von Usche Merk
Im Zentrum der Hauptstadt Freetown, inmitten eines hektischen Verkehrsknotenpunkts, an dessen Rändern zahlreiche Bettler auf Almosen hoffen, steht der mächtige Cotton Tree. Selbst das Wahrzeichen der Stadt ist Ergebnis einer Gewaltgeschichte: Nachdem die westafrikanische Küste Zeuge von Millionen verschleppter Sklaven über Jahrhunderte wurde, die den europäischen Kolonialmächten zu sagenhaftem Reichtum verhalf, besannen sich Ende des 18. Jahrhunderts einige britische Sklavereigegner und schickten rund 1.000 Afrikaner zurück „in ihre Heimat“.
1792 gründeten die „Befreiten“ die Stadt Freetown und pflanzten an der Gründungsstelle den Cotton Tree. Dieser hat bis heute überlebt. Die seinerzeitigen Ankömmlinge aber waren bereits ein Jahr später tot. Sie starben an Tropenkrankheiten, aber auch durch Feindseligkeiten der lokalen Bevölkerung, die den mit kolonialer Hilfe Neueingewanderten nicht trauten.
Direkt neben dem Cotton Tree befindet sich seit einigen Jahren ein kleiner Park, den ich im Januar 2014 gemeinsam mit lokalen Projektpartnern besuche. Es ist ein Ort der Erinnerung. Riesige Skulpturen und Wandreliefe konfrontieren den Besucher unmittelbar mit der von Gewalt geprägten Geschichte des Landes, einer Gewalt, die ihre Ursache immer wieder in Europa hatte. Die Werke erzählen von Sklaverei und Kolonisation, aber auch von Aufstand und Widerstand, von Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg, sei es im 18., 19., 20. oder 21. Jahrhundert.
Das heutige Sierra Leone ist noch immer tief von dem von 1991 bis 2002 andauernden Bürgerkrieg gezeichnet, einem der blutigsten postkolonialen Konflikte in Westafrika. Hauptursache waren politische Machtkämpfe, Korruption und ein von internationalen Wirtschaftsunternehmen dominierter Wirtschaftssektor, der sich im Zusammenspiel mit der Regierung an den heimischen Rohstoffen bereicherte, während es der Bevölkerung am Nötigsten fehlte.
Elf Jahre Krieg, finanziert durch „Blutdiamanten“, die in Europa die ewige Liebe schmücken, hinterließen ein Land, in dem Männer, die in ihrer Kindheit als Killer missbraucht wurden, nach einem zivilen Leben suchen, und in dem Frauen, die nichts als sexuelle Gewalt erlebten, darum kämpfen, ihre Kinder lieben zu können. Der Überlebenskampf in einem der ärmsten Länder der Welt lässt nur wenig Zeit, zu trauern, Abschied zu nehmen, der Toten und vielen Verluste zu gedenken. Der Schmerz aus Jahrhunderten wird weitergetragen, mal mehr, mal weniger sichtbar.
Direkt nach dem Krieg wurden eine schnell durchgeführte Wahrheits- und Versöhnungskommission und ein Strafgerichtshof zur juristischen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen eingesetzt. Um auch in Zukunft der Erinnerung an das Leid Orte zu geben, haben sich einige Künstlern und Journalisten zur „Memorial Working Group“ zusammengeschlossen. Unterstützt von medico, hat diese in mehreren Gemeinden dezentrale Gedenkveranstaltungen und -stätten initiiert.
Die "Working Group" hat auch eine Ausschreibung für die Gestaltung eines Friedensdenkmals auf dem ehemaligen Gelände des Strafgerichtshofes in Freetown gewonnen. Hier entsteht aktuell ein Memorial Garden, ein Raum der Begegnung, der Zeremonien, der Erzählungen, den die Menschen selbst gestalten können. Er geht von den Bäumen als Zeugen der Vergangenheit aus, in deren Schatten man sich trifft. Und er verbindet alte spirituelle Rituale wie Reinigungszeremonien mit neuen Formen der Erinnerung. So schreiben Menschen die Namen von Angehörigen, die sie im Kriege verloren haben, auf weiße Bänder, und hängen diese in die Bäume. Sie greifen damit eine Form auf, mit der Migranten seit einigen Jahren derer gedenken, die bei dem Versuch nach Europa zu gelangen, im Mittelmeer ertrunken sind.
Die Übernahme dieses Symbols ist kein Zufall. Denn auch viele Sierra Leoner versuchten dem Bürgerkrieg durch Flucht in die Nachbarländer zu entkommen, einigen gelang auch die Flucht nach Deutschland. Dort wurden sie über viele Jahre nur geduldet, lebten ohne Rechte, Arbeitsmöglichkeiten und Zukunft. Wenige Jahre nach Ende des Bürgerkriegs beschlossen die deutschen Behörden, dass die Aufenthaltsduldung nicht mehr nötig sei und schoben die Flüchtlinge rücksichtslos und teils mit roher Gewalt nach Sierra Leone ab. Einige hatten über zehn Jahre in Deutschland gelebt, mussten Kinder hinterlassen, Freundschaften, Zukunftsträume. In Sierra Leone wurden sie von ihren Familien und Gemeinden mit Feindseligkeit und Ablehnung empfangen – denn man unterstellte den Abgeschobenen, dass sie kriminell geworden und daher zurückgeschickt wurden.
Einige gründeten daher die Selbsthilfegruppe Network of Ex-Asylum Seekers Sierra Leone, kurz NEAS, die seit ihrer Gründung 2011 von medico unterstützt wird. Wieder ging es darum, die eigene Geschichte zu erzählen, mindestens Verständnis für die Situation und ihren Schmerz zu wecken. Die Mitglieder von NEAS begannen, öffentliche Veranstaltungen zu organisieren, in Radioprogrammen ihre Geschichte zu erzählen und ein Theaterstück zu entwickeln. Daraus machten sie einen Film, den sie nun mitten auf der Straße, an öffentlichen Plätzen und Orten zeigen, um mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen und über die Migrationspolitik Europas zu diskutieren, deren Opfer sie geworden sind.
Mein Besuch bei NEAS löste Freude und Trauer zugleich aus: Anerkennung für unsere Unterstützung, die es ermöglicht hat, ihr Leid der Unsichtbarkeit zu entreißen, Trauer über das verlorene Leben in Deutschland. Sie geben mir Geschenke und Briefe für ihre Kinder mit, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben.
Der gewalttätige Raubbau des Landes geht indes weiter. Das zeigt sich bei den nächsten Projektpartnern, der Menschenrechtsorganisation Network Movement for Justice and Development (NMJD). Sie erzählen, dass seit Kriegsende die Zahl der Bergbauunternehmen stetig angewachsen ist. In der Diamantenprovinz Kono hat sich die Produktivität der Minenfirmen um 200 Prozent erhöht, während die Anzahl der Jobs für Sierra Leoner nur um drei Prozent gestiegen ist. Die Firmen werden kaum kontrolliert und zahlen lächerlich geringe Steuern.
Weil die Diamanten inzwischen nur noch unterirdisch mit Hilfe von Sprengungen abgebaut werden können und die Mehrzahl der noch vorhandenen Vorkommen unter der Stadt Koidu liegen, wird die ansässige Bevölkerung systematisch umgesiedelt oder vertrieben. Wegen der Sprengungen muss die lokale Bevölkerung regelmäßig ihre Häuser verlassen, viele Gebäude haben inzwischen Risse, Menschen wurden durch heruntergefallene Steinbrocken verletzt, ein 13jähriger verlor sogar seine Hand.
Die Ausbeutung des Landes beschränkt sich indes längst nicht mehr auf Diamanten. Investoren aus aller Welt bauen in dem rohstoffreichen Land das Mineral Rutil ab, fördern Öl und andere auf den Weltmärkten nachgefragte Rohstoffe. Hinzu kommt die drastische Zunahme des „Land grabbing“, also die großflächige Aneignung von Land durch ausländische Konzerne und Investoren, auf dem für den Export produziert wird.
Gegen diese Willkür und die Vertreibungen kämpft NMJD mithilfe von Rechtsberatungsbüros. Doch die Regierung unternimmt nichts gegen die Menschenrechtsverletzungen und die systematische Ausbeutung des Landes. Gleichzeitig wächst die Macht der multinationalen Unternehmen. Das in Koidu operierende Bergbauunternehmen Octea Mining Company gehört zu riesigen Investorengruppen wie der BSG, die inzwischen auch wesentliche Anteile an der Karstadtgruppe in Deutschland übernommen hat.
So geht die unendliche Geschichte von Gewalt, Ausbeutung und Leid in Sierra Leone weiter. Eine Geschichte, die untrennbar mit dem Einfluss Europas verflochten ist. Die Erinnerungsgärten geben ihr einen Ort, weiße Bänder eine Sichtbarkeit. Doch wo wird hierzulande von all dem erzählt und dem Unrecht gedacht?