Was zählt, ist der demokratische Aufbruch

Syrien: Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Fawwas Traboulsi über die Perspektiven einer gefährdeten Revolution

22.03.2012   Lesezeit: 7 min

Fawwas Traboulsi gilt als eine Legende der libanesischen Linken: Zusammen mit anderen studentischen Aktivisten gründete er Anfang der 1970er Jahre, inspiriert durch den Pariser Mai 1968, mehr als eine Organisation der neuen Linken im Libanon. Seit 1997 lehrt Traboulsi Geschichte und Politik an der Lebanese American University in Beirut. Er publiziert regelmäßig zu arabischer Geschichte, Politik und sozialen Bewegungen. Seine Übersetzungen umfassen Arbeiten von Gramsci, Isaac Deutscher, Che Guevara und Edward Said. Ende Februar treffe ich den Mittsechziger im altehrwürdigen Hotel Bristol nahe der Hamra im westlichen Beirut, es gibt Tee und Gebäck. In der Ecke läuft ein libanesischer Fernsehkanal. Die Bilder aus Syrien bilden eine schier endlose Schleife: Flüchtlinge, Panzer, bewaffnete Gruppen und Rauchwolken über der Stadt Homs.

Wie blickt ein linker Intellektueller nach Syrien? Optimistisch oder pessimistisch?

Weder-noch: Ich bin traurig, wütend und sehe vor allem die menschliche Tragödie in Syrien. Längst geht es nicht mehr um das Regime, sondern um die Zukunft des Landes. Dennoch glaube ich, dass die Revolution in Syrien das Beste der Menschen und gleichzeitig alles Schlechte der Regimes dieser Region ans Tageslicht bringt.

Was sind für Sie die Gründe des Aufstandes?

Wir erleben jetzt die zweite Welle der arabischen Revolution. Längst haben die totalitären Regime unserer Region politisch und wirtschaftlich abgewirtschaftet. Im Jahr 2000 reformierte Bashar Assad, nachdem er die Nachfolge seines Vaters antrat, sofort den Finanz- und Wirtschaftssektor. Der alte Wohlfahrtsstaat, der weite Bereiche der Gesellschaft versorgte, wurde neoliberal dereguliert. Das Regime setzte auf Wirtschaftsreformen, um von der Demokratiefrage abzulenken. Der ehemalige Industrieminister, der noch heute ein enger Assad-Berater und übrigens ein ehemaliger Kommunist ist, sagte damals: Wir folgen dem chinesischen Modell, also wirtschaftliche Reformen ohne demokratische Freiheiten. Jetzt haben wir eine Verarmung ohne politische Freiheitsrechte. Vor einem Jahr waren mindestens 20 Prozent der syrischen Bevölkerung arbeitslos; jede dritte Familie, besonders in der ländlichen Peripherie, lebte unterhalb der Armutsgrenze.

Viele syrische Aktivisten in Beirut warnen vor einer Militärintervention. Sie befürchten die endgültige Zerstörung der syrischen Gesellschaft.

Ja sicher, aber das ist lediglich die politische Ebene der Debatte. Wenn auf Demonstrationen in Syrien nach Flugverbotszonen gerufen wird, dann ist das im eigentlichen Sinne keine politische Aussage, sondern hier fordern Menschen, die jeden Tag getötet werden könnten, ihr Recht auf Schutz ein. Ich kann der allgemeinen Erregung über eine drohende ausländische Intervention nicht viel abgewinnen. Meine Frage ist, wer interveniert tatsächlich und wofür? Die Amerikaner wollen, dass die Arabische Liga den Job macht, die wiederum auf eine Kompromisslösung im UN-Sicherheitsrat setzen. Die konservativen arabische Staaten, besonders die Saudis und die Emirate, sowie die USA verfolgen dieselbe Logik: Alle sind bereit, das Haupt des Regimes zu köpfen, wollen aber seine strukturelle Basis aufrechterhalten und einen auf die Armee gestützten, neoliberalen Staat. Sie favorisieren eine jemenitische Lösung, bei der der Präsident ersetzt wird, aber der Gewaltapparat weiter besteht. Aber Assad kann nicht einfach ausgewechselt werden, auf ihm basiert das gesamte System, und wenn er fällt, bricht auch der Apparat zusammen. Es ist pure Demagogie, wenn die Saudis die Opposition im Namen der Freiheit bewaffnen wollen. Bereits jetzt sind gut trainierte sunnitische Kämpfer in Syrien aktiv, die aus dem Irak kommen. Alle diese Tendenzen versprechen allenfalls eine weitere Eskalation. Fakt ist aber auch, dass weite Teile der Bevölkerung keinen Krieg wollen, von wem auch immer. Und sie werden auch nichts anderes als das Ende des Regimes akzeptieren. Wenn 49 Prozent in Syrien gegen Assad sind, dann hat dies mehr Aussagekraft als jene angeblichen 51 Prozent, die glauben, Assad könnte ihr Land aus der Krise führen. Auch das Verfassungsreferendum vom Februar war nur eine Phrase. Wenn man der Öffentlichkeit erzählt, dass dieses Referendum eine politische Lösung sei und derweil weiter diejenigen umbringen lässt, deren Protest es auslöste, dann ist die Intention des Regimes offensichtlich.

Warum geht es in Syrien so stark um externe Interessen und Einflüsse?

Das liegt an der geographischen Lage und der Politik des Regimes: Die Allianz mit dem Iran, die formale Feindschaft gegenüber Israel, dazu die Kooperation mit der schiitischen Hisbollah im Libanon, wodurch Syrien de facto die israelische Nordgrenze kontrolliert. Auch die USA werden davon beeinflusst. Als die Beobachter der Arabischen Liga ins Land kamen, fanden die heftigsten Angriffe auf die Widerstandsbewegung statt. Als die Bombardierung von Homs exzessive Züge annahm, behauptete Frau Clinton, dass sich Al Qaida-Kämpfer unter die syrische Opposition gemischt hätten. In meiner Lesart war das ein klares Misstrauensvotum gegen den Aufstand. Die Russen haben ihre eigene Agenda, sie interessieren sich ebenfalls nicht für die Menschen. Sie wollen ihre Marinebasis im syrischen Tartus behalten und misstrauen der US-amerikanischen Raketenabwehr in der Türkei. Die syrische Krise ist für sie auch ein Test, wie schwach die US-amerikanische Hegemonie tatsächlich ist, und wie eine neue imperiale Zukunft Russlands aussehen könnte. Alle diese externen Faktoren nutzen der syrischen Führung. Anders als vor einem Jahr haben wir heute einen internationalisierten Konflikt. Assad externalisiert die inneren Probleme, um die äußere Bedrohung als Argument für fehlende Reformen zu nutzen. Die Opposition ist schwach und ob die Exilvertreter wie behauptet für die Mehrheit all jener sprechen, die bei Demonstrationen im Land ihr Leben riskieren, ist fraglich.

Droht die Logik der Waffen und gewinnt die Religion an Einfluss?

Ja, die Militarisierung wird sich verschärfen. Richtig ist auch, dass die Bewegung überwiegend sunnitisch und damit muslimisch geprägt ist – wenngleich Aktivisten aus allen Konfessionsgruppen vertreten sind. Aber in erster Linie ist es eine soziale Bewegung der Armen. Sie kommt aus den ländlichen Gegenden und aus den vernachlässigten Vorstädten. Die Brutalität des Regimes stärkt das vorhandene Gewaltpotenzial innerhalb der radikalreligiösen islamischen Gruppen. Die Religiosität bekommt so innerhalb der Revolution eine neue Bedeutung: aber weniger, weil auch Syrien in religiösen Fragen konservativer geworden ist, sondern weil der offene Glaube auch eine Form der Freiheit und Zurückweisung des gewalttätig-säkularen Baath-Regimes darstellt. Der Staat propagiert zwar offiziell einen Laizismus. In Wahrheit aber bestimmt das Regime den Wert der Religionen über die alawitische Konfession des Präsidenten und seiner Familie. Syrien ist seit 1970 eine Diktatur, ein Einparteiensystem mit einem Alleinherrscher an der Spitze. Wir sollten daher aufhören, über den säkularen Charakter dieses Regimes zu reden.

Hat die neue Protestgeneration Verbindungen zu den alten Intellektuellen des „Damaszener Frühlings" aus dem Jahre 2000?

Nein, hier gibt es ein großes politisches Vakuum. Bis vor einem Jahr konnte sich keine wirkliche Opposition frei artikulieren. Der intellektuelle Nachhall des „Damaszener Frühlings“ blieb begrenzt, viele seiner Sprecher verschwanden im Gefängnis oder gingen ins Exil. Zwar gibt es in Syrien eine alte, wenn auch schwache kommunistische Strömung, aber deren Repräsentanten waren oftmals mehr oder weniger politische Alliierte der Baath-Partei. Sie werden von vielen jungen Aktivisten verachtet. Die sind keine Parteigänger mehr, sondern geniale Organisatoren von Demonstrationen, die wissen, wie man sich schützt, versteckt, verteidigt und sich gegenseitig hilft. Sie kommen aus allen Schichten und nutzen die neuen Medien. Ihre Bewegung ist antiautoritär nach innen, sie wollen nicht mehr gehorchen und lehnen jeden Zentralismus ab. Ihre Basis ist die gemeinsame Stimmung. Es gibt neue Stadtteilkomitees und Kulturinitiativen. Viele der Aktivisten sind junge Frauen, und gerade das ist völlig neu in Syrien. Wir erleben die Großartigkeit einer spontanen Erhebung mit allen Schwächen, die Spontaneität mit sich bringt. Es gibt keine hegemoniale politische Organisation mehr, die aktuellen Botschaften und Bilder sind ungefiltert und entspringen einer völlig neuen Medienkultur.

Wie sollten wir in Europa, die Linke und all jene, die den Eingriffsplänen des Westens aus guten Gründen misstrauen, über Syrien nachdenken?

Eine der letzten und schlechtesten Traditionen in der Linken ist noch immer, Diktatoren zu lieben und auf deren säkulare Rhetorik hereinzufallen. Als ich letztes Jahr an der Universität in Wien unterrichtete, bekam ich mit manchen linken Freunden öfters harten Streit. Sie bezeichneten Gaddafi als großen Reformer, der einen Sozialstaat aufgebaut habe und nannten Assad einen Antiimperialisten. Ich dagegen meine, Linke müssen sich zuallererst mit demokratischen Aufbrüchen solidarisieren, selbst wenn diese Bewegungen nicht von einem säkularen Konsens geprägt sind. Die Menschen fordern ja nicht allein eine bessere Zukunft, sie rebellieren auch gegen die monströse Moderne dieser Regime. Das galt für Ägypten, Tunesien, Jemen und gilt für Syrien. Es bleibt ein permanenter Kampf, der auch an der säkularen Front weitergehen wird. Das heißt auch gegen jene zukünftig aufzustehen, die die Macht wieder monopolisieren und die Repression auf religiöser oder kultureller Ebene installieren wollen. In Europa hattet ihr die 1848er Revolution, sie wurde bekanntlich von den Monarchisten gewonnen und ging trotzdem weiter.

Das Interview führte Martin Glasenapp


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