Martina Doering ist Politikredakteurin der Berliner Zeitung. Mitte Juli hatte sie Gelegenheit die pakistanische medico-Partnerorganisation HANDS mehrere Tage zu begleiten. Ihre Reportage erschien anlässlich des Jahrestages der großen Flut von 2010 auch in der Frankfurter Rundschau.
Das Wasser kam schmatzend, gurgelnd, mit dumpfem Grollen. Und es kam schnell. Es regnete schon seit Tagen. Der Pegel des Indus stieg, am Oberlauf hatte der Strom schon ganze Landstriche überschwemmt. Doch die Familien in Darri, einem kleinen Dorf im Kreis Kashmore im äußersten Nordzipfel der Provinz Sindh fühlten sich sicher. Dann aber brach im Morgengrauen der Deich.
Noor Hassan, der Töpfer, seine Frau und ihre drei Kinder konnten sich retten, sie konnten ein bisschen Geld und ein paar Habseligkeiten in Sicherheit bringen. Hausrat, Viehzeug und auch die Töpferscheibe blieben zurück. Über zwei Monate haben sie auf dem Mittelstreifen einer Straße in der 13 Kilometer entfernten Kreisstadt campiert.
Glück im Unglück
Ein Jahr ist das her. Jetzt sitzt Noor Hassan vor seinem neuen Steinhaus, packt einen Klumpen Lehm auf die Töpferscheibe, legt die Hände darum und dreht einen bauchigen Krug. Die Töpferscheibe steht in einer Grube, der 45Jährige sitzt auf dem Rand und bringt mit einem Fußpedal die Scheibe in Schwung. Sein Haar ist grau, das Gesicht zerfurcht, die Hände sind rissig. Seine Frau verziert die Krüge mit stilisierten Blütenblättern. 25 bis 30 Stück schaffe er am Tag, sagt Noor Hassan, für zehn Rupien je Krug.
Die Leute aus dem Dorf quittieren seine Antwort mit erstauntem Murmeln. Zehn Rupien - nicht einmal zehn Eurocent - sind für sie ziemlich viel Geld. Die Aufmerksamkeit ist dem Töpfer unangenehm. Er stoppt die Töpferscheibe, klettert aus der Grube, stellt sich stocksteif hin und erklärt, das Wasser habe seinen Lehmberg hinterm Dorf weggespült, er müsse den Rohstoff jetzt kaufen und hierher transportieren. Das koste. Außerdem bekämen manche Gefäße beim Trocknen Sprünge. Allerdings finde die Ausschussware jetzt eine gute Verwendung, fährt Noor Hassan fort und zeigt auf ein Gebilde auf dem Platz vor seinem Haus, das fast wie ein Kunstwerk aussieht. Dort sind kaputte Krüge, in Beton gefasst, zu einer spiralförmigen Mauer um eine Pumpe aufgetürmt: Es ist der neue Waschplatz für Frauen und Kinder.
Auf dieses Badehaus ist der Töpfer genauso stolz wie auf sein neues Haus. In einem Zimmer stehen eine Blechtruhe und ein Bettgestell, in der Ecke liegen Decken. Im zweiten Zimmer sind Töpfe, Becher und Tassen in einem groben Holzregal aufgereiht. Auch die Nachbarn haben wieder ein Dach über dem Kopf. Die Moschee ist repariert, und es gibt sogar ein kleines Gemeindehaus. Die Bewohner von Darri hatten Glück.
Noor Hassan nennt es Gottes Willen. Im gleichen Atemzug erwähnt er HANDS. Die Health and Nutrition Development Society ist eines der größten pakistanischen Hilfswerke. Die 1979 von jungen Ärzten gegründete Organisation ist von der Regierung unabhängig und arbeitet vor allem in der Provinz Sindh. Unterstützt wird HANDS von Einheimischen, aber auch von ausländischen Organisationen, zum Beispiel der deutschen medico international.
HANDS und medico international wollen den Leuten nicht nur Häuser bauen, ein paar Pumpen schenken und dann als Glücksbringer ins nächste Dorf weiterziehen. „Die Flutopfer bekommen Unterstützung, aber sie müssen sich auch selber helfen“, erklärt Murtaza Noonari. Er ist mit 27 Jahren einer der jüngsten Mitarbeiter des pakistanischen Hilfswerks und Programm-Manager, also Chef all seiner Projekte in diesem Kreis.
Murtaza Noonari hat ständig zwei Telefone am Ohr, er witzelt über die Geheimdienstler, die dem Auto folgen und er erzählt auf dem Weg von einem Dorf zum nächsten, dass er zu Pakistans junger, noch nicht allzu starker Partei der Grünen gehört. Zwischen zwei Telefonaten erklärt er die Arbeitsweise von HANDS: „Die Dorfbewohner wählen einen Dorfrat und entscheiden gemeinsam, was sie am dringendsten brauchen. Jede Familie muss zehn Prozent der Kosten ihres neuen Hauses übernehmen. Sie arbeiten mit oder geben Geld.” Dieses Beteiligungsprinzip, sagt er, gelte auch für die Gemeindebauten, ob Moschee oder Versammlungshaus.
Noor Hassan und sein Dorf hatten also nicht nur Glück, und sie haben auch Gottes Willen nicht allzu sehr strapaziert: Sie haben mit angepackt. HANDS hat inzwischen 35.000 Häuser in den Flutgebieten gebaut, Fischer haben neue Boote bekommen, 3.500 mobile Medizinteams sind im Einsatz und 16 Modelldörfer wurden errichtet.
Ismael Mirjat ist eines davon. Rund 60 Häuser stehen in vier Reihen, mit je einem Raum sowie einem Kochverschlag und einem Klohäuschen. Kitschige Säulen tragen Vordächer, um die sengende Sonne abzuhalten. Im Gesundheitszentrum sitzt Sarina Karim an einem Tisch mit Medizinflaschen, Tablettenpäckchen und einem Blutdruckmesser. Durchfall, Fieber, Bluthochdruck - das alles kann die runzlige Frau behandeln. Schwere Fälle, sagt sie, schickt sie per Eselkarren zum Arzt in die Stadt. Dorfrat-Chef Ismail Mirjat zeigt eine Nähstube und schließlich seinen neuen Eselskarren, mit dem er Holz sammelt, das er in der Stadt verkauft - und manchmal eben auch Patienten transportiert. „Früher hatten wir nur Bretterverschläge, keine Latrinen, kein Gesundheitszentrum. Heute geht es uns besser als vor der Flut“, sagt er.
„Doch unsere Ressourcen sind begrenzt“, sagt Noonari. „Allen können wir nicht helfen. Die Zerstörungen waren einfach zu gewaltig.” Mit seiner Arbeit in Sindh steht das Hilfswerk ziemlich alleine da. Während sich im Norden des Landes die internationalen Organisationen drängen, machen sie sich in dieser Gegend rar. Denn die Bewohner hier zeigen keine Sympathien für die Taliban, und die ausländischen Hilfsunternehmen engagieren sich nun einmal dort am stärksten, wo ihre Regierungen den Einfluss der religiösen Extremisten zurückdrängen wollen: in den Grenzgebieten zu Afghanistan etwa. Die Pakistani dort sollen den Westen schätzen lernen und ihre Taliban-Sympathien begraben.
Die Frage des Eigentums
Das Dorf Patel Allahdenu gehört zu den Ansiedlungen im Kreis Kashmore, die Pech haben. Dort setzten HANDS und medico nur die Schule instand. Murtaza Noonari will aber auch dieses Dorf zeigen. Auf einer öden Fläche sind ein paar Zelte und Bretterverschläge verteilt, der Wind wirbelt Sand auf, es wächst kein Baum und kein Strauch. Die Sonne brennt. Dann taucht Frau Papu auf, im Schlepp ein paar Kinder. Sie strebt einem der offenen Verschläge zu und winkt, ihr zu folgen. Das ist ihr Heim: Eine zwischen Holzpfählen gespannte Plane, unter der ein eisernes Bettgestell steht, auf der Erde sind Töpfe gestapelt. Frau Papu überlegt lange, was sie auf die Frage nach ihrem Alter und der Zahl ihrer Kinder antworten soll. „Fünfzig vielleicht“, sagt sie, „und sieben Kinder.” Die Halbwüchsigen würden wie die Männer des Ortes auf den Feldern des Grundbesitzers arbeiten. Letztes Jahr habe dieser zwar die Abgaben erlassen, nun aber müssten sie wieder liefern: Wer sein Saatgut vom Landbesitzer bekam, muss ihm 75 Prozent der Ernte bringen. Niemand hilft uns, klagt Frau Papu. Dann legt sie los: Sie bräuchten Häuser, Wasserpumpen, Saatgut, Ackergerät, Brunnen. Es klingt wie eine Bestellung.
Murtaza Noonari schweigt, verspricht nichts und erklärt auf der Fahrt in die Stadt, warum Patel Allahdenu wohl nie als Modelldorf ausgewählt wird: Die Eigentumsverhältnisse des Bodens, auf dem die Zelte stünden, seien ungeklärt. Die Dorfgemeinschaft konnte sich nicht auf einen Dorfrat einigen. „Über die Wahl eines Frauenrates haben sie nicht einmal nachgedacht“, sagt er. Sie hofften nun, dass ihnen die Behörden helfen oder eben Gott, sagt er noch und verzieht den Mund. Die Chancen dafür, soll das wohl heißen, stehen eher schlecht.
Die für Patel Allahdenu zuständigen Behörden sitzen in Kandhkot. Dort wartet Nisar Channar von der Desaster Management Authority, einem Büro, das für die Bewältigung der Flutkatastrophe zuständig ist. Dunkler Bart und kurzes Haar, strenger Blick und abweisende Miene - Nisar Channar bestätigt auf den ersten Blick alle Klischees, die man von einem pakistanischen Gotteskrieger haben mag.
Der Beamte reagiert anfangs auf jede Frage, als sei sie ein Angriff auf die Integrität seines Landes - und zählt erst einmal alles auf, was die Regierung geleistet hat: 60 Prozent der Straßen seien repariert, 70 Prozent der Telefon- und Stromleitungen. Doch plötzlich legt er seine beleidigte Attitüde ab: „Das Ausmaß dieser Katastrophe“, sagt er, „hätte wohl jede Regierung überfordert. Nach ersten Startschwierigkeiten haben die Behörden alles getan, was in ihrer Macht stand.” Nisar Channar weiß um das schlechte Image seines Landes. Der 38-Jährige antwortet jetzt auf Fragen, die ihm gar nicht gestellt sind. „Bisher ist kein Skandal bekannt geworden, dass Spendengelder veruntreut wurden, die Armee ist wieder zurück in den Kasernen, die Taliban haben vom Elend der Menschen nicht profitiert“, sagt er. „Wir wissen, dass sich viele Leute darüber beklagen, dass sie das von der Regierung versprochene Geld noch nicht erhalten haben.” Er meint die sogenannte Watan-Card, mit der jede von der Flut betroffene Familie 20.000 Rupien (umgerechnet 160 Euro) erhalten sollte. Die meisten haben erst einen Bruchteil dieser Summe bekommen. Dann wendet er sich um Zustimmung heischend an Murtaza Noonari, den Mitarbeiter von HANDS: „Wir haben die Hilfsorganisationen vorbehaltlos unterstützt.”
„Zumindest haben sie uns nicht behindert“, sagt Murtaza Noonari nach dem Gespräch vor der Tür. Er räumt ein, dass die Zusammenarbeit gut funktioniert hat. Erst neuerdings machten Provinzbeamte, Polizei und Geheimdienstler wieder Schwierigkeiten, vor allem wenn er mit Besuchern käme. Das Bild allerdings, dass der Katastrophen-Manager gezeichnet habe, hält er für geschönt: Ob das versprochene Geld ausgezahlt werde, sei fraglich. Zudem lebten noch viel zu viele Menschen in Notunterkünften.
Schließlich erfüllt Murtaza Noonari noch eine Bitte, die der Beamte geäußert hat: Man solle sich die Arbeiten am Tori Band ansehen, dem Damm, der vor einem Jahr den Fluten nicht mehr standgehalten hatte. Murtaza Noonari organisiert den Besuch. Dafür muss er fast eine Stunde telefonieren und offenbar mit ziemlich allen Behörden sprechen, die im Kreis etwas zu sagen haben.
Das neue Bollwerk
Der Weg zu jener Stelle, an der die Fluten das Bollwerk zerstörten und damit das Unglück für fast sieben Millionen Menschen in der Provinz Sindh begann, führt über einen holprigen Deich und durch tiefe Schlaglöcher. Abgemagerte Ziegen stehen bewegungslos in der Landschaft: Die Hitze ist unerträglich. Selbst die Klimaanlage des Autos versagt. Es soll hier, sagt Murtaza, die heißeste Gegend der Welt sein. Nach einigen Kilometern gabelt sich der Deich und bildet ein Dreieck. Hier teilt sich der Indus in einen linken und einen rechten Arm. Jede Seite braucht ihr eigenes Bollwerk. Die Wälle sind neu aufgeschüttet, Drahtkästen mit Steinen sichern die Böschung. Bagger und Lkws stehen still. Es sei bereits Feierabend, sagt Mustafa Scheich, der in einem großen Zelt wartet. Der Ingenieur leitet den Wiederaufbau des Deichs.
Der unfertige Eindruck täusche, sagt er: Die Arbeiten seien abgeschlossen, das neue Bollwerk halte jetzt jeder Flut stand. Weil aber Mustafa Scheich Ingenieur und kein Politiker ist, hält er auch mit Kritik nicht zurück. Über 50 Jahre - und damit fast so lange, wie Pakistan existiere - sei nichts an den Deichen gemacht worden. „Sie waren schon porös, als ich 1984 in der Wasserwirtschaft zu arbeiten begann“, sagt er. Er habe die ganze Zeit gewarnt. Vergebens. Jetzt aber könnten sich die Menschen endlich sicher fühlen. Allerdings, fügt er hinzu, sei das nicht überall der Fall. In vielen Regionen des Landes hätten die Reparaturen noch nicht einmal begonnen.
Mustafa Scheich schaut auf die Wassermassen des Indus. Der Pegel des Stroms steigt jetzt wieder unaufhörlich. Am Oberlauf hat schon der Monsun eingesetzt, er soll erneut enorme Regenfälle mit sich bringen. Zwei Millionen Menschen, so warnen die Behörden bereits, könnten auch in diesem Jahr von Überschwemmungen betroffen sein.
Projektstichwort
medico fördert den Wiederaufbau von weiteren 20 Dörfern für ca. 1.000 Familien durch HANDS. Darüber hinaus wird ein Projekt des Pakistan Institute for Labour Education & Research (PILER) unterstützt. PILER betreibt intensive Lobby- und Anwaltschaftsarbeit im Bereich der Landrechte sowie für soziale Absicherung und Gerechtigkeit. Geplant sind weitere Kooperationen mit dem Sindh Labour Relief Committee (SLRC) und der Omar Asghar Khan Development Foundation (OAKDF).
Mittlerweile hat die Herbstflut 2011 zahlreiche Dämme im Süden des Sindh gebrochen. medico unterstützt deshalb neben dem langfristigen Wiederaufbau auch die neuerliche Nothilfe unserer pakistanischen Partner. 100 Hauptamtliche und 500 Freiwillige wurden in die fünf am schwersten betroffenen Distrikte entsandt. HANDS evakuierte bislang 5.000 Personen und versorgt diese nun in drei Nothilfecamps. Das Spendenstichwort lautet: Pakistan.