Der Boom von Kriminalliteratur und Fernsehkrimis ist eine ästhetische Verarbeitungsstrategie für die die zunehmende Gewaltförmigkeit globaler Verhältnisse, in denen sich kaum noch eine Insel der Glückseligen errichten lässt. So lange man den Täter findet, gibt es ein Außen, ein anderes, scheint noch Bewältigung möglich. Ähnliches gilt für die Hilfe. Das kollektive globale Wir, wenn auch ein vermachtetes Wir, schreibt ihr die Aufgabe zu, die strukturelle Gewalt und ihre Folgen so abzufedern, dass ihre Konsequenzen weniger schrecklich sind. Wenn die Hilfe schon nicht der Täter habhaft werden kann, soll sie wenigstens den Opfern helfen. Diese pragmatische und empathische Idee ist nach dem haitianischen Erdbeben am 9. Januar 2010 an ihr Ende gekommen. Und zwar auf viel dramatischere Weise als es das kollektive Gedächtnis dieser Welt zugeben will. Vielfach wurde die Hilfe nach dem Erdbeben als „humanitäres Nachbeben“ bezeichnet.
Das Erdbeben war eine der tödlichsten Katastrophen in der aufgezeichneten Geschichte humanitärer Katastrophen. Die Angaben zu den Opfern schwanken zwischen 65.000 und 316.000. Jede_r siebte Haitianer_in wurde obdachlos. Zeitweise gab es 1,5 Millionen interne Flüchtlinge.
Weltweit wurden 3,6 Milliarden Dollar gespendet, allein in den USA trotz hoher Arbeitslosigkeit 1,4 Milliarden. 80 Prozent der afro-amerikanischen Haushalte spendeten.
Auf einer Geber-Konferenz der UNO im März 2010 wurden 10 Milliarden Dollar Wiederaufbauhilfe versprochen, ausgezahlt wurden 6,43 Milliarden US-Dollar.
Es gibt also gute Gründe, sich mit der haitianischen Erfahrung noch einmal vertieft auseinanderzusetzen. Im Laufe dieses Jahres werden wir uns fragmentarisch und vor dem Hintergrund des unerhörten Scheiterns der internationalen Hilfe der Situation in Haiti in ihrer Exemplarität und Einzigartigkeit annähern. Es geht nicht um Eindeutigkeit, sondern um die Vielstimmigkeit in der Spiegelung dieser Erfahrung.
Als erstes kommt der US-amerikanische Aktivist und Anthropologe Mark Schuller zu Wort. Das hat gute Gründe. Denn die Idee dieser Reihe besteht darin, an der haitianischen Erfahrung auch und zuallerst unseren, vielfach kolonial geprägten Blick zu verstehen. Die US-amerikanische Perspektive ist dabei von besonderem Belang, weshalb der Anthropologe Mark Schuller immer mit der Geschichte US-amerikanischer Besatzungen und Interventionen im Gepäck auf die aktuelle Entwicklung schaut.
Die historischen Gründe für die US-Interventionen liegen auf der Hand. Nachdem sich die haitianischen Sklav_innen im Zuge der französischen Revolution 1804 selbst befreiten – ein großer Teil von ihnen hatte die eigene Versklavung und Verbringung nach Amerika noch am eigenen Leib erlebt – wachten die USA mit Argusaugen über die Entwicklung der befreiten Sklav_innenrepublik. Ihre ökonomischen Chancen waren ohnehin gering, denn die Franzosen hatten einen ersten obszönen Schuldendeal mit den Aufständischen ausgehandelt, der bis heute ein denkwürdiges koloniales Zeichen darstellt. Haiti verpflichtete sich damals im Gegenzug zur Unabhängigkeit den potentiellen Gewinn aus entgangener Sklav_innenarbeit an Frankreich zurückzuzahlen. Damit blieb Haiti mit unsichtbaren Ketten an die ehemalige Kolonialmacht gefesselt. Das wiederum rief den großen Nachbarn auf den Plan. Einer der Gründe für den Einmarsch US-amerikanischer Truppen in Haiti im Sommer 1915 war die Befürchtung, Haiti könne über diese Abhängigkeit zu einem europäischen Vorposten werden. 19 Jahre dauerte die Besatzung, keine andere Kanonenbootpolitik der USA gegenüber Lateinamerika währte so lange.
Hinterher rechtfertigte man sich dafür, dass die US-Besatzung immerhin erhebliche Fortschritte für die Infrastruktur gebracht hätte: nämlich Straßenbau und Elektrifizierung. Ein Jahr später wurde auch die benachbarte dominikanische Republik von den US-Amerikanern besetzt. Der Chef der Mission in Haiti und der Dominikanischen Republik, Marinekorps-General Smedley Butler, legte später ein mea culpa ab. General Butler schrieb in der Zeitung Common Sense, dass er 33 Jahre lang als ein „hochklassiger Muskelprotz für das Big Business“ und als ein „Gangster für den Kapitalismus“ unterwegs gewesen sei. „Ich half, damit Haiti ein anständiger Platz für die Jungs von National City Bank wird.“ Und „ich brachte Strom in die Dominikanische Republik für die amerikanischen Zuckerinteressen.“ Der Besatzung folgten viele weitere militärische Interventionen der USA, ergänzt von zivilen Einsätzen evangelikaler Gruppen, die mit der letzten US-Intervention 1994 ihren bis heute anhaltenden Höhepunkt erreichte.
Vor diesem Hintergrund spricht Mark Schuller, der sich als Anthropologe seit Jahrzehnten mit Haiti beschäftigt, ausgezeichnet Kreol beherrscht und lange vor dem Erbeben anthropologische Studien in Haiti unternommen hat. Seine ausgezeichneten Kenntnisse über Haiti und seine Netzwerke in Haiti ließen ihn auch in der Zeit nach dem Erdbeben einen besonderen Einblick in die Folgen der Katastrophe gewinnen.
medico: Welche Lehren ziehen Sie heute aus der Erfahrung des haitianischen Erdbebens und der internationalen Hilfsbemühungen?
Mark Schuller: Die internationale Hilfe hat nach dem Erdbeben vorhandene soziale Netzwerke und soziale Institutionen, die Tradition des Teilens und den Zusammenhalt der Familien zerstört. Die humanitäre Hilfe hegt kulturelle Annahmen und ist eingebettet in eine Weltsicht, die überwunden werden muss, wenn man nicht immer wieder dieselben Fehler machen will. Dazu zählt insbesondere die Neigung, alles kontrollieren zu wollen. Für mich ist Haiti das Waterloo des NGO-Systems. Vorher galten die Nichtregierungsorganisationen als eine Art Zauberformel, um Probleme zu lösen. Man dachte, sie seien näher an den Menschen, eben nicht verknüpft mit Macht und Regierung, und leichter zur Rechenschaft zu ziehen. Aber die Erfahrungen in Haiti haben ein für alle Mal deutlich gemacht, dass wir eine lokale Regierung brauchen, die in der Lage ist die Prioritäten zu setzen.
Woran machen Sie das Scheitern konkret fest?
Nach dem Erdbeben wurde die gesamte humanitäre Hilfe über sogenannte Cluster abgewickelt. Die meisten Cluster-Treffen fanden im UN-Compound am Flughafen von Port-au-Prince statt, der faktisch ein UN-Militärstützpunkt war. Haitianer_innen hatten dort keinen Zutritt, selbst Mitglieder der haitianischen Regierung nicht. Ich als Weißer musste dagegen nicht mal meinen Pass zeigen, um hinein zu kommen. Die Treffen fanden auf Englisch statt, was bekanntlich keine offizielle Sprache in Haiti ist.
Es gab nur eine Ausnahme: das Wasser- und Hygiene-Cluster. Es tagte außerhalb des UN-Compounds im Rathaus der Metropolen-Region von Port-au-Prince. Die Clustersprache war Französisch. Den Vorsitz hatte eine haitianische staatliche Institution, das Dinepa. Die spanische Regierung finanzierte die Institution direkt, weil sie schon zuvor mit ihr eng zusammengearbeitet hatte. Es war das erfolgreichste Cluster.
Ich habe mich in der Berichterstattung über Haiti immer gehütet, die haitianische Regierung zu sehr anzugreifen, weil die Beschuldigung der haitianischen Elite schon lange zu einer Figur der eigenen westlichen Entlastung von Verantwortung geworden ist. Aber kann man das Versagen der haitianische Regierung und Elite einfach außen vor lassen?
Zumindest muss man sehr vorsichtig sein und den globalen Diskurskontext berücksichtigen. Die Regierung zu kritisieren ist Aufgabe haitianischer Organisationen wie der Menschenrechtsorganisation RNDDH zum Beispiel. Die internationale Kritik an der Regierung hingegen wiederholt immer dieselben Argumentationsfiguren. Sie macht die Regierung dort verantwortlich, wo sie keine Handlungsmöglichkeit hatte. Die haitianische Regierung wurde nach dem Erdbeben komplett vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Als dann die ersten Schwierigkeiten in der Bewältigung der Katastrophe auftauchten, wurde trotzdem die haitianische Regierung dafür verantwortlich gemacht.
Die UNO beschäftigte sich 2012 mit humanitären Katastrophen im urbanen Umfeld. Dabei wurde auch die haitianische Erfahrung kritisch reflektiert und in Bezug zu städtischen Krisensituationen wie im Gaza-Streifen oder in Flüchtlingslagern in Darfur gesetzt. Aber zentrale Begriffe waren einmal mehr Zugang und Kontrolle und nicht die Wiederherstellung von Regierungsfähigkeit und Selbstermächtigung. Aus dem Scheitern in Haiti wird so nichts gelernt.
Zum Teil waren die Lager mit Flaggen der jeweiligen unterstützenden Länder dekoriert. Haiti-Hilfe war zum Wettbewerb der Nationen geworden.
Das stimmt. Aber die schlimmsten Folgen hatte das Eingreifen der US-amerikanischen Regierung, die vor allen Dingen ihre eigenen Interessen im Blick hatte. Gegenüber Haiti sind die USA der Hegemon. Im Vergleich dazu war die Situation beim Tsunami 2005 in Aceh, Indonesien, viel besser und damit auch die Hilfe erfolgreicher. Es gab eine handlungsfähige Regierung und es gab diverse regionale Mächte wie Japan, China oder Australien, die geholfen haben. Sie verhinderten, dass die USA allein bestimmten. Nach der haitianischen Erfahrung muss man festhalten, dass die Hilfe die Widerspiegelung des Kolonialismus und eine postkoloniale Zeitbombe darstellt.
Wie kann man die kulturellen Annahmen und die Neigung zur Kontrolle der internationalen NGOs überwinden?
Die erste Frage lautet, gegenüber wem man rechenschaftspflichtig ist? Gegenüber den Menschen und Gemeinden, die sich in einer Notsituation befinden? Oder gegenüber den Geldgebern? Wir von der solidarischen, aktivistischen Seite haben mit den kritischen Nachfragen über den Verbleib der Gelder womöglich dazu beigetragen, dass man die Wirksamkeit von Projekten heute mit dieser Flut von Beweisfotos zeigen muss. Projekte müssen heute eine hohe Visibilität aufweisen, um zu zeigen, dass „wir den Job gut erledigen“. Diese photogenen Projekte sind Ausdruck des Teufelskreises, in dem sich die humanitäre Hilfe befindet. Mit weitaus weniger Geld hätten wir mehr nachhaltige und entwickelnde Hilfe leisten können, wenn dieses falsche Konzept der Visibilität nicht vorliegen würde. Nach dem Erdbeben hat man Wasser in die Lager gekarrt und die wartenden Menschen in der Schlange fotografiert. Es wäre besser gewesen, die Wasserleitungen zu reparieren. Das ist aber nicht so fotogen. Hinzu kam noch eine Tabula-Rasa-Mentalität. Viele hatten diese Haltung. Sie taten so, als würde in Haiti überhaupt nichts vorliegen, an das man anknüpfen könnte, als wäre es nur darum gegangen, leere Mäuler zu stopfen. Das war eine vielfach anzutreffende Haltung der Hilfe und das ist eine teure Haltung. Diese Lehre ist immer noch nicht verstanden worden.
Es war eine außergewöhnliche Katastrophe, die sich schwer mit anderen vergleichen lässt, weil ein großer Teil der in der Hauptstadt konzentrierten Infrastruktur zerstört wurde. War eine Hilfe von außen mit alle ihren Maschinen dennoch unnötig?
Sie war nötig. Aber die Hilfe hätte die Werkzeuge zur Verfügung stellen müssen und die haitianischen Behörden hätten sagen müssen, wo sie eingesetzt werden sollen. Stattdessen hieß es sinngemäß: „Geh aus dem Weg, ich weiß es besser.“ So haben die Haitianer_innen die Maßnahmen der UNO und der Hilfe erlebt. Damit wurde ein Zeichen gesetzt und eine Erwartung geweckt. Wenn man ernsthaft die Haitianer_innen hätte dabei haben wollen, hätte man die Regierung handlungsfähig machen müssen, hätte eine haitianische Sprache zur Verständigungssprache gewählt und für die Sichtbarkeit haitianischer Akteur_innen gesorgt.
Wenn die internationale Hilfe sinnvoll arbeiten will, muss sie sich ernsthaft mit den Folgen des eigenen Tuns auseinandersetzen. In Myanmar hatte die damalige Militärdiktatur nach dem Zyklon Nargis, der ebenfalls hunderttausende Opfer forderte, keine Hilfe hineingelassen. Es wäre wert zu untersuchen, wie groß der Unterschied zwischen Haiti, das von Hilfe überschwemmt wurde, und Myanmar ohne äußere Hilfe heute ist. Hier würde eine ernsthafte Diskussion beginnen.
Die heutige Tendenz des internationalen Hilfsbusiness, die Regierungen zu umgehen, muss in Frage gestellt werden. Wie man mit Regierungen zusammenarbeitet, wie man sie rechenschaftspflichtig hält, ist dann eine andere Frage.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der haitianischen Regierung heute, die unter anderem die ausländische Finanzierung der Zivilgesellschaft einschränken will?
Die haitianische Regierung hätte dafür keine Unterstützung, wenn wir 2010 nicht so versagt hätten. Ich denke, dass die haitianische Regierung das Recht haben muss, die Prioritäten zu setzen. Bei der Projektabwicklung gibt es viel Verhandlungsspielraum und Überprüfungsmöglichkeiten, die ausländische Geldgeber nutzen könnten.
China spielt auch in der Entwicklungshilfe eine immer größere Rolle. Die Chinesen machen keine politischen Auflagen und sind deshalb gern gesehene Geldgeber. Ein Problem?
Ganz ehrlich, wo ist es einer Nord-NGO gelungen, erfolgreich einem Land aus dem Süden die Menschenrechte als politisches Grundprinzip zu vermitteln? Nach jeder Wahl in den USA werden Haushaltskürzungen gerade im entwicklungspolitischen Bereich vorgenommen. Sie werden dann noch menschenrechtlich begründet. Es ist einfach zu viel Heuchelei im westlichen Menschenrechtsdiskurs. Ich denke, haitianische Politiker_innen sind sich sehr bewusst, dass auch chinesische Gelder ihren politischen Preis haben. Die Chinesen verfolgen ganz eigene Ziele. Die Hilfe, die sie geben, soll nicht wie Hilfe aussehen, nicht mal wie Kapitalismus. Der politische Preis: Sie wollen zum Beispiel, dass die Haitianer die Anerkennung von Taiwan rückgängig machen.
Auch die Petro-Dollar aus Venezuela sind keine Erfolgsgeschichte. Es gab keine Konditionen, wie die Gelder verwendet werden. Heute demonstrieren Abertausende in Haiti zu Recht gegen die Politik und die Geschäftswelt, die sich einen Gutteil dieser Gelder einverleibt hat.
Wo liegen Auswege?
Jedenfalls nicht darin, immer wieder die gleichen Vertreter_innen der Zivilgesellschaft zu unterstützen. Wie alle anderen fortschrittlichen Netzwerke hat auch medico sicher die Leute unterstützt, die ich alle namentlich aufzählen könnte. (Ich habe es überprüft, es stimmt. K. M.) Es gibt einfach gar keine neue Idee. Diese progressiven Netzwerke aus Großbritannien oder Frankreich haben versucht, europäische Politik in Haiti voranzutreiben. Sie unterstützten dabei Organisationen, die im Zuge des Kampfes gegen Duvalier entstanden sind und die 1986 für seinen Sturz gesorgt haben. Aber in den Augen der jungen Leute heute sind diese 86er am Aufbau eines demokratischen Haitis gescheitert. Deshalb ist es jetzt Zeit, anderen eine Chance zu geben. Ihr fahrt vielleicht einmal im Jahr nach Haiti. Ihr könnt gar nichts anderes machen, als euch auf die Leute zu stützen, die ihr ohnehin kennt. So reproduziert sich die ausweglose Situation.
Epilog
Das Gespräch mit Mark Schuller entstand in einem lauten Chicagoer Café. Es lag nicht am Getöse der Kaffeemaschinen, dass sich der Anthropologe beharrlich weigerte, konkrete Gegenvorschläge zu machen. Für seine sehr schmerzhafte Eingangsthese, viele NGOs hätten mit ihrer Tabula-Rasa-Mentalität vorhandene solidarische Strukturen zerstört, hat er eine Menge empirischer Belege in seinen beiden Bücher über Haiti gesammelt: "Humanitarian Aftershocks in Haiti", erschienen 2016 und "Killing with Kindness: Haiti, International Aid and NGOs", erschienen 2012.
Das Interview führte Katja Maurer.