen Drogenkapital aufgenommen hatte. Hunderttausende Flüchtlinge, die entweder ins Ausland geflüchtet waren oder sich irgendwo im Landesinnern versteckt hatten, tauchten hungrig und verstört wieder auf. Die eindrucksvolle Streitmacht der USA machte klar, wer die eigentlichen Herren auf der Insel waren. In der Zahl vergleichbar mit der vor 200 Jahren jämmerlich gescheiterten Invasionstruppe Napoleons trat hier eine hochgerüstete Armee auf den Plan.
Eine der ersten Amtshandlungen Aristides bestand in der Abschaffung der Armee bzw. im Dekret zur Entwaffnung aller Soldaten. Schon hier zeigte sich seine begrenzte Handlungsfähigkeit. Einige Hundert zerlumpte Gestalten gaben zwar ihre ohnehin unbrauchbaren Flinten ab und kassierten dafür ein paar Dollar, die weitaus meisten Waffen aber verschwanden in unzugänglichen Verstecken. Dennoch ist die Auflösung des Militärs als Institution als ein Meilenstein in der haitianischen Verfassungsgeschichte zu sehen.
Die UN immer mit am Tisch
In der verbliebenen Amtszeit von Aristide und der seines Nachfolgers im Präsidentenamt, René Preval (1996 – 2001) unterstrichen die UN-Missionen unter verschiedenen Namen ihre „Unverzichtbarkeit“ für den geregelten Ablauf des politischen Lebens in Haiti. Ob in Fragen der Regierungsführung, der Gerichtsbarkeit, der Begleitung von Wahlprozessen, der Koordinierung der nach wie vor im Land arbeitenden ausländischen Hilfsagenturen oder auch als Mittler in den internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, es gab kaum einen Bereich, in dem nicht irgendein UN-Experte mit am Tisch saß und mehr oder weniger hilfreiche Ratschläge erteilte.
Im Jahr 2000 wurde Aristide erneut für eine 2. Amtszeit gewählt, die er aber ab dem Februar 2001 in zunehmend autoritärer Weise ausführte. Von seinen früheren politischen Unterstützern hatte er sich schon zuvor in der Interimsphase entfremdet. Jetzt wurde ihm vorgeworfen indirekt für Morde an politischen Gegnern und die Verwicklung in Drogengeschäfte verantwortlich zu sein. Es gab sogar Stimmen, die ihn als noch grausameren Potentaten als Vater und Sohn Duvalier bezeichneten, da er seine Macht nur noch auf kriminelle Jugendbanden, die so genannten „Chimères“, stütze und von ihnen die Drecksarbeit erledigen lasse. In dieser zugespitzten Situation kamen die USA, Kanada und Frankreich in Absprache mit der haitianischen Opposition zu dem Schluss, dass Aristide als Präsident nicht mehr haltbar sei. In einer Nacht- und Nebelaktion vom 28. auf den 29. Februar 2004 expedierten sie ihn zunächst nach Jamaika und anschließend in die Zentralafrikanische Republik. Schließlich begab er sich in die Republik Südafrika, wo er noch heute mit seiner Familie lebt und auf eine Chance der Rückkehr wartet.
Nach der Vertreibung Aristides sicherte sich die UNO einen entscheidenden Zuwachs an Einfluss, als der Sicherheitsrat „zur Eindämmung der Gewalt“ die Entsendung einer Blauhelmtruppe, eines Polizeikorps und etlicher ziviler Experten beschloss. Ein Kontingent von ca. 8.000 mehrheitlich lateinamerikanischen (!) Soldaten und 1.000 Polizisten versucht also seit beinahe 6 Jahren ein halbwegs geordnetes Regierungshandeln zu ermöglichen. Nach anfänglicher positiver Aufnahme sah die Mehrheit der Bevölkerung in den fremden Soldaten zunehmend eine Art Besatzungstruppe. Spätestens seit den gewalttätigen Hungerunruhen im Frühjahr 2008 wurde deutlich, dass die Regierung Preval ohne den Beistand durch die Blauhelmtruppen dem entfesselten Volkszorn kaum standgehalten hätte.
Der kollabierte Staat
Mit dem Erdbeben vom 12. Januar ist eine neue Situation entstanden. Heute handelt es sich nicht mehr um einen gescheiterten Staat, sondern um einen nahezu vollständig kollabierten Staat, dem nicht nur die geeigneten Personen, sondern auch der gesamte materielle Unterbau für ein Regierungsprogramm weg gebrochen ist.
Der in sich zusammengesackte Präsidentenpalast ist ein starkes Symbol für den augenblicklichen Zustand der haitianischen Regierung und ihrer Instanzen. Angesichts der Dimensionen der eingetretenen Katastrophe ist der aktuelle Präsident Preval mit seinem Kabinett rettungslos überfordert, als eigenständiger Akteur neben den zahlreichen internationalen Instanzen einen Plan für den erforderlichen Neubau des Landes zu entwerfen. Dies wäre nur vorstellbar, wenn die Regierung über die notwendige Verankerung in der Bevölkerung verfügte und in einem organischen Dialog mit ihren politischen und zivilgesellschaftlichen Vertretern die Entscheidungen über die nächsten Schritte treffen könnte. Von einer solchen Verankerung kann aber schon seit geraumer Zeit nicht die Rede sein. Der Dialog wird mit der internationalen Gebergemeinschaft geführt, das Land und seine verzweifelten Menschen werden mit Hilfe eines im April erklärten Ausnahmezustands verwaltet.
Autor: Ulrich Mercker
Exkurs: Die Republik des Eigentums
Die Revolution auf Haiti befreite die Sklaven und könnte daher, was die Freiheitsperspektive angeht, im Vergleich zu den Revolutionen in Europa oder Nordamerika allemal als avanciert gelten; doch die überwältigende Mehrheit der Republikaner des 18. und 19. Jahrhunderts lehnte die Haitianische Revolution nicht nur ab, sondern mühte sich nach Kräften, sie zu unterdrücken und ihre Auswirkungen einzudämmen. In den darauffolgenden zwei Jahrhunderten jedenfalls weigerten sich Historiker, Haiti ins Pantheon der großen republikanischen Revolutionen der Neuzeit aufzunehmen, und sogar die Erinnerung der Revolutionäre brachte man so zum Schweigen. Die Haitianische Revolution war aus Sicht der europäischen und amerikanischen Zeitgenossen ein unerhörtes Ereignis, im Wesentlichen zweifellos aufgrund der tief verwurzelten Ideologien und Institutionen rassistischer weißer Suprematie, aber zugleich ist erkennbar, dass diese Revolution nicht zuletzt deshalb unvorstellbar war, weil sie die Herrschaft des Eigentums missachtete. Ein schlichter logischer Schluß ist hier am Werk: Die Republik muss das Privateigentum verteidigen, Sklaven aber sind Privateigentum, deshalb ist die Republik verpflichtet, sich der Befreiung der Sklaven entgegenzustellen. Durch das Beispiel Haiti gerät der republikanische Schein, das Lob der Freiheit und Gleichheit, in direkten Konflikt mit der Herrschaft des Eigentums – und das Eigentum setzt sich schließlich durch. Der Ausschluss der Haitianischen Revolution aus dem republikanischen Kanon beweist nachdrücklich, wie heilig das Eigentum der Republik ist. Wenn Haiti, so ließe sich folgern, in der Reihe der republikanischen Revolutionen nicht genannt wird, geschieht das nicht deshalb, weil die Haitianische Revolution nicht dem republikanischen Geist entsprochen hätte, sondern im Gegenteil, weil die Republik selbst nicht an den Geist der Freiheit und Gleichheit heranreicht, der den Aufstand gegen die Sklaverei erfüllte.*
(aus: Michael Hardt, Antonio Negri. Common Wealth – Das Ende des Eigentums. Frankfurt/New York, 2010)